Zusammenfassung
In diesem Interview der Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie berichtet Anita Harb über ihre Forschungsarbeit im Rahmen ihrer Masterthese für den Abschluss ihrer Psychodrama-Ausbildung. Sie hat dafür Expert*innen-Interviews mit acht österreichischen Kolleg*innen geführt und dabei erfragt, welche Modifikationen im Monodrama notwendig sind, um Menschen mit Lernschwierigkeiten therapeutisch gut begleiten zu können.
Abstract
In this interview in the journal Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie Anita Harb reports on her research work as part of her master’s thesis for the completion of her psychodrama training. She conducted expert interviews with eight Austrian colleagues and tried to find out which modifications are necessary in monodrama in order to be able to provide good therapeutic support for people with learning disabilities.
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Durch meine Forschungsarbeit wollte ich herausfinden, was Kolleg*innen in der Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten berücksichtigen und ob es Unterschiede in ihrer psychotherapeutischen Herangehensweise zu anderen Klient*innen gibt. Mein Interesse galt der Frage, welche speziellen Modifikationen im Psychodrama notwedig sind, um Menschen mit Lernschwierigkeiten zu ermöglichen, neue Rollen innerhalb ihres doch meist recht eingeschränkten oder vorgegebenen Alltaglebens zu entwickeln.
Das im Jahr 2008 durch die UN-Mitgliedsstaaten ratifizierte Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen soll allen Menschen einen gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitswesen und damit zur Psychotherapie ermöglichen. Für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist dies jedoch nicht selbstverständlich. Sie sind oft von ihrem begleitenden Umfeld und deren Haltung gegenüber Psychotherapie abhängig. Gerade aber, weil bei Menschen mit Lernschwierigkeiten ein erhöhtes Risiko besteht, an psychischen Störungen zu erkranken, stellt die psychotherapeutische Arbeit ein wichtiges Angebot dar.
Meist wird vermutet, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten wenig Innensicht besitzen oder nicht den Wunsch nach Veränderung haben. Daher stellt bereits die Klärung des Auftrags eine Herausforderung dar, den oft sind es nicht die Betroffenen selbst, die den Wunsch haben, eine Psychotherapie zu beginnen. Häufig erlebt das soziale Umfeld aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten einen Leidensdruck und erhofft sich eine Veränderung durch eine beginnende Psychotherapie.
In meiner eigenen langjährigen Begleitung von Menschen mit Lernschwierigkeiten habe ich das Verfahren Psychodrama als sehr unterstützend erlebt, da die verschiedenen Arragements und Techniken es ermöglichen, auf unterschiedlichen Bühnen mit den Klient*innen in Begegnung zu treten. Damit verbunden kann kreatives Potenzial durch das Erproben von neuen Handlungskompetenzen frei werden und neue Rollen können entstehen. Auch wenn auf der intellektuellen Ebene Grenzen vorhanden sind, kann man gut mit den Klient*innen therapeutisch arbeiten, da im Psychodrama die Sprache nicht der einzige Weg ist, um in Kommunikation zu treten.
Zum Thema der psychotherapeutischen Arbeit bei Menschen mit Lernschwierigkeiten liegt nur wenig Literatur und wissenschaftliche Forschungsarbeit im deutschsprachigen Raum vor. Deshalb war es mir ein Anliegen in meiner Masterthese das vorhandene Wissen und die Erfahrungen von Psychodrama-Psychotherapeut*innen, die in ihrer Praxis mit Menschen mit Lernschwierigkeiten arbeiten, durch Expert*inneninterviews zu sammeln und zusammenzufassen.
Die Suche nach Kolleg*innen innerhalb von Österreich gestaltete sich jedoch sehr schwierig und zeigte auf, dass es nur wenige Psychodrama-Psychotherapeut*innen gibt, die Erfahrungen in der psychotherapeutischen Begleitung von Menschen mit Lernschwierigkeiten haben. Anders sieht es in der Arbeit mit Klient*innen mit Sinnes- und/oder körperlichen Beeinträchtigungen aus. Für meine Masterthese wurden acht Leitfadeninterviews mit Kolleg*innen, die mit dieser Klient*innen-Gruppe arbeiten, geführt. Die Volltranskripte wurden durch eine inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse ausgewertet und anschließend anhand des gewonnenen Materials Kategorien gebildet. In meiner Masterthese werden die relevanten Kategorien, die sich mit der Fragestellung „Welche störungsspezifischen Modifikationen sind für Menschen mit Lernschwierigkeiten im Psychodrama erforderlich, um neue Rollen entwickeln zu können?“ befassen, genauer vorgestellt.
Mir war es ein Anliegen, vor Beginn des Verfassens meiner wissenschaftlichen Arbeit diese Frage mit Betroffenen zu klären. Die Bezeichnung Menschen mit Lernschwierigkeiten wird heute von Betroffeneninitiativen und Selbstvertreter*innen bevorzugt. Ich habe mich deshalb für diese entschieden, um eine positive und wertschätzende Beschreibung zu nutzen. Früher wurde von „Behinderten“ oder „Geistig Behinderten“ gesprochen, diese Begrifflichkeiten werden eindeutig als abwertend von den Selbstvertreter*innen empfunden und abgelehnt. Der Begriff Menschen mit Lernschwierigkeiten hebt hingegen hervor, dass diese Menschen trotz ihrer unterschiedlichen Schwierigkeiten in der Lage sind und auch den Wunsch haben, sich neuen Lerninhalten zu widmen und sich weiterzuentwickeln. Den Betroffenen ist es wichtig, dass ein respektvoller Umgang und eine Begegnung auf Augenhöhe im Therapieprozess selbstverständlich sein sollten. Sie möchten als Expert*innen in eigener Sache gesehen werden.
FormalPara Ein wichtiger Aspekt deiner Masterthese ist die Rollenentwickllung. Diese wird auch durch die Rollenzuschreibungen von außen stark beeinflusst. Die Rollen, die Menschen mit Lernschwierigkeiten zugeschrieben wurden, haben sich im Laufe der Zeit stark verändert. Was waren für dich wichtige Meilensteine?Im Laufe der Zeit haben sich die Rollenzuschreibungen sehr stark verändert. Durch mehrere Paradigmenwechsel, wie nachfolgend beschrieben, sollte es heute Menschen mit Lernschwierigkeiten, wie allen anderen Menschen möglich sein, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Gerade die Coronavirus-Pandemie hat jedoch gezeigt, dass in Krisenzeiten Rückschritte jederzeit möglich sind und Menschen wieder isoliert und nicht orientiert an den eigentlich selbstverständlich scheinenden Menschenrechten leben mussten.
In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 70er-Jahre des vorhergehenden Jahrhunderts wurden Menschen mit Lernschwierigkeiten in Anstalten und psychiatrischen Kliniken „verwahrt“ und geistige Behinderung mit einer Krankheit gleichgesetzt. Den Menschen wurde damals zugeschrieben, dass sie unfähig seien, sich zu bilden, zu lernen oder zu spielen (Hähner et al. 2003, S. 26) und sie aufgrund dessen kein normales Leben führen könnten. Somit wurden die Menschen zu Patient*innen, die untergebracht und gepflegt werden mussten. In Folge dessen entwickelten sie viele stereotype und infantile Verhaltensmuster.
Zu Beginn der 1960er änderte sich das Menschenbild und es begann ein Wandel Richtung Förderung und Rehabilitation sowie Entpsychiatrisierung. Die Menschen wurden jedoch nur mit ihren Defiziten gesehen und es wurde angenommen, dass sie zur Verbesserung eine lebenslange Betreuung durch professionelle Hilfe aus den Bereichen der Krankengymnastik, Ergotherapie, Heilpädagogik usw. benötigen. Aus den Patient*innen wurden Betreute.
Ab Mitte der 1980er-Jahre fand eine Neuorientierung für Menschen mit Behinderung unter dem Paradigma Selbstbestimmung und Integration statt. Aufgrund der zuvor stattfindenden Diskriminierung und Segregation forderten engagierte Eltern das Recht ihre Kinder mit Behinderung auf Integration in allgemeine Kindergärten und Schulen. Betroffenen-Selbsthilfegruppen formulierten klar ihre Vorstellungen Sie beharrten auf ein Umdenken in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen. Sie forderten eine ganzheitliche Sichtweise und kämpften um ihr Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung.
Der Gedanke der Inklusion folgte in den 1990er-Jahren mit dem Ziel, dass Menschen mit Behinderung ebenso als ein Teil der Gesellschaft gesehen und dies durch Barrierefreiheit und Teilhabe ermöglicht werden sollte. Nicht die behinderten Menschen sollten an vorhandene Strukturen angepasst werden, sondern die Lebensbedingungen behinderter Menschen sollen so gestaltet sein, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Die Diagnostik bei Menschen mit Lernschwierigkeiten stellt ein sehr schwieriges Thema in der therapeutischen Begleitung dieser Personengruppe dar (Erretkamps et al. 2017, S. 13). Dies meldeten alle Interviewpartner*innen zurück. Es bedarf einer genauen Differenzierung zwischen den Verhaltensweisen, die unmittelbar mit den vorliegenden Lernschwierigkeiten zusammenhängen und den Symptomen von psychischen Erkrankungen. Alle interviewten Kolleg*innen sehen die Diagnosestellung anhand von gängigen Diagnostikmanualen sehr kritisch. Als diagnostisches Instrument wird vorwiegend von allen die ICD-10 verwendet; das Klassifikationssystem DSM und das multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen wendet niemand der Befragten an.
Alle Kolleg*innen unterstützen den Diagnoseprozess mit ihrem psychodramatischen Handwerkszeug und erleben das als hilfreich. Dadurch werden innere Prozesse der Klient*innen besser verständlich und das äußeres Geschehen rund um sie wird sichtbar gemacht. Das Hauptinstrument stellt für alle interviewten Kolleg*innen das soziale Atom dar, denn fast alle Klient*innen mit Lernschwierigkeiten sind auf die Unterstützung ihres sozialen Umfelds angewiesen.
Immer mitgedacht werden die Rollenebenen und Störungsniveaus, diese bieten zusätzliche Hilfestellungen für die Diagnosestellung. Das Erkennen auf welcher Rollenebene Klient*innen ihre Beziehungen gestalten, ermöglicht die Wahl der passenden Interventionen im therapeutischen Prozess.
Alle Kolleg*innen merken an, dass sie die Arbeit auf der Begegnungsbühne als im Vordergrund stehend und wichtig erleben. Dabei ist wesentlich, dass die Begegnung auf Augenhöhe stattfindet. Dadurch entsteht ein vertrauensvoller und offener Begegnungsraum. Menschen mit Lernschwierigkeiten erhalten hier oft erstmals eine Bühne, um offen über sich, ihre Probleme, aber auch Wünsche und Bedürfnisse sprechen zu können. In den verschiedenen Betreuungseinrichtungen fehlt dafür häufig die Zeit und auch der Raum. Klient*innen erleben sich in ihrem Alltagsleben oft nicht als selbständige Individuen, sondern als Teil einer Wohn- und/oder Arbeitsgruppe. Sie haben nicht gelernt, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren, da meist die Familie oder das Betreuer*innensystem für sie entscheiden. In der Psychotherapie erleben sich Menschen mit Lernschwierigkeiten erstmals als Expert*innen für ihr eigenes Leben.
Auf der Begegnungsbühne wird versucht, die unmittelbaren Themen von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu erkennen und damit zu arbeiten. Die Hilfs-Ich-Kompetenzen der Psychodrama-Psychotherapeut*innen spielen beim Finden und Formulieren der vorliegenden Bedürfnisse eine sehr tragende Rolle. Auch das Entwickeln einer gemeinsamen Sprache stellt eine Herausforderung für die befragten Kolleg*innen dar. Häufiges Nachfragen, ob das von den Klient*innen Gesagte auch richtig verstanden wurde, wurde genauso erwähnt wie das Einplanen von ausreichend Zeit. Fortschritte passieren in sehr kleinen Schritten und werden durch Wiederholungen ins Gedächtnis gerufen.
Rituale und das wiederkehrende Einbauen von verschiedenen hilfreichen Methoden oder Techniken des Psychodramas fließen sehr stark in die Arbeit auf der Begegnungsbühne ein. Dabei wird das Augenmerk auf die psychosomatische und psychodramatische Rollenebene gelegt, erwähnen mehrere Kolleg*innen.
Nicht nur Kinder brauchen die Hilfs-Ich-Kompetenz von Erwachsenen, um eigene Handlungskompetenzen zu entwickeln, sondern, wie Moreno (Schacht und Pruckner 2010, S. 246) meint, benötigen auch Erwachsene ein Leben lang Hilfs-Ich-Kompetenzen von anderen Menschen, um sich daran zu orientieren und wachsen zu können.
Die Hilfs-Ich-Funktionen von Psychodrama-Psychotherapeut*innen haben eine große Bedeutung in der Begleitung von Menschen mit Lernschwierigkeiten und erfordern eine störungsspezifische Modifikation durch die individuelle Anpassung der jeweiligen geplanten Interventionen und Rahmenbedingungen. Ein viel häufigeres Einbringen der Hilfs-Ich-Kompetenz wird im Begleitungsprozess in der Arbeit mit dieser Zielgruppe notwendig, damit die Menschen lernen können ein gewisses Maß an Regie innerhalb ihres eigenen Lebens zu übernehmen, um selbstbestimmter und selbstwirksamer zu werden. „Das gelingt durch Ressourcenstärkung und indem Klient*innen bei der Erweiterung ihres Rollenrepertoires unterstützt werden, damit sie ihren Handlungsspielraum im Alltag erweitern können“ (Denk 2018, S. 501). Psychodramatiker*innen stehen ihren Kient*innen zur Seite, damit das auf der Bühne Erprobte und in der Begegnung Erfahrene in den Alltag auf die soziale Bühne transferiert werden kann (Harb 2020, S. 39).
Das Psychodrama bietet verschiedene Möglichkeit, um Menschen mit Lernschwierigkeiten dabei zu unterstützen, ihre Bedürfnisse zu formulieren und dadurch auch in ihrem Alltag Veränderungen herbeizuführen. Es obliegt der Kompetenz der Psychodramatiker*innen zu wählen, welche Materialien, wie zum Beispiel Inter- und Intraintermediärobjekte oder welche Arrangements hilfreich im Prozess sein können, damit neue Rollen exploriert und schlussendlich entwickelt werden können.
Die Kolleg*innen versuchen, die von den Klient*innen eingebrachten Themen in Worte zu fassen. Denn häufig fehlen den Klient*innen Worte für ihre Anliegen und Wünsche, da Menschen mit Lernschwierigkeiten sehr gut gelernt haben, sich an ihr Umfeld anzupassen und eigene Bedürfnisse zu unterdrücken.
Auch beim Benennen und Ausdifferenzieren von verschiedenen Gefühlen brauchen Menschen mit Lernschwierigkeiten Unterstützung. Hier arbeiten die befragten Kolleg*innen mit Gefühlskarten oder zum Beispiel mit dem Buch „Der Seelenvogel“ (Snunit und Golomb 1986) oder sie explorieren mit den Klient*innen die Gefühlen seit der letzten Sitzung.
Alle Kolleg*innen meiner Befragung waren davon überzeugt, dass die verschiedenen Arrangements des Psychodramas sich in der therapeutischen Arbeit mit der Zielgruppe sehr gut einbauen lassen. Jedoch ist die eigene Kreativität und Flexibilität in einem hohen Maß gefordert.
Häufig werden Rituale eingebaut, die von den Klient*innen als Orientierungshilfe erlebt werden. Dabei wird oft auf der psychosomatischen Rollenebene angesetzt und Gleichbleibendes wird in jeder Sitzung zu Beginn oder am Ende wiederholt. Vor allem ermöglicht eine Veranschaulichung durch Visualisierung ein leichtes Verstehen. Von den Kolleg*innen werden verschiedene selbst entwickelte Methoden beschrieben, wie zum Beispiel ein Regiebuch, das Arbeiten mit einem Schutzhaus und die wichtige Bedeutung von Sharing innerhalb der Therapie.
Des Weiteren wird der Einsatz von Intermediärobjekten und Intraintermediärobjekten in der psychotherapeutischen Arbeit mit der Zielgruppe als sehr unterstützend erlebt. Dabei, beschreiben die Kolleg*innen, können alle Gegenstände als Intermediärobjekte verwendet werden, wie Finger- oder Handpuppen, Schleich-Tiere, Playmobil, Klötze, Tücher, Seile, Bücher, Karten, persönliche oder familiäre Fotos, Spiele, Objekte aus unterschiedlichen Materialien und vieles mehr. Hilfsmittel können dabei ressourcenorientiert und, um innere Helfer*innen zu entwickeln an die jeweiligen Bedürfnisse bzw. Fähigkeiten der Klient*innen angepasst werden.
Das Arbeiten mit Menschen mit Lernschwierigkeiten findet vorwiegend auf der psychosomatischen Rollenebene statt und damit werden ein Körperlich-Werden und eine neue Wahrnehmungsmöglichkeit angeboten. Kolleg*innen erwähnen, dass sie Übungen, wie die Schoßplatzübung oder die Kuschelübung (Stelzig 2018, S. 71) oder Imaginationen zum Thema Schutzhaus (Wicher 2012, S. 255) immer wieder in ihren Therapiealltag einbauen. Auch das Tanzen zur Lieblingsmusik ermöglicht ein neues Körpererleben. Es wird auch eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die eigene körperliche Präsens von den Kolleg*innen erwähnt, im Umgang mit Körperkontakt oder durch eine Regulation von Nähe und Distanz beim Nebeneinandersitzen.
Ebenso nutzen Kolleg*innen die psychodramatischen Techniken Spiegeln und Doppeln in der Begleitung von Menschen mit Lernschwierigkeiten sehr häufig. Dabei bedarf es immer wieder einem Nachfragen, ob das Gegenüber auch das gleiche meint und verstehen kann. Die Technik des Spiegelns schafft Distanz und kann ein besseres Erkennen des eigenen Verhaltens bewirken. Oft entstaht dadurch ein bewusster Wunsch, einen ersten Schritt Richtung Veränderung zu gehen.
Bei Klient*innen, denen ein Szenenaufbau möglich ist, besteht durch das szenische Arbeiten die Möglichkeit, zu belastenden und überfordernden Themen eine Distanz zu bekommen und wie für alle anderen Therapieklient*innen die Chance, eine neue Sichtweise zu entwickeln.
Ähnlichs wird vom Großteil der befragten Kolleg*innen bezüglich einem Rollenwechsel gesehen. Ein Rollenwechsel kann bei ausreichend Zeitressourcen funktionieren, indem bspw. eine bestimmte Alltagsszene über mehrere Sitzungen hinweg bearbeitet wird.
Zu all diesen Erkenntnissen bin ich sowohl durch meine Forschungsarbeit als auch meine eigene langjährige Tätigkeit gekommen. Mit Hilfe des Psychodramas gelangen Menschen mit Lernschwierigkeiten zur Möglichkeit, sich neu und in Verbindung mit anderen Menschen kennen zu lernen und dadurch besser im Alltag zurecht zu kommen.
Von allen Interviewpartner*innen wird beschrieben, dass besonderes Augenmerk, wie bereits oben erwähnt, auf der Hilfs-Ich-Funktion von Psychodramatiker*innen liegt. Es wird von ihnen „aufgrund der eingeschränkten Kommunikation, fehlender Emotionsregulation und mangelnder Selbstreflexion ein hohes Maß an Sensibilität und Resonanzfähigkeit“ (zit. Harb 2020, S. 102) zum Unterschied zur Arbeit mit anderen Zielgruppen abverlangt. Es hängt davon ab, welche Entscheidung die Psychodramatiker*innen bei der Wahl der verschiedenen Möglichkeiten, wie den Inter- oder Intraintermediärobjekten und den Techniken und Methoden treffen. Bei den zur Verfügung gestellten Materialien ist ebenso auf die Eignung, wie z. B. auf die Reduziertheit der Signale, zu achten.
Durch die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeit in der Kommunikation anhand vom Einsatz von unterschiedlichen Materialien, wie Emotionskarten, Bücher, Smileys kann auf der psychodramaitschen Rollenebene ein Zugang zu Gefühlen und körperlichen Empfindungen gefunden werden. Bei Rückmeldungen von wahrgenommenen Gefühlen bedarf es ein besonderes Ausgenmerk auf die Formulierung und die gewählte Sprache.
Mit dem Wissen, dass ein Szenenaufbau dann möglich ist, wenn Fähigkeiten der psychodramatischen Rollenebene beherrscht werden, gelingt es auch in der Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten, szenisch zu arbeiten. Ich möchte das gerne mit einem Beispiel aus meiner Praxis veranschaulichen. Um einen Szenenaufbau (Harb 2020, S. 106) zu ermöglichen, lasse ich mir zuerst im Sitzen im Gespräch sehr genau die Erlebnisse aus ihrem Alltag schildern. Dabei leite ich meine Klient*innen an, Schritt für Schritt das Erlebte wieder zu geben, damit wir im Anschluss die vorbesprochene Szene auf der Bühne am Tisch oder am Boden aufbauen können. Auf der psychodramatischen Bühne ist für meine Klient*innen möglich, mehr als in ihrem Alltag, alles nochmals durch Distanzierung und Erweiterung differenzierter zu erleben. Hierbei bringe ich auch Doppeln und Spiegeln zum Einsatz, um zu den bei den Klient*innen vorhandenen Gefühlen zu kommen oder auch Wunschszenen einzurichten. Beim Doppeln wird durch mich eine Position nicht unmittelbar hinter den Klient*innen eingenommen, um von dort aus zu sprechen, wie diese Hilfestellung sonst anderen Klient*innen angeboten wird, sondern daneben oder noch näher. Durch die Veranschaulichung auf der Bühne passiert ein verändertes Wahrnehmen und Verstehen des Erlebten und eine Weiterentwicklung ist möglich. Die Menschen werden darin unterstützt, ihre Bedürfnisse zu erkennen und dementsprechend haben sie Möglichkeiten auf der Surplus Realtiy auszuprobieren, um ihre Lebensführung innerhalb ihres Alltags bedürfnisorientiert zu verändern.
Im Anschluss werden die zuvor ausgewählten Materialien wieder entrollt und wie es im Psychodrama üblich ist, das Dargestellte nachbesprochen.
In der psychotherapeutischen Arbeit mit meinen Klient*innen führe ich am Ende jeder Einheit gemeinsam mit den Klient*innen ein Therapietagebuch. Darin werden die Inhalte der geführten Gespräche, aber vor allem Erkenntnisse aus den Aktionsphasen durch mich in das Therapeitagebuch geschrieben. Ich bespreche das Aufzuschreibende mit meinen Klient*innen und nehme hierbei eine stützende Hilfs-Ich-Funktion ein und verwende die von ihnen gewählten Wörter und den Sprachstil. Die Klient*innen suchen aus meinen unterschiedlichen Materialien, den Stift und die Farbe aus, mit dem ich an diesem Tag schreiben soll und auch Bilder und Fotos, um das Geschriebene zu ergänzen. Das Therapietagebuch verbleibt in meiner Praxis und wird am Ende des Therapieprozesses oder beim Fertigstellen des Buches den Klient*innen übergeben. Das Therapietagebuch stellt in der Begleitung von Menschen mit Lernschwierigkeiten für mich ein wichtiges Instrument dar und kommt bei jedem Gespräch zu Beginn und am Ende als Ritual zum Einsatz. Außerdem steht das Buch immer zur Verfügung, um damit Vergangenes aber auch Wünsche für die Zukunft nachzuschlagen. Oft kommt es im Alltagsleben meiner Klient*innen zu Veränderungen im Betreuungsteam oder bei den Mitbewohner*innen, dies wird durch das soziale Atom im Therapietagebuch festgehalten und kann auch jederzeit verändert werden. Somit können in der Therapie gewonnene Erkenntnisse nicht verloren gehen und stehen bei den nächsten Gesprächen oder auch für den Transfer in ihren Alltag zu Hause wieder zur Verfügung.
Ähnlich wie ich nutzen alle interviewten Kolleg*innen ihr Fachwissen und ihre Kreativität, um ihre Klient*innen bestmöglich begleiten zu können. Die Menschen werden durch die verschiedenen Modifikationen unterstützt, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und dementsprechend sollen sie Möglichkeiten erhalten, ihre Lebensführung innerhalb ihres Alltags bedürfnisorientiert zu verändern. Es bedarf bei den meisten Interventionen eine spezielle vereinfachte Adaptierung, damit es zu keiner Überforderung der Klient*innen kommt und das Vorgehen nicht zu konfrontativ erscheint. Eine reduzierte Geschwindigkeit im Therapieprozess, Wiederholungen und wiederkehrende Rituale, wie bereits mehrmals erwähnt, sind ebenso zu berücksichtigen.
Da nach wie vor der Irrglaube herrscht, Psychotherapie sei bei Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht machbar, wünsche ich mir eine bessere und vermehrte Kommunikation, Zusammenarbeit und weniger Konkurrenzdenken zwischen den verschiedenen Berufsgruppen aus Pädagogik, dem medizinischen Personal und uns Psychotherapieut*innen. Damit ein Abbau von Barrieren, hervorgerufen durch Berührungsängste und Scham, gelingt, bräuchte es noch mehr Aufklärung und Transparenz, welche Möglichkeiten Psychotherapie bei Menschen mit Lernschwierigkeiten bieten kann. Wie in meiner Forschungsarbeit festgestellt, wird der Kontakt zum Angebot der Psychotherapie meist durch das familiäre oder betreuende Umfeld hergestellt.
Um Psychotherapie bei Menschen mit Lernschwierigkeiten anbieten zu können, würde ich mir eine Erleichterung und niederschwelligen Zugang durch eine Kooperationen zwischen Psychotherapeut*innen im niedergelassenen Bereich und Einrichtungen der Behindertenarbeit wünschen. Damit könnte die Finanzierungsmöglichkeit des zusätzlichen zeitlichen und örtlichen Aufwand geklärt werden, wenn Psychotherapie in das bestehende Betreuungskonzept der Behindertenhilfe eingeflochten wird.
Um einen Transfer der Therapieziele in den Alltag der Menschen zu ermöglichen, braucht es zusätzlich Zeit für die Zusammenarbeit mit den Bezugspersonen. Momentan passiert dieser Austausch vor oder nach der Psychotherapie über Telefon, E‑mail oder auch persönlich beim Bringen und Holen der Klient*innen. Diese Zeitressourcen müssen von den Psychotherapeut*innen zur Verfügung gestellt werden. Diese Zeit kann aber nicht den Klient*innen verrechnet werden und hängt von der Bereitschaft und dem Engagement der Psychotherapeut*innen ab. Ebenso sieht es mit Hausbesuchen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten aus, die aufgrund von zusätzlichen körperlichen Einschränkungen wenig bis kaum zu Außenterminen kommen können. Die An- und Abreise wird entweder direkt den Klient*innen verrechnet, dies führt aber zu einer erheblichen Erhöhung der Therapiekosten und erschwert erneut für die Betroffenen den Zugang zum Therapieangebot.
Wenn es eine Möglichkeit der Klärung der zeitlichen und örtlichen Rahmenbedingungen gibt, wird es bestimmt auch mehr Psychotherapeut*innen geben, die sich vorstellen können, mit dieser Zielgruppe zu arbeiten.
Außerdem wünsche ich mir, dass schockierende Rückschritte, wie sie zum Beispiel durch die Corona-Pandemie ausgelöst wurden, nicht erneut geschehen, damit Menschen mit Lernschwierigkeiten ihre Möglichkeiten der Nutzung von Psychotherapie sowie alle anderen medizinischen und therapeutischen Angebote, nicht verlieren.
Notes
Die Interviewfragen stellte Gabriele Denk.
Literatur
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Erretkamps, A., Kufner, K., Schmid, S., & Bengel, J. (2017). Therapie-Tools. Depression bei Menschen mit geistiger Behinderung. Weinheim: Verlagsgruppe Beltz.
Hähner, U., Niehoff, U., Sack, R., & Walther, H. (2003). Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. Marburg: Lebenshilfe-Verlag.
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Hutter, C., & Schwehm, H. (2012). J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen. Wiesbaden: Springer VS.
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Snunit, M., & Golomb, N. (1986). Der Seelenvogel. Carlson.
Stelzig, M. (2018). Psychodramatische Übungen zur Nachreifung und Festigung der Selbstliebe. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 17(1), 69–80.
Wicher, M. (2012). „Schutz: kenne ich nicht...“ Die dreigeteilte Bühne bzw. der spezielle vorgegebene Bühnenaufbau als Intervention in der Psychodrama-Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 11(2), 255–267.
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Harb, A. Modifikationen im Monodrama bei Menschen mit Lernschwierigkeiten. Z Psychodrama Soziom (2024). https://doi.org/10.1007/s11620-024-00816-1
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