1 Einleitung

Die Entstehung des Psychodramas und das Wirken von J. L. Moreno, dem Begründer des Psychodramas, sind eng verbunden mit der Frage, wie Integration von Unterschiedlichkeiten in der Gesellschaft bzw. von verschiedenen Gesellschaftsgruppen gefördert werden kann. Im Jahr 2008 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich ratifiziert, die den Paradigmenwechsel von Integration hin zu Inklusion abbildet. Dieser Änderungsprozess im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung bzw. mit Menschen mit Behinderung ist, wie im Kapitel Inklusion und Begegnung beschrieben, nicht neu und unterliegt einem stetigen Wandel. Zentral hierbei ist aktuell das Bestreben, nicht weiterhin Menschen mit Behinderung an bestehende Strukturen anzupassen. Es sollen Umgebungen geschaffen werden, die von Anfang an für die Vielfalt an Menschen und somit auch für Menschen mit Behinderung ausgelegt sind und eine aktive Teilhabe für alle ermöglichen.

Im August 2023 fand die letzte Staatenprüfung von Österreich zur Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention statt. Hierbei wurden Österreich viele Empfehlungen gemacht und teils Rückschritte im Vergleich zur Staatenprüfung 2013 attestiert. Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung der Vereinten Nationen äußerte im Bericht zur Staatenprüfung unter anderem seine Sorge in Bezug auf Mängel betreffend Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen – auch im Gesundheitsbereich (Vereinte Nationen 2023, S. 4).

Wie zeigt sich nun Inklusion und eine inklusive Haltung in unserer psychodramatischen Arbeit und im Speziellen in unserer Arbeit mit Psychodrama-Gruppen? Von diesem Gedanken ausgehend stellen wir im folgenden Artikel unter anderem unsere Überlegungen und Erfahrungen dar, eine Psychodrama-Gruppe nach inklusiven Gesichtspunkten zu leiten und zu gestalten. Dafür wird zu Beginn ein gemeinsames Verständnis von Inklusion hergestellt und mit der Methode des Psychodramas verknüpft. In weiterer Folge wird anhand konkreter Beispiele aufgezeigt, wie die beschriebenen Gruppen geplant und umgesetzt wurden. Wir geben persönliche Einblicke, sowohl in verschiedene Gruppenprozesse als auch in den eigenen Entwicklungsprozess, um den bereits angesprochenen Paradigmenwechsel von Integration hin zur Inklusion sichtbar zu machen.

2 Inklusion und Begegnung

Raúl Aguayo-Krauthausen, ein deutscher Inklusions-Aktivist, betont: „Inklusion ist kein Ziel, sondern ein Prozess. Ein Prozess der Annahme und Bewältigung von menschlicher Vielfalt“ (Aguayo-Krauthausen 2021). Diesem Verständnis folgend ist es sinnvoll, den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderung auch historisch zu betrachten. In der Literatur wird hier der Weg von Exklusion hin zur Inklusion in vier Schritten beschrieben (Flieger et al. 2013, S. 189–211; Gobiet und Rudlof 2006, S. 13–31; Huainigg 1999), der folgend skizziert wird:

In der Phase der Exklusion (siehe Abb. 1) wurden Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen vor der Gesellschaft verborgen. Sie lebten entweder innerhalb der Familie oder waren in Betreuungseinrichtungen untergebracht.

Abb. 1
figure 1

Von der Exklusion zur Inklusion nach der UN-Behindertenrechtskonvention (o.J.)

Ab den 1950er-Jahren kam es zunehmend zu einer Separation (siehe Abb. 1). Menschen mit Behinderung wurden „unterteilt in bildbare und bildungsunfähige Menschen, die nach dieser Klassifikation Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe ermöglicht bekamen – oder eben nicht“ (Sprenger 2021, S. 17). In den 1960er-Jahren kamen die staatlichen Institutionen, in denen Menschen mit Behinderungen betreut wurden, zunehmend in Kritik.

Ausgehend von der Infragestellung, ob der Umgang mit Menschen mit Behinderung gesellschaftlich noch adäquat war, setzte die Phase der Integration (siehe Abb. 1) ein. In dieser Phase wurde bzw. wird der gesellschaftliche Fokus daraufgelegt, dass ein Mensch mit Behinderung sich so an die Gesellschaft anpassen „soll, kann und darf […], dass er dabei sein kann“ (Sprenger 2021, S. 17).

Im Jahr 2008 wurde das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die UN-Behindertenrechtskonvention, ratifiziert. Dies läutete die vierte Phase, die Inklusion (siehe Abb. 1), ein. Autonomie und Selbständigkeit von Menschen mit Behinderung werden in den Mittelpunkt gestellt. Das Recht auf Selbstbestimmung wird Menschen mit Behinderung im Sinne von Empowerment und Selbstermächtigung zurückgegeben: „Es vollzieht sich nunmehr ein Wandel von der Integration, verstanden als Eingliederung in die normale Welt der nichtbehinderten Menschen, hin zur Inklusion, verstanden als Recht auf Zugehörigkeit, Selbstbestimmung und Partizipation trotz, oder besser: mit Behinderung“ (Sprenger 2021, S. 18).

Wird dieser Prozess der Inklusion aus psychodramatischer Sicht betrachtet, kann man den Begriff der Begegnung heranziehen. J. L. Moreno schreibt, „dass nur Menschen, die sich begegnen, eine natürliche Gruppe und eine tatsächliche menschliche Gemeinschaft formen können. Es sind Menschen, die sich begegnen, die die verantwortlichen und aufrichtigen Begründer sozialen Lebens sind“ (Moreno 1943, S. 310). In der grafischen Verdeutlichung des Prozesses von Exklusion zur Inklusion (siehe Abb. 1) ist zu erahnen, dass erst durch einen inklusiven Zugang Begegnung direkt und grenzenlos möglich ist. Denn Begegnung bedeutet, „dass zwei oder mehrere Personen sich treffen, nicht nur, um sich zu sehen, sondern um sich gegenseitig zu erleben und zu erfahren – als Akteure, jeder mit dem gleichen Recht. […] Die Teilnehmer werden nicht durch eine äußere Macht in die Situation gedrängt; sie sind da, weil sie da sein wollen – sie verkörpern die höchste Autorität des selbst gewählten Wegs. Die Personen treffen sich […] in all ihrer Stärke und Schwäche“ (Moreno 1956, S. 27–28).

Die erste Definition von Gruppenpsychotherapie, die folgende vier Eckpunkte enthielt, entwickelte J. L. Moreno in den 1930er-Jahren (Leutz 1974, S. 2–3):

  • Alle Gruppenteilnehmer*innen wirken selbst als therapeutisches Agens. Somit sind sie am Heilungsprozess der anderen Teilnehmenden aktiv beteiligt.

  • Die Gruppenzusammensetzung soll für den Therapieprozess förderlich sein.

  • Nicht nur die Therapie der einzelnen Teilnehmenden, sondern die Therapie der gesamten Gruppe steht im Mittelpunkt.

  • Die gesamte menschliche Gesellschaft wird in einem echten therapeutischen Gruppenverfahren berücksichtigt.

Schon bei dieser ersten Definition unterstreicht Moreno die Wichtigkeit der Gruppenzusammensetzung. Dies kann in Zusammenhang mit dem letzten der oben genannten vier Punkte auch so verstanden werden: Therapeutische Prozesse innerhalb einer Gruppenpsychotherapie sind umso bedeutungsvoller, je besser die Gruppe selbst die gesamte menschliche Gesellschaft abbildet – denn die menschliche Gesellschaft ist divers.

Das Paradigma der Inklusion kann somit in der psychodramatischen Gruppenpsychotherapie nicht nur als heilsam und hilfreich für Menschen mit Behinderung betrachtet werden, sondern als förderlich für die gesamte Gruppe und jedes einzelne Gruppenmitglied.

In den folgenden Kapiteln werden, nach einer kurzen Gruppenbeschreibung, einzelne Szenen dargestellt und mit Wahrnehmungen, Ideen sowie Gedanken der Autor*innen verknüpft, die den oben beschriebenen Überlegungen zu Inklusion und Psychodrama entspringen.

3 Lehrgangsbeschreibung

Die dieser Arbeit zugrundeliegenden Psychodrama-Gruppen fanden im Rahmen der Ausbildung „Akademische Peer-Beratung“ an der FH JOANNEUM Graz statt. Diese Ausbildung soll „Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Psychiatrieerfahrungen dazu qualifizieren, sich in einer professionellen Vorgangsweise und Haltung als Berater*innen anderer Menschen mit Behinderungen oder anderer Menschen mit Psychiatrieerfahrung zu betätigen“ (FH JOANNEUM 2021).

Daniela Sprenger (2021) beschreibt Peer-Beratung als Beratungstechnik von und für Menschen mit Behinderung, in der von Berater*innen mit Behinderung die eigenen Erfahrungen genutzt und in die Beratung eingebaut werden. Ratsuchende werden somit unterstützt, ein selbstbestimmtes Leben im Sinne der Inklusion führen zu können.

Ein zentraler Punkt der Ausbildung zum*zur Peer-Berater*in an der FH JOANNEUM Graz ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung und/oder psychiatrischen Diagnose, die unter anderem in der Gruppenselbsterfahrung stattfinden soll. Für die Teilnahme gibt es keine formalen Zugangsvoraussetzungen wie beispielsweise eine Matura. Alle Teilnehmer*innen mussten vor Ausbildungsstart ein Gespräch mit dem betreffenden Selbstvertretungsverein führen sowie ein Auswahlverfahren durch die Lehrgangsleitung an der FH JOANNEUM Graz absolvieren. Bei diesem Gespräch und dem Auswahlverfahren wurde unter anderem auf die Reflexionsfähigkeit in Bezug auf die eigene Behinderung und/oder Diagnose eingegangen. Somit konnte schon beim Gruppenstart davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmer*innen einen gelingenden Umgang mit ihrer eigenen Behinderung und/oder psychiatrischen Diagnose gefunden haben. Die Leitungspersonen der Selbsterfahrungsgruppen waren in den Auswahlprozess an keinem Punkt eingebunden. Es fand auch kein Kennenlernen zwischen Gruppenleitung und Teilnehmenden vorab statt.

Die Ausbildung erstreckt sich über insgesamt zwei Jahre an der FH JOANNEUM Graz.

4 Gruppenbeschreibung

Die Selbsterfahrungsgruppen fanden im Laufe des ersten Studienjahres statt. Pro Semester gab es zehn Selbsterfahrungsblöcke zu jeweils drei Stunden, also insgesamt 60 h Gruppenselbsterfahrung.

Die beiden Gruppen bestanden insgesamt aus zwanzig Teilnehmenden, darunter sieben Männer und dreizehn Frauen. Die Altersspanne reichte von ca. zwanzig bis fünfzig Jahren. Die Behinderungen und psychischen Erkrankungen waren vielfältig: Affektive Störungen, Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und Mehrfachdiagnosen sowie Lernschwierigkeiten, körperliche Behinderungen und Mehrfachbehinderungen. Einige Teilnehmer*innen hatten persönliche Assistent*innen und Assistenzhunde.

Die Teilnehmer*innen wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Zuordnung erfolgte schon vor Beginn der Lehrveranstaltung durch die Lehrgangsleitung mit dem Ziel, eine ausgewogene Zusammenstellung bzgl. Geschlecht, Alter, Diagnosen und Behinderungen zu erzielen. Wir, die Gruppenleiter*innen, waren in diesen Prozess nicht eingebunden.

Im ersten Lehrgangsdurchgang leiteten Paul Sprenger und Dana Moore eine Gruppe kollegial, die zweite Gruppe wurde von einer fachfremden Kollegin geleitet. Im zweiten Durchgang übernahm die Gruppenleitung der ersten Gruppe Paul Sprenger und die zweite Gruppe wurde von Dana Moore und Robert Kern kollegial geleitet. In diesem Artikel fließen unsere Erfahrungen aus der Leitung dieser drei Psychodrama-Gruppen mit ein.

Wir, Paul Sprenger, Dana Moore und Robert Kern, haben selbst keine Behinderungen oder psychiatrische Vorerkrankungen. Unsere Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen sowie Personen mit psychiatrischen Erkrankungen schöpfen wir aus unserem privaten Bereich sowie beruflichen Vorerfahrungen.

In den folgenden Kapiteln geben wir anhand einzelner, ausgewählter Szenen ganz persönliche Einblicke in das praktische Arbeiten mit den beschriebenen inklusiven Psychodrama-Gruppen unter unserer Leitung. All diese Erzählungen sind sowohl inhaltlich als auch stilistisch geprägt von Gesprächen und Reflexionen im Leitungsteam in Bezug auf unsere Befürchtungen, Zweifel und Ideen in unseren Rollen als Gruppenleitung. In Form von beispielsweise inneren Monologen verdeutlichen die Szenen in narrativen Texten die gedanklichen Prozesse, die uns persönlich zu einer inklusiveren Haltung verholfen haben.

5 Szenen aus der praktischen Arbeit

5.1 Eine Szene aus der Planung

Zwei Wochen vor Gruppenstart. Wir kennen die Teilnehmenden noch nicht, wir kennen keine Diagnosen, wissen nichts von ihren Vorerkrankungen.

Wir treffen uns zu Vorbesprechungen und für Planungsprozesse. Psychiatrische Diagnosen, Krisen, Dissoziationen, suizidale Äußerungen, etc. – kennen wir, können wir. Menschen mit Sinnesbehinderungen, Rollstuhlfahrer*innen, Assistent*innen, etc. – kennen wir, aber können wir? Was könnten wir denn dazu überhaupt können? Und was müssten wir können?

Normalerweise planen wir unsere Gruppensitzungen im Voraus nicht so detailliert, doch diesmal versuchen wir einen Plan zu entwickeln. Vermutlich wollten wir uns auf diese Weise unserer Unsicherheiten entledigen.

Wir starten unsere Überlegungen also mit den Erwärmungsübungen. Wir könnten eine Vorstellungsrunde mit Ball machen – aber was, wenn jemand die Arme nicht bewegen kann? Wir könnten zur Aktivierung Bewegungsübungen machen – aber was, wenn jemand im Rollstuhl sitzt? Wir könnten mit Bildkarten arbeiten – aber was, wenn jemand sehbeeinträchtigt ist? Und was könnten wir machen, wenn jemand gehörlos ist? Wir werden vom Konjunktiv verfolgt.

Ergebnis der einstündigen Planung: Wir werden vor Ort planen müssen.

5.2 Eine Szene aus der Erwärmung

Im Nachhinein stellt sich heraus, dass das einstündige gemeinsame Planen und die individuellen Überlegungen so nicht nötig gewesen wären. Unsere seit Wochen bestehenden Fragen im Konjunktiv verlieren sich im Tun. Und wir können alles umsetzen: Bildkarten, Bewegungsübungen, Ballspiele, etc.

Spontaneität und Kreativität sind vorhanden – sowohl bei uns als auch bei den Teilnehmenden. Und daraus entsteht schon bald eine Selbstverständlichkeit in den Übungen sowie im Arbeiten, die Raum für individuelle Herangehensweisen offenlässt – welche manchmal auch von gegenseitiger Unterstützung geprägt sind. So wird der Ball in der Vorstellungsrunde einmal geworfen, ein anderes Mal weitergegeben und/oder abgeholt. Die Rollstuhlfahrer*innen bewegen sich selbst durch den Raum oder werden von einer anderen Person geschoben. Unterstützung wird geleistet, Unterstützung wird erfahren. Und Begegnung findet statt.

5.3 Szenen aus dem Umgang mit speziellen Anforderungen

5.3.1 Raumauswahl

Unser Gruppenraum befindet sich im Erdgeschoss im großen Seminarraum. Er ist eigentlich viel zu groß. Es dauert fast zehn Minuten, bis die vielen Tische und Stühle weggeräumt sind. Wir, die Leitungspersonen, erwägen den Wechsel in einen kleineren Seminarraum im ersten Stock des Gebäudes. Eher zufällig fragen wir die Gruppe, ob das für alle passt – wir gehen von einem „Ja“ aus. Erst jetzt erfahren wir durch die Teilnehmenden, dass nur im Erdgeschoss barrierefreie Toiletten vorhanden sind und es eine große Erleichterung und auch Zeitersparnis wäre, nicht in jeder Pause das Stockwerk wechseln zu müssen. Daher bleiben wir für die weiteren Termine selbstverständlich im großen Seminarraum im Erdgeschoss.

5.3.2 Zeitstruktur

Erwärmungsspiel, Einstiegsrunde. Heute dauert es etwas länger, die Teilnehmenden sind sehr belastet. 45 min sind vorbei – wir sind noch mitten in der Einstiegsrunde. Gerne würden wir die Runde beenden und die Pause nach hinten verschieben. Aber wir unterbrechen. Nach 45 min Selbsterfahrung gibt es immer eine Pause. Das wurde schon vor Lehrgangsbeginn von der Lehrgangsleitung mehrmals an uns sehr klar kommuniziert – einige Gruppenmitglieder können sich nicht länger konzentrieren, manche müssen regelmäßig auf die Toilette begleitet werden. Somit gibt es bei uns keine kurze WC-Pause, da die Pause mindestens 15 min sein muss. Nur so kann sie von allen Teilnehmenden genutzt werden. Und das ist tatsächlich ein Unterschied zu unseren sonstigen Gruppenerfahrungen. Hier waren die Pausen oft an die Gruppenverläufe und Themen geknüpft. So kreativ und spontan das Arbeiten dieser Gruppe auch ist, in Bezug auf die Pausen gibt es eine starre Struktur.

5.3.3 Persönliche Assistent*innen

Während der Gruppeneinheiten sind teilweise persönliche Assistent*innen anwesend. Deren Anwesenheit ist für manche Teilnehmer*innen aufgrund ihrer Behinderung essentiell und somit wurde bereits in der ersten Einheit die Schweigepflicht auch in Bezug auf die persönlichen Assistent*innen besprochen. Es gibt jedoch – in der Rückschau betrachtet – kein klares Muster und keine klare Routine, wie ihre Teilnahme erfolgt. Manchmal werden sie von den Assistenznehmer*innen hinausgeschickt, während sie zu anderen Zeiten im Raum bleiben. Zudem wechseln die Assistent*innen gelegentlich. Außerdem gibt es Tage, an denen sie verhindert sind, was für die Assistenznehmer*innen in der Regel mit Stress und häufig auch Ärger verbunden ist und dadurch die unmittelbare Einheit jedenfalls beeinflusst.

Zu Beginn der ersten Einheit fühlen wir uns ein wenig unbehaglich, fast irritiert, als zwei Assistent*innen im Raum bleiben. Ganz selbstverständlich suchen sie sich einen Platz etwas außerhalb der Gruppe. Die Gruppe scheint davon nicht gestört zu sein, da sie aus anderen Lehrveranstaltungen bereits mit ihrer Anwesenheit vertraut ist. Dennoch stellen diese Assistent*innen neben ihrer Unterstützung – jedenfalls für uns – auch einen Störfaktor dar. Wir wollen den Teilnehmenden einen sicheren Raum zur Verfügung stellen. Wie können wir also einen Schutzraum für alle schaffen und gleichzeitig den Menschen mit Assistenzbedarf ermöglichen, aktiv an der Gruppe teilzunehmen?

Wir fragen die Gruppe direkt, ob es für sie in Ordnung ist, wenn die persönlichen Assistent*innen im Raum bleiben. Alle Teilnehmenden bejahen die Frage, was uns ein wenig überrascht, aber natürlich akzeptieren wir ihre Entscheidung. Rückblickend erweist sich unsere Frage ohnehin als überflüssig. Wie schon eingangs im Kapitel erwähnt, steht eine Nichtanwesenheit gar nicht zur Debatte, da dies dazu führen würde, dass diejenigen Gruppenmitglieder, die auf persönliche Assistent*innen angewiesen sind, von der Teilnahme ausgeschlossen werden würden.

Es gibt nach wie vor einige unbeantwortete Fragen, die uns nach Abschluss der Gruppe beschäftigten: Könnte die Co-Leitung eventuell Assistenzaufgaben übernehmen, falls dies von den Betroffenen gewünscht bzw. benötigt wäre? Und hätten wir zu Beginn die Frage an die Gruppe anders formulieren sollen? Statt zu fragen: „Ist es für euch okay, wenn persönliche Assistenzen während der Einheiten anwesend sind?“, hätten wir vielleicht direkt die Betroffenen fragen sollen: „Könnt ihr auch ohne Assistenz bis zur Pause teilnehmen? Wir werden uns auch strikt an die Pausenzeiten halten, um die Teilnahme für euch besser planbar zu machen.“ Wäre der Gruppenprozess anders verlaufen? Hätten sich die Teilnehmenden „sicherer“ gefühlt? Wir sind davon überzeugt, dass die Abwesenheit der Assistent*innen einen Unterschied gemacht hätte, doch wir wissen nicht, welchen.

5.3.4 Assistenzhund als Hilfs-Ich

Wie vor jeder neuen Gruppe sind wir neugierig: Wer sind die Teilnehmenden? Wie werden sich die einzelnen Leute in diese Gruppe einfügen? Sie kennen sich untereinander, aber die Konstellation von zwei getrennten Gruppen kennen sie noch nicht.

Beim Gruppenstart sind wir elf Personen im Raum. Aber wir sind zu zwölft – ein Hund ist mit dabei. Wir mögen Hunde, die Teilnehmenden auch? Es ist ein Assistenzhund. Die Frage, ob er dabei sein darf, erübrigt sich also. Es geht ums Wie – und das ergibt sich wie von selbst!

Zu Beginn der Einheit kommt er zu uns, beschnüffelt uns, lässt sich hinter dem Ohr streicheln und legt sich neben seine Besitzerin. Die anderen Teilnehmenden kennt er schon von vorangegangen Lehrveranstaltungen. Es scheint sich niemand gestört zu fühlen. Also starten wir einfach, ohne über den Hund zu reden. Schon in der Einstiegsrunde wird der Hund von den Teilnehmenden als Gruppenmitglied benannt. Ab jetzt hat er einen festen Platz in unserer Runde. Wir sind also wirklich zu zwölft.

Als Assistenzhund erkennt er die emotionale Lage seiner Besitzerin – er sucht beispielsweise Körperkontakt bei dissoziativen Zuständen, um sie wieder ins Hier und Jetzt zu begleiten. Schnell stellt sich heraus, dass der Hund sein Talent zur Beruhigung und zum Trösten nicht nur seiner Besitzerin zur Verfügung stellt. Instinktiv steht er bereit, wenn jemand unter Druck gerät. Er sucht von sich aus Nähe zu belasteten Teilnehmenden und lässt sich streicheln. Er beruhigt, glättet Wogen, baut Kontakt auf. Er holt sie zurück ins Hier und Jetzt.

Einmal verwechselt jemand die Türe und betritt den Seminarraum und damit unsere Gruppe, zu der er nicht gehört. Und siehe da: Dieser Hund kann auch bellen! Er beschützt uns. Es ist plötzlich ganz still, niemand spricht weiter. Das Missverständnis kann schnell aufgelöst werden – die unbekannte Person verlässt den Raum und der Hund zieht sich zurück, legt sich wieder hin und die Gruppe arbeitet weiter.

Rückblickend betrachtet war dieser Assistenzhund tatsächlich ein vollständiges Mitglied der Gruppe. Und als solches übernahm er auch viele Hilfs-Ich-Aufgaben.

5.4 Eine Szene aus der Aktions- und Integrationsphase

Heute ist der dritte Selbsterfahrungsblock im zweiten Semester. Es befinden sich zwei spannende Themen im Raum. Zum einen Unsicherheiten und Sorgen bezüglich einer Praktikumswahl einer Teilnehmerin. Zum anderen der Umgang eines Teilnehmers mit der eigenen Überforderung.

Durch eine soziometrische Wahl fällt die Entscheidung. Erstmals im gesamten Gruppenprozess wird ein Thema einstimmig von der gesamten Gruppe gewählt und die Szene mit dem Protagonisten im Gespräch exploriert. Er erzählt, dass er immer wieder gedanklich „aussteigt“, sich in und von der Gruppe Auszeiten nimmt. Auch kann der Protagonist aufgrund seiner Lernschwierigkeit manchmal Rollen nicht halten. Rollenwechsel in konkrete, ihm bekannte Rollen gelingen, Rollenwechsel in abstrakte Rollen, nicht. Schon zu Beginn des Lehrgangs wurde mit der gesamten Gruppe besprochen, dass er aufgrund seiner Lernschwierigkeit hin und wieder (in seinen Worten) abschaltet.

Meine erste Intention, den Teilnehmer zu einem Protagonistenspiel einzuladen, verwerfe ich schnell. Ich überlege die Gruppe in Kleingruppen zu diesem Thema arbeiten zu lassen. Warum aber will ich meinem ersten Impuls nicht folgen? Begrenze und behindere ich mich hier selbst durch mein Denken? Und damit auch den Protagonisten und die gesamte Gruppe?

Mir wird klar, dass es keinen fachlichen Grund für diese Entscheidung gibt. Ich habe keine Sorge, dass er aufgrund der oben beschriebenen Schwierigkeiten einen Rollenwechsel nicht durchführen könnte. Ich habe Sorge, dass es aufgrund der Lernschwierigkeit nicht möglich sein könnte, obwohl ich selbst diese Bedenken nicht nachvollziehen kann. Meine Entscheidungsfindung basierte also in diesem kurzen Moment nicht auf Überlegungen über meinen Klienten. Sie basierte auf Vorurteilen bezüglich einer Behinderungsart. Aber warum sollte ein Mensch mit einer Lernschwierigkeit nicht einfach als Protagonist*in das eigene Thema bearbeiten können wie jede*r andere? Also Stopp!

Mein Klient, der Teilnehmer wird also zum Protagonisten. Sein Thema steht im Mittelpunkt, ist Gruppenthema und wird durch diese getragen. Im Dialog explorieren wir die Szene – wir begegnen uns und im Verlauf der gesamten Gruppe im Gesprächsprozess. Der Protagonist geht also nicht auf die Spielbühne, er bleibt bei sich. Die weiteren Teilnehmenden wechseln aber in die Rollen von Expert*innen, Berater*innen, Studienkolleg*innen und Freund*innen. Und von all diesen Perspektiven bekommt er Rückmeldungen, Erfahrungen und Handlungsideen.

Bis zum Ende ist nicht klar, ob er auch jetzt zwischendurch abschaltet oder nicht. Noch nie habe ich erlebt, dass es so intensiv um eine Person geht, der dennoch in diesem Moment zugestanden wird, sich so klar abzugrenzen und zurückzuziehen. Am Ende gibt er der Gruppe eine Rückmeldung. Er war heute das erste Mal die ganze Einheit da und hat nicht abgeschaltet. Seine Erklärung: Heute war er jemand. Heute wurde nicht nur das Thema, sondern auch er gewählt.

5.5 Eine Szene am Ende

Einige Tage nach Abschluss der Selbsterfahrungsgruppe kommt noch eine organisatorische Frage von einem Teilnehmer per E‑Mail in meinem Posteingang an. Er selbst sitzt aufgrund einer Tetraspastik im Rollstuhl, seine Hände sind eingeschränkt beweglich. Im E‑Mail bittet er um telefonische Kontaktaufnahme. Ich zögere. In meinem Kopf folgende Fragen: Was, wenn das Handy nicht gerade zufällig in Reichweite ist? Wie kann er überhaupt abheben? Und wie ins Telefon sprechen, wenn er das Handy nicht halten kann? Macht er das dann mit Kopfhörern? Und was, wenn diese nicht gerade in seinen Ohren stecken?

Er ist ein erwachsener Mann und bittet um Rückruf. Wahrscheinlich hat er einen Plan, die Verantwortungsübernahme von mir ist hier wahrscheinlich an falscher Stelle. Am nächsten Tag rufe ich an. Er hebt sofort ab, Tonqualität einwandfrei. Da ich aber gerade im Auto bin und schlechten Empfang habe, wird unser Telefonat unterbrochen. Vielleicht hätte ich mir mehr Gedanken um meinen eigenen Anteil im Gespräch machen sollen.

6 Reflexion des praktischen Arbeitens

Bei der Beschreibung der Szenen aus der praktischen Arbeit war es uns einerseits ein Anliegen, unsere persönlichen Gedanken, Unsicherheiten und Zweifel sowie die daraus entstandenen Lösungen und Erkenntnisse zu teilen. Andererseits hat sich für uns verdeutlicht, dass, neben allen inklusiven Ansätzen und Möglichkeiten des Psychodramas, die Haltung von uns Psychodrama-Psychotherapeut*innen der entscheidende Faktor ist, ob wir Gruppen inklusiv gestalten oder eben nicht.

In den meisten beschriebenen Szenen wird deutlich, dass während unseres Planungsvorgangs zuerst folgende Frage handlungsleitend war: Ist der*die Protagonist*in in der Lage, eine bestimmte Intervention umzusetzen oder nicht? Dies führte oftmals in eine gedankliche Sackgasse mit eingeschränkten Handlungsspielräumen – mögliche Defizite standen hierbei im Vordergrund. Eine Auflösung erfolgte, indem eine andere Frage handlungsleitend wurde: Wie können die Interventionen durch die Teilnehmenden selbst gestaltet bzw. aktiv von ihnen mitgestaltet werden?

In unserer Rolle als Gruppenleitung tragen wir für die Gruppe als Ganzes sowie für jede Einzelperson Verantwortung. Durch Interventionen wollen wir die Gruppe und die einzelnen Teilnehmer*innen in ihrem gemeinsamen und individuellen Prozess fördern, teilweise fordern, aber auch vor einer Überforderung schützen. Werden die dafür notwendigen Einschätzungen aber nicht auf Basis der Wahrnehmung der gesamten Person, sondern in zu großem Maß auf Basis der Wahrnehmung einer Behinderung und/oder Diagnose der Gruppenteilnehmer*innen getroffen, so werden wir dieser Verantwortung nicht ausreichend bewusst.

Es ist aber im Verlauf unserer Gruppen zu Situationen gekommen, in denen durch uns Leitungspersonen zumindest zwischenzeitig vorweggenommen wurde, dass manches aufgrund der Behinderungen und/oder Diagnosen der Teilnehmenden nicht möglich ist oder für der*die Protagonist*in unpassend wäre. Dies ist unserer Meinung nach gleichzusetzen mit einer Bevormundung bzw. eine Übernahme – oder besser: Wegnahme – von Verantwortung, also genau dem Gegenteil unserer eigentlichen Intention. An unterschiedlichen Punkten ist uns eben dadurch die Selbstverständlichkeit abhandengekommen, dass unsere Gruppenmitglieder vollkommen selbstverantwortlich und selbstbestimmt und somit gleichberechtigt bzw. wie Menschen ohne Behinderung an der Gruppe teilnehmen. Die bewusste Wahrnehmung und ständige Reflexion dieser Situation machte es uns in weiterer Folge wieder möglich, die Gruppe gemäß unserem Verständnis von Inklusion zu gestalten. Das heißt, die Verantwortung für das eigene Handeln bei den Teilnehmenden selbst zu lassen. Und das bedeutet auch, dass die Gruppenmitglieder vielleicht manches falsch oder nicht verstanden haben, manches genossen und manches abgelehnt haben, manches vielleicht nicht machen wollten oder konnten, sich manchmal in der Gruppe wohlgefühlt haben und manchmal nicht, etc. – und zwar ganz unabhängig von einer Diagnose oder Behinderung.

Die auch in dem Kapitel „Szenen aus der praktischen Arbeit“ beschriebenen Unsicherheiten, Zweifel und Unklarheiten sind wohl vielen vertraut. Sie treten häufig bei Themen auf, die in der Vergangenheit nicht ausreichend Beachtung gefunden haben. Dies gilt auch für das Thema Inklusion, das trotz langjähriger Bemühungen und Kämpfe von Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderung nicht immer die breite Aufmerksamkeit und den notwendigen gesellschaftlichen und politischen Diskurs erhalten hat, den es verdient, um Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich adäquat umzusetzen.

7 Conclusio

Wie in der Einleitung beschrieben, kann uns unter anderem J. L. Morenos Konzept der Begegnung unterstützen, Inklusion in ihrer aktuellen gesellschaftlichen Bedeutung zu interpretieren, zu verstehen und auch umzusetzen.

Natürlich gibt es methodische Unterschiede in der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung, wie es beispielhaft in dem Kapitel „Szenen aus der praktischen Arbeit“ ersichtlich ist. So haben wir die Gruppenprozesse an starre Zeitstrukturen (Pausen) angepasst und nicht umgekehrt, wie wir es sonst handhaben. Auch haben manche Übungen mehr Zeit in Anspruch genommen, als wir es gewohnt waren, und es entstanden neue kreative Handlungsweisen in der Gruppe, um Übungen gemeinsam durchführen zu können. Wir – und natürlich auch die Teilnehmenden – lernten damit umzugehen, dass auch Menschen im Raum waren, die nicht aktiv am Gruppengeschehen teilgenommen haben, aber dennoch als persönliche Assistent*innen eine wichtige Funktion für einzelne Teilnehmer*innen hatten.

Wir haben erkannt, dass sich Unterschiede in der Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung viel weniger darin zeigten, „was“ wir gemacht haben, sondern mehr darin „wie“ wir Dinge geplant und angeleitet haben, damit sie zugänglich für alle sind. Wenn wir von Inklusion sprechen und diese Vision konsequent verfolgen und ernst nehmen, so geht es darum, Räume zu schaffen – in unserem Fall insbesondere Gruppen – in denen alle Menschen Zugang finden und sein können.

In unserem persönlichen Entwicklungsprozess in Bezug auf unsere Leitungsrollen stellten wir fest, dass der Austausch innerhalb des Leitungsteams essenziell war. Erst durch die gemeinsame Reflexion einzelner Gruppenszenen wurde uns selbst bewusst, dass wir teilweise Entscheidungen nicht mehr aus der Begegnung mit unseren Klient*innen, sondern aus der Begegnung mit deren Behinderungen bzw. Diagnosen getroffen hatten.

Wir haben für uns erkannt, dass uns in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung vor allem eines davor geschützt hat defizitorientiert zu arbeiten: Darauf zu achten alle Menschen als Ganzes, mit den eigenen Stärken und Schwächen sowie Ressourcen und Defiziten, zu sehen.

Denn am Ende geht es darum, Menschen im Rahmen unserer psychotherapeutischen Arbeit eine Möglichkeit zu bieten, sich zu entwickeln und zu wachsen. Und plötzlich ist das Arbeiten gar nicht mehr so anders.