1 Einführung

Das erste Mal hörte ich den Begriff der Kulturtechnik im Zusammenhang mit Organisationsentwicklung in einer Supervision mit Wolfgang Looss im Jahre 2010. Er verwendete ihn als Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Professionen, Aufträgen bzw. Aufgaben in Projekten. Dieser Begriff hat sich seitdem in meinem Denken, aber auch in meinen Beratungsprojekten fest verankert. Er verhalf mir in der Mehrheit der Aufträge zu mehr Klarheit in meiner Rolle bzw. in meinen Verantwortlichkeiten in Projekten. Außerdem konnte ich durch die begriffliche Unterscheidung der Kulturtechniken zahlreiche Klient:innen unterstützen, in ihren Projekten Rollenunklarheiten oder Verantwortungsdiffusion zu erkennen und durch mehr Orientierung zu einer stimmigen Aufgabenteilung zu finden.

Kulturtechniken sind eine notwendige Ergänzung zu anderen Unterscheidungen wie Archetypen (Gilligan und Dilts 2013; Sloterdijk 2012), Arten der Beratung (Schein 2010) oder der Typologie der helfenden Tätigkeiten (Schmidt-Lellek 2006, S. 212–220), da sie neben den Charakter- und Beziehungsparametern auch Kriterien des komplexen Problemlösens wie Bedarf, Nutzen, Aufgaben etc. beinhalten.

Dieser Artikel bietet mit den Kulturtechniken ein heuristisches Instrumentarium, mit dem jede Person bzw. Rolleninhaber:in sich in komplexen Problemlösesituationen vergewissern kann, welches konkrete Verhalten gerade angemessen erscheint und wie dementsprechend die Aufgaben und Handlungsoptionen aussehen. Außerdem braucht man für das Zusammenspiel aus Akteur:innen und Adressat:innen eine Sensibilisierung für Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten in der Kombination der Kulturtechniken (z. B. können Führungskräfte coachen?), ein Gespür für Verwechslungen (beratende Engagierte) und eine Unhintergehbarkeit gegenüber Täuschungen (z. B. verdeckte Führungsarbeit von Consulting-Firmen). Schließlich ermöglichen diese Klärungen ein aufgeklärtes Zusammenspiel dieser Funktionen in Projekten, damit jede Kulturtechnik ihre Stärke zur Geltung bringen kann.

Der Artikel bietet eine Einordnung, woraus Kulturtechniken bestehen und wie sie voneinander unterscheidbar sind. Es folgt eine kurze Beschreibung ausgewählter Kulturtechniken des komplexen Problemlösens. Sodann werden Ähnlichkeiten, Unterschiede, Kombinationsmöglichkeiten und Unverträglichkeiten thematisiert. Anhand eines Fallbeispiels werden die Chancen und Risiken der Kombination der Kulturtechniken illustriert.

2 Einordnung des Konstrukts Kulturtechnik

Der Begriff der Kulturtechnik verweist auf zivilisatorische Errungenschaften und wird für sehr unterschiedliche Dinge genutzt. Klassisch denken wir an Lesen, Schreiben und Rechnen oder professionell an Töpfern, Schmieden, Backen, Kochen, Schneidern, Tischlern usw. Mir geht es hier um notwendige Elemente im komplexen Problemlöseprozess, die sich in verschiedenen Rollen, Aufgaben, Instrumenten bzw. Techniken niederschlagen. Das komplexe Problemlösen (Glasl et al. 2005) beinhaltet Prozesse des Problemverstehens, der Zielsetzung, des Entscheidens, des Umsetzens, des Steuerns und des Reflektierens in Situationen, die nicht logisch ausrechenbar sind. Diese Prozesse benötigen Impulse, Orientierungen, neues Wissen, das Befolgen einer logischen Dramaturgie, Metareflexion etc. Fehlt eines dieser Elemente, kann die Problemlösung weniger wirksam sein.

Ich möchte die Kulturtechniken anhand von folgenden Kriterien erläutern, die ich in der Beratungspraxis relevant finde: Bedarf, Nutzen, Aufgaben, Voraussetzungen, Medium, Superpower und Kryptonit. Ein Bedarf ist Auslöser bzw. Ursache, indem er auf die Notwendigkeit verweist, dass etwas passieren sollte. Er verweist aber auch darauf, dass ohne diese Kulturtechnik etwas fehlen würde. Führung reagiert z. B. darauf, dass in vielen Situationen des komplexen Problemlösens mehrere Optionen oder Alternativen entstehen, die eine gewisse Ambivalenz oder Unsicherheit mit sich bringen und die eine Antwort bzw. eine Entscheidung verlangen. Oder Engagement reagiert auf Ungleichheiten bzw. auf wahrgenommene Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich, zwischen den Geschlechtern oder zwischen Nationen. Der Status quo begünstigt Gruppierungen gegenüber anderen im Hinblick auf materielle und geistige Güter, was eine Neubewertung der Situation und eine neue Balance eines Verteilungsverhältnisses verlangt. Der Nutzen betrifft den Gewinn bzw. das Ergebnis der jeweiligen Kulturtechnik, und die Aufgaben sind der Weg, wie der Nutzen erwirkt werden kann. Die Voraussetzungen beinhalten besondere Bedingungen, durch die sich die Kulturtechnik erst entfalten kann. Mit Medium ist das generalisierte Kommunikationsmedium nach Luhmann (1987) gemeint, der Macht, Vertrauen und Liebe unterschieden hat. Mit Superpower und Kryptonit, Metaphern, die der Heldengeschichte „Superman“ entnommen sind, werden die besonderen Stärken und die Möglichkeiten der Hemmung nachvollziehbar.

3 Beschreibung ausgewählter Kulturtechniken

Im Folgenden beschreibe ich eine (bei weitem keine vollständige) Auswahl der Kulturtechniken des komplexen Problemlösens anhand der eben geschilderten Kriterien (vgl. Tab. 1). Da es zu allen Kulturtechniken ganze Fachbibliotheken gibt, kann dies hier nur kurz umrissen werden, um auf die Besonderheiten der jeweiligen Kulturtechnik im Vergleich zu den anderen zu verweisen.

Tab. 1 Kulturtechniken nach Kriterien

3.1 Führung

Die Kulturtechnik des Führens reagiert auf die Fülle von Möglichkeiten, Optionen und Alternativen. Alles ist möglich bzw. offen. Das führt zwangsläufig zu Unsicherheit bzw. Unklarheiten. Biegen wir links oder rechts ab? Sind wir ein Beratungsunternehmen mit Akademie und Forschungsbereich oder sind wir ein integriertes Beratungs‑, Ausbildungs- und Forschungsunternehmen? Eine Nichtentscheidung behält Unsicherheit bei. Eine Entscheidung wiederum würde viele Folgeschritte klären. Führung sorgt durch Entscheiden dafür, dass es weiter geht bzw. dass gehandelt werden kann. Durch Entscheidungen wird geklärt, welche Alternativen gewählt werden dürfen und welche ausgeschlossen werden (Luhmann 2000; Richter und Groth 2023).

Die Kulturtechnik des Führens beinhaltet eine besondere Verantwortung. Sie ist deswegen in Organisationen durch Hierarchie, Mitgliedschaft und Macht legitimiert (Kühl 2020). Sie ist die einzige der hier aufgeführten Kulturtechniken, die mit Macht ausgestattet ist und in einer Hierarchie wirksam wird. Dabei meint Macht hier nicht allein die formale, sondern vor allem die zugeschriebene Macht. Macht ermöglicht schnelle Entscheidungen und deren Durchsetzung durch Anweisungen. Entscheidungen und deren Durchsetzung benötigen eine gewisse Entschlossenheit. Haupthemmnis der Führung ist eine Selbst- oder Fremd-Delegitimation. Personen in Führungsrollen meiden mitunter die Zumutungen der Verantwortung und der Macht, damit sie der Einsamkeit oder Unbeliebtheit der Führung, gerade beim Entscheiden notwendiger, aber schmerzhafter Fragen, entfliehen können. Außerdem wird Macht gern von anderen in Frage gestellt und muss sich daher immer wieder beweisen.

3.2 Engagement

Engagement ist notwendig bei der Wahrnehmung von Ungleichheiten; der Nutzen besteht darin, dass diese Ungleichheiten thematisiert werden. Durch konsequentes Lenken der Aufmerksamkeit auf die Differenz eines relevanten Leistungsmerkmals (Geld, Macht, Ansehen, Chancen, Anerkennung) zwischen verschiedenen Gruppen erlangt dieses Thema Bedeutung und führt potenziell zu Neuverteilungen, die gleicher bzw. gerechter sind. Methodisch ist das beileibe nicht so trivial. Das Engagement basiert nicht auf institutioneller Macht, aber erarbeitet sich Vertrauen bei einer der Interessensgruppen. Es nutzt Instrumente der Überzeugungsarbeit und der Konflikteskalation (Erhöhung des sozialen Drucks, Meinungsverschärfung bis hin zur Mikropolitik) und achtet darauf, dass das Thema nicht mehr von der Agenda verschwindet und sich in die gewünschte Richtung entwickelt. Der Antrieb ist selbstinduziert, und das Engagement benötigt eine hohe intrinsische Motivation und ein gewisses Commitment der vertretenen Interessensgruppe. Das Engagement erlahmt, wenn Motivation oder Commitment sinken und wenn sich auf einer der Seiten zu viel Lethargie breit macht.

3.3 Expertise

Wissen ist schon immer eine begrenzte Ressource. Niemand kann sich in vielen Fachgebieten auskennen. Deswegen gibt es gerade in der Wissensgesellschaft eine sehr differenzierte Arbeitsteilung für Fachexpertisen. Wenn also bestimmte Fragen tiefere, fundiertere oder legitimierende Antworten benötigen, kommen Expert:innen ins Spiel. Durch den fachlich geschärften Blick kommen sie zu fundierten Diagnosen, können Zusammenhänge einordnen und Empfehlungen geben, die in ihrem Fachgebiet und durch ihre Erfahrungen dem state of the art entsprechen. Für die Adressat:innen entsteht damit eine Wissenserweiterung, die für die komplexe Problemlösung wirksamere Handlungsalternativen ermöglicht.

Voraussetzung für den wirksamen Einsatz von Expertise ist die Passung von Frage bzw. Anliegen und der jeweiligen Expertise. Das Risiko ist groß, dass nicht genug über die Frage und das Anliegen nachgedacht wurde und die Expert:innen nach bestem Wissen und Gewissen eine stimmige Diagnose stellen und die passende Empfehlung geben, diese aber unwirksam bleiben, weil das Anliegen noch nicht spezifisch genug war. Die Expertise wird von Adressat:innen durch eine Frage induziert. Sie drängt sich nicht auf, sonst wechselt sie womöglich in die Kulturtechnik des Engagements oder des Verkaufs (in diesem Artikel nicht weiter ausgeführt). Sie arbeitet im Medium von Vertrauen, und ihre Superpower ist die inhaltliche Tiefe und Erfahrung.

3.4 Facilitation

Facilitation (engl. Ermöglichung) (Scholz und Vesper 2022) klingt sehr modern und ist jedoch eine tradionelle Kulturtechnik in teilweise neuem Gewand (wie alle anderen hier aufgeführten Kulturtechniken ist sie sehr kontext- bzw. gesellschaftsabhängig). Der Bedarf ist die Herausforderung oder ggf. Überforderung, in einer fachlichen Diskussion Inhalt und Prozess gleichzeitig zu steuern. Damit Gespräche nicht ständig in Sackgassen enden oder sich im Kreise drehen, ist eine Gesprächssteuerung notwendig. Auch wenn ständig das Thema gewechselt wird, könnte eine Steuerung der Diskussion hilfreich sein. Der Nutzen ist also, dass in Gesprächen verwertbare Ergebnisse entstehen. Dafür stellt die Facilitation Techniken der Prozesssteuerung wie Moderation und eine Art Gastgeberschaft (Hosting) zur Verfügung, was den Gesprächsparner:innen ermöglicht, sich voll auf den Inhalt zu fokussieren und vertrauensvoller miteinander zu sprechen.

Facilitation verlangt von den Diskutant:innen die Abgabe von Prozessverantwortung und eine umfängliche Übernahme der inhaltlichen Verantwortung. Sie bringt selbst eine fachliche Überparteilichkeit und soziale Unabhängigkeit ein. Ihr Kryptonit wäre die verdeckte Co-Moderation, d. h. dass die Abgabe der Prozessverantwortung durch die Gesprächspartner:innen nicht gelingt.

3.5 Beratung

Beratung macht routinierte Denk- und Handlungsmuster sichtbar und stellt sie in Frage (Glasl et al. 2005). Auslöser ist also, dass Personen durch Denk- und Handlungsroutinen nichts neu oder anders denken und handeln können, was aber manchmal für die Problembearbeitung notwendig ist. Beratung ermöglicht Klient:innen Erkenntnisse über ihre Eigenlogiken und ist gleichzeitig der Versuch, neue Eigenlogiken zu schaffen. Beratung wird von Klient:innen ausgelöst, die ein Anliegen haben. Das Anliegen braucht eine besondere Bedeutung und Notwendigkeit (Energie, case for action), ansonsten schwindet die Motivation zur Reflexion der eigenen Routinen. Beratung findet auch im Medium von Vertrauen statt und wird durch die soziale und inhaltliche Unabhängigkeit der Beratung gefördert. Das Bedürfnis nach Perfektion oder die Angst vor einer Blamage sind beispielhafte Risiken für die Reflexionsbereitschaft in der Beratung.

Tab. 1 vergleicht die Kulturtechniken noch einmal im Überblick.

In der Kurzdarstellung der fünf Kulturtechniken des komplexen Problemlösens ist hoffentlich sichtbar geworden, wie notwendig sie alle für die Arbeit in Organisationen sind. Auch wenn die eine oder andere besser beleumundet ist, hat das erst einmal nichts mit ihrem Wert und ihrem Nutzen per se zu tun. Häufig wird der Ruf durch einen unstimmigen Gebrauch geschmälert (vgl. Abschn. 6).

4 Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Kulturtechniken

Die Trennschärfe zwischen den Kulturtechniken des komplexen Problemlösens ist in manchen Kriterien hoch und in anderen gering bis gar nicht vertreten, weswegen es auch oft zu unbewussten Grenzübertritten oder Verwechslungen kommen kann. Allen Kulturtechniken ist sicher gemeinsam, dass sie in einer sozialen Situation die Lenkung von Aufmerksamkeit steuern und dass sie dafür sehr ähnliche Techniken der Gesprächs- und Projektsteuerung haben. Es kommt also bei den Unterschieden sehr auf die Feinheiten an. Der prägnanteste Unterschied besteht in dem Nutzen. Ein wichtiger Unterschied ist auch, ob die Kulturtechniken selbst- oder fremdinduziert ist: Führung und Engagement sind selbstinduziert, Expertise, Facilitation und Beratung sind fremdinduziert, sie können sich nicht selbst ins Spiel bringen; wenn ich meine Expertise allein ins Spiel bringe, dann ist es wohl eher Engagement. Wichtig ist auch der Unterschied im generalisierten Kommunikationsmedium. Nur die Kulturtechnik Führung kann neben dem Vertrauen die Macht nutzen. Wenn sich andere Kulturtechniken der Macht bedienen wollen, werden sie als Führung gelesen. Das kann Auswirkungen auf das Vertrauen haben, das denen entgegengebracht wird, die die Kulturtechnik anwenden.

Neben diesen starken gibt es aber auch nuancierte Unterscheidungen. Facilitation und Beratung benutzen sehr ähnliche Techniken, benötigen Vertrauen und setzen die Unabhängigkeit voraus. Gleichzeitig haben sie einen unterschiedlichen Nutzen: Facilitation versorgt ein Problem durch Prozesssteuerung mit einem Ergebnis, während die Beratung die Problemlösefähigkeit beobachtet und stärkt. Die Problemlösung ist hier Zweck (Facilitation) und dort Mittel (Beratung). Führungskräfte haben ähnlich wie die Beratung den Auftrag, Routinen zu hinterfragen. Da sie aber selbst Teil der Routinen sind, fällt es ihnen schwerer als unabhängigen Berater:innen, diese Automatismen überhaupt wahrzunehmen und dann auch noch zu mobilisieren.

5 Kombinationsmöglichkeiten

Auch wenn es hier vorrangig um die Kombinationsmöglichkeiten gehen soll, möchte ich betonen, dass die arbeitsteilige Nutzung der Kulturtechniken für die Rolleninhaber:innen und ihre Zusammenarbeit am wenigsten komplex und unklar ist. Der Nutzen dabei ist, dass die jeweilige Kraft eindeutig und ungeteilt zur Verfügung steht. Führungskräfte entscheiden, Engagierte leisten Überzeugungsarbeit, Expert:innen bringen ihr fundiertes Wissen ein, Facilitator:innen achten auf die Prozessqualität und Berater:innen irritieren die Problemlösefähigkeit. Keine Person muss sich ständig hinterfragen, wer sie gerade sein soll. Es gibt selten Rollenkonflikte, weil eine Person gerade eine Expertise erwartet und die andere Person eine Irritation oder eine Entscheidung liefert. Die Zusammenarbeit zwischen den Kulturtechniken ist in komplexen Projekten auch so schon komplex und anspruchsvoll genug. Es gibt genug inhaltliche Konfliktlinien, Ressourcenknappheit und Machtspiele in komplexen Problemlösungen, da sie zumeist eine Abkehr vom Status quo beinhalten.

Seit dem Spätmittelalter und besonders in der Moderne wurde stark auf Arbeitsteilung geachtet und deren Einhaltung überwacht (Gilden, Zünfte, Innungen usw.). In der Spätmoderne hat sich in vielen Berufsfeldern diese Arbeitsteilung zugunsten von Kombinationen aufgelöst. Beim Friseur bekomme ich neben einer neuen Frisur eine Massage, einen Kaffee mit Keksen und zumeist eine beiläufige Lebensberatung oder zumindest Anteilnahme. Auch in dem Feld des komplexen Problemlösens sind Kombinationen der unterschiedlichen Kulturtechniken notwendig geworden. Manche davon sind naheliegend, manche anspruchsvoll und manche sollte man vermeiden (s. Abschn. 6). Naheliegend ist z. B. eine Kombination aus Facilitation und Beratung. Dabei entstehen zwar auch Konfliktlinien, die aber leichter zu handhaben sind. Hier erleben die Protagonist:innen eine Weg-Ziel-Spannung: Was ist wichtiger, die Erreichung des Ziels (Problemlösung) oder die Thematisierung der Problemlösefähigkeit? Konkret heißt das z. B.. in einem Workshop, im jeweiligen Augenblick zu entscheiden, eine dienende Prozessunterstützung oder eine anmaßende Infragestellung der Vorgehensweise anzubieten.

Anspruchsvoll ist z. B. die Kombinatorik aus Führung und Facilitation: Lassen sich die Facilitierten darauf ein, von Personen mit Macht facilitiert zu werden? Oder machen sie es sich als Gegenüber einfach und warten auf eine Instruktion oder Anweisung? Es kann für Mitarbeitende risikovoll sein, wenn sie gegenüber ihrer Führungskraft ihre Meinung sagen, die etwas anders ist als die der Führungskraft.

6 Unverträglichkeiten, Verwechslungen, Täuschungen

Projekte in komplexen Problemlösesituationen verlaufen oft unvorhersehbar und sind davon abhängig, dass die verschiedenen Kulturtechniken stimmig ineinandergreifen. Die Wirksamkeit solcher Projekte wird oft durch Unstimmigkeiten in dem Zusammenwirken der Kulturtechniken geschmälert. Hier möchte ich jeweils ein Beispiel für eine Unverträglichkeit, eine Verwechslung und eine verdeckte Täuschung illustrieren.

Unverträglichkeit

Um die Jahrhundertwende kam die Idee auf, dass Führungskräfte ihre Mitarbeitenden beraten bzw. coachen sollten (Führungskraft als Coach). Die Idee dahinter war nachvollziehbar (aber ungenau formuliert), dass Führungskräfte auch andere Führungstechnologien als Instruktion benutzen könnten. So sollten Führungskräfte Zuhören und Fragen in ihr Repertoire integrieren. Natürlich hat das Führungsverhalten in den letzten 20 Jahren an Komplexität gewonnen. Situatives Führungsverhalten, also das Beachten der Situationsvariablen wie Zeit, Verteilung von Wissen etc., hat auch neue Technologien wie Moderation und Agilität integriert. Trotzdem bleibt in der Führungsbeziehung die Machtzuschreibung bestehen, die in der Regel von der Gewichtung her höher ist als eine Vertrauenszuschreibung. Werde ich einer Person, die über mein Wohl und Wehe entscheidend mitentscheiden kann, widerstrebende Interessen mitteilen? Führungskräfte unterschätzen chronisch die Frage der Machtzuschreibung, weil sie selbst das Problem in dieser konkreten Beziehung nicht haben. Wir können davon ausgehen, dass eine gesunde Portion an Vorsicht oder Misstrauen gegenüber der eigenen Führungskraft realistisch ist. Hinzu kommt noch das Thema Verantwortung. Diese kann eine Führungskraft nur schwer derart delegieren, dass sie sich gänzlich unabhängig oder überparteilich wähnen könnte. Und das wissen auch immer die Geführten. Aus diesen beiden Gründen ist es unverträglich, wenn auch nicht unmöglich, dass Führungskräfte von ihren Mitarbeitenden in vertraulichen Fragen um Reflexionsunterstützung gefragt werden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Mitarbeitenden Klarheit und Verantwortungsübernahme erwarten.

Was ist nun das Problem in dieser Unverträglichkeit? Neben dem blinden Fleck der Führungskräfte in Bezug auf die Machtzuschreibung ihnen gegenüber möchte ich herausgreifen, dass die Wichtigkeit der Kulturtechnik Führung oft abgemildert werden soll, um die Nachteile der Machtzuschreibung zu verringern. Das Problem ist dabei, dass es häufig zu einer Verantwortungsdiffusion kommt und nachfolgend zu Unklarheiten und Orientierungslosigkeit. Da ein Führungsauftrag darin besteht, Klarheit zu schaffen, ist es gut, wenn sie (die Führung) in ihrer Kulturtechnik auch klar ist.

Die umgekehrte Version gibt es auch nicht selten: Beratung wird zu Führung. Berater:innen lassen sich in Projekten situativ oder chronisch zu Führungsarbeit, also zum Entscheiden verführen (Interimsmanagement). Wenn das allen bewusst ist, ist es einfach ein Wechsel der Kulturtechnik und kann wirksam sein. Ist es nicht bewusst, dann nimmt die Beratung der Führung die Aufgaben ab und schwächt diese Funktion, da sie weniger Machtzuschreibung bekommt. Außerdem wird sie Teil der Routinen, ist damit nicht mehr unabhängig und kann den blinden Fleck weniger thematisieren. Beide Kulturtechniken verlieren ihre Superpower und werden damit weniger nützlich.

Verwechslung

Engagierte nennen ihren Auftrag manchmal Beratung. Natürlich können sie dann beraten, wenn jemand mit einem Anliegen kommt, sie unabhängig vom Ergebnis sind usw. Häufig findet jedoch mindestens eine Verwechslung statt (oder mehrere). Die Verwechslung ist oft in der Frage der Auslösung des Auftrags zu finden (Selbst- vs. Fremdinduktion), fast immer aber bei der Frage der Unabhängigkeit von Ziel bzw. Ergebnis. Die Gefahr besteht darin, dass Engagierte einen Bedarf definieren, den die Betroffenen aber nicht sehen (wollen oder können) und dass sie Ziele anpeilen, die sie allein definiert haben und zu denen die Betroffenen gar nicht committet sind. Es gibt kein (oder nur ein schwaches) Anliegen und keinen Klienten. Damit verwechseln sie die Kulturtechniken und die Rollen und Techniken. Statt Überzeugungsarbeit zu leisten, gehen engagiere „Berater:innen“ davon aus, dass doch inhaltlich auf der Hand liegt, was zu tun ist und man nur den Widerstand bearbeiten müsste. In solchen Projekten fehlt es an Vielem. Es fehlt an Auftrag, an Commitment und an Motivation: wenig Power, viel Kryptonit.

Verdeckte Täuschung

Ganz geschäftstüchtig, aber auch rufschädigend ist das Gebaren der großen Consultingfirmen, die die Methodiken der Expertise oder der Beratung benutzen (nicht in allen, aber in vielen Aufträgen) und sie auch so nennen und gleichzeitig ihr Design mit ordentlich Machtzuschreibung ausstatten, damit sie schneller und komplikationsloser ihre Projekte gestalten können. Hier wechseln sie die Kulturtechnik bewusst, ohne dass sie ihre Leistung Führung nennen. Die Problembearbeitung wird dadurch erschwert, dass, beschrieben mit der Theorie der Transaktionsanalyse, auf eine verdeckte Transaktion eine verdeckte Transaktion folgt (Berne 1967). Die Consultants machen Führungsarbeit und nennen es Beratung, und die Adressat:innen spielen Als-ob-Klient:innen, indem sie in Workshops oberflächlich mitmachen (Pseudoberatung). Dennoch sabotieren sie verdeckt überall, wo es geht, den Fortgang des Projektes. Niemand glaubt an den Erfolg, aber alle können dann vorweisen, etwas gemacht zu haben. Leider ist das Schmerzensgeld nur einseitig verteilt.

Zusammenfassend möchte ich konstatieren, dass das Zusammenspiel der Kulturtechniken sensibel ist und am einfachsten in klaren Rollen funktioniert. Nichtsdestoweniger kann es in konkreten Situationen nötig sein, verschiedene Kulturtechniken zu kombinieren bzw. zwischen ihnen zu wechseln. Gleichwohl sollten auch die Unverträglichkeiten nicht außer Acht gelassen werden, da es sonst zu unnötigen Rollenkonflikten in der Zusammenarbeit kommen kann. Dies lässt sich anhand eines konkreten Beispiels validieren.

7 Praxisbeispiel: interne Beratung

Da die bisherigen Ausführungen jeweils aus der Perspektive der Kulturtechniken geschrieben waren, möchte ich ein Praxisbeispiel aus einer konkreten Rolle heraus illustrieren. In einer von mir beratenen internen Organisationsentwicklung einer größeren Bundesbehörde war es über mehrere Beratungstermine hinweg Thema, die Schwierigkeiten in Projekten durch eine eigene Rollenpositionierung zu beheben. Ich unterstützte die internen Organisationsentwickler:innen anhand der Kulturtechniken, die Aufträge der Organisationseinheit der letzten beiden Jahre zu analysieren. Dabei stellten sie fest, dass sie in mindestens vier unterschiedlichen Kulturtechniken angefragt wurden. So wurden sie klassisch für Facilitation und Beratung von verschiedenen Organisationseinheiten angefragt. Außerdem erhielten sie Führungsaufträge, bestimmte Ziele in ausgewählten Organisationseinheiten umzusetzen. Zu guter Letzt haben sie noch einen selbstinduzierten Auftrag im Sinne von Engagement, denn sie wollen bestimmte Themen voranbringen.

Da die Organisation noch am Anfang der Differenzierungsphase (Glasl et al. 2005) steht, ist diese Anhäufung an Kulturtechniken in einer Rolle nicht ungewöhnlich. Es spricht sogar für die Reife dieser Organisation, dass sie diese Kulturtechniken schon nutzt. Am Ende der Differenzierungsphase werden diese Kulturtechniken sicher noch weiter ausdifferenziert und auf verschiedene Rollen verteilt, damit diese herausfordernde Kontextvermischung sich entmischen kann. Aktuell besteht nun die Herausforderung, dass die Organisationsentwickler:innen oft mit denselben Adressat:innen (Personen oder Organisationseinheiten) in den vier verschiedenen Kulturtechniken und damit in vier verschiedenen Problemlöse- bzw. Beziehungsdesigns zusammenarbeiten und manchmal sogar während eines Formats wechseln. Wer soll das noch auseinanderhalten? Und vor allem wie? Damit es nicht zu Konfusion oder Enttäuschung kommt, bräuchte es hier von Beginn an bewusste Auftrags- und Rollenaushandlung für alle Beteiligten. Dann gelte es, den Verführungen während des Prozesses zu widerstehen, ständig die Kulturtechnik zu wechseln. Oder aber, wenn es wirklich nötig erschiene, gelte es, bewusst und für alle sichtbar die Rollen zu wechseln. Durch Transparenz und jeweilige Rollensicherheit kann genug Vertrauen entstehen, das bei solch komplexen Rollen besonders schwer zu erarbeiten und zu erhalten ist. Möglich ist auch eine Arbeitsteilung innerhalb der Organisationseinheit oder innerhalb eines Projektes. Eine Person macht die Facilitation und die andere übernimmt die Governance-Funktion (Führung), damit der Unverträglichkeit beider Kulturtechniken begegnet wird.

Natürlich ist in dieser internen Beratung die Gefahr groß, zur eierlegenden Wollmilchsau zu werden. Die zugeschriebene Virtuosität verführt dazu, Projekte einfach anzugehen und die notwendige Sensibilität aus den Augen zu verlieren. Dabei wäre es angezeigt, für jeden Auftrag neu Klärungsarbeit zu leisten und sich nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen, denn das Vertrauen geht oft mit einer „falschen“ Geste verloren. Außerdem lädt diese „Genialität“ zur Vergabe von Zauberaufträgen ein (die machen das schon). Zauberaufträge sind Aufträge mit ungeklärter Kontextvermischung. Sie führen oft zu nichts als Ärger und Enttäuschung, weil in verschiedenen Kulturtechniken gleichzeitig gearbeitet wird, ohne dass es den Beteiligten klar ist. Die eine Seite adressiert Führung und die andere Beratung. So wird auf verschiedenen Ebenen kommuniziert, Erwartungen werden aufgebaut und nicht erfüllt.

Es wäre unrealistisch zu glauben, dass durch Perfektion in der Rollenklarheit alle Enttäuschungen zu vermeiden wären. Die Teilnehmenden dieser Veranstaltung brauchen auch die Kunst des auswertenden Lernens (Supervision) und der nachträglichen Beziehungspflege (Retros wie in der agilen Arbeit). Wenn es Enttäuschungen gibt, ist es wichtig, sie zu reflektieren, wer wann in welcher Rolle bzw. Kulturtechnik gewirkt hat und wo es zu Missverständnissen und Konflikten kam. Das ist für die Organisationsentwicklung in einer Behörde ein wirklich anspruchsvolles Unterfangen.

8 Resümee

Dieser Artikel ermuntert Führungskräfte und Organisationsentwickler:innen, die Anwendungs- und Gelingensfaktoren der jeweiligen Kulturtechnik zu beachten, um deren Gebrauch trennschärfer und sicherer zu nutzen. Mir war außerdem wichtig, für die beiläufigen Kombinationen, Verwechslungen und Grenzübertritte zu sensibilisieren, damit diese bewusst genutzt, gestaltet oder gemieden werden. Meine Hoffnung ist, dass der differenzierte Gebrauch der Kulturtechniken zu einem größeren Nutzen in den Projekten des komplexen Problemlösens führt und Missverständnisse und Rollenkonflikte reduziert.