In diesem Kapitel werden weitere Theoriekonzepte und Begrifflichkeiten vorgestellt, welche grundlegend sind für die Analyse von Gesprächen und deshalb nicht nur in den Sprachwissenschaften, sondern auch in den Sozialwissenschaften grosse Beachtung gefunden haben. Die folgenden Ausführungen dienen als Vorbereitung für das Methodenkapitel. Es wird zuerst um die Sprechakttheorie und die Konversations- bzw. Gesprächsanalyse (vgl. Abschnitt 4.1) gehen, welche Teilgebiete der linguistischen Pragmatik sind, die selbst generell als Lehre vom Sprachhandeln bezeichnet werden kann, denn eine «Äusserung von sich geben» ist immer auch eine (soziale und konstitutive) Handlung. Danach folgen Definitionen von linguistischen Grundbegriffen wie Turn oder Gliederungssignal (vgl. Abschnitt 4.2), um sodann aufzuzeigen, dass Reden auch immer als Macht gedeutet werden kann. Die Möglichkeiten, sich innerhalb eines Gespräches hoch positionieren zu können, sind vielfältig, wie im Kapitel über Positioning/Positionszuweisungen geschildert wird (vgl. Abschnitt 4.3).

4.1 Sprechakttheorie und Konversations- bzw. Gesprächsanalyse

4.1.1 Sprechakttheorie

Die Sprechakttheorie, deren Begründer Austin und sein Schüler Searle waren, ist zugleich eine Sprechhandlungstheorie. Der Titel von Austins Hauptwerk, How to do things with words, welches posthum im Jahre 1962 veröffentlich wurde, bringt die zentrale Grundannahme bereits zum Ausdruck: Einen Satz äussern heisst, etwas tun. Mit einer Sprachhandlung, dem Sprechakt, vollzieht der Sprecher immer zugleich drei Handlungen: (1) den so genannten lokutionären Akt, der darin besteht, dass ich etwas sage, (2) den illokutionären Akt, den ich vollziehe, indem ich etwas sage, und (3) den perlokutionären Akt, durch den ich beim Hörer etwas bewirke (Austin, 1962/2002) oder bewirken will. Diese Fachbegriffe zur Differenzierung der Sprechakte haben ihre Bezeichnung von der lateinischen Sprache entlehnt. Loqui, loquor, locutus sum bedeutet sprechen, illoqui < „in-loqui“ im Akt des Sprechens sein, ihn vollziehen, indem ich etwas sage. Das Praefix per- von perloqui bedeutet, „etwas bis zum Ziel hin tun“, „vollständig“ tun. Hinter dieser Begrifflichkeit verbirgt sich eine Klimax: Der lokutionäre Akt bezeichnet «nur» den Sachverhalt der Äusserung, der illokutionäre Akt betont, dass der Sprecher damit auch etwas tut und der perlokutionäre Akt bezieht ausserdem den Adressierten ein, da bei ihm etwas bewirkt werden soll. Mit dem Satz „Morgen komme ich“, schildere ich einen Sachverhalt (ich komme morgen), verspreche zugleich, dass ich kommen werde, und bewirke, dass andere, nämlich der oder die Angesprochenen, weitere Handlungen vollziehen (morgen auch zu kommen oder zu Hause zu sein, wenn ich sie besuchen will) (Austin, 1962/2002). Die Worte oder Sätze, die in einer Äusserung gesagt werden, enthalten folglich nicht nur einen propositionalen Gehalt oder einen lokutionären Akt, sondern vollziehen zudem immer zugleich eine Handlung, einen illokutionären Akt. „So werden wir im Vollzug eines lokutionären Aktes auch einen Akt vollziehen wie etwa: eine Frage stellen […]“ (Austin, 1962/2002, S. 116). Der perlokutionäre Akt wird nicht in jeder Äusserung vollzogen, doch jede Äusserung ist lokutionär und illokutionär. Zu beachten ist, dass es keine klare Grenzziehung zwischen den verschiedenen Funktionen von Sprechakten gibt, sondern dass es vielmehr darum geht, worauf man gerade sein Augenmerk legt oder welcher Sprechakt in der Situation der zentrale ist (Austin, 1962/2002, S. 164) bzw. vom Angesprochenen als zentral empfunden wird. Die pädagogische Psychologie hat die Sprechakttheorie zur Kenntnis genommen und ausgebaut. Aebli (1981/1994, S. 330) kritisiert, dass der perlokutionäre Akt, also die Wirkung im Angesprochenen, schon als Teil des Sprechaktes definiert ist. Er spricht lieber von der vom Sprecher intendierten Wirkung. Austins Schüler Searle differenziert in seinem Grundlagenwerk Speech Acts (1969/2010) die einzelnen Sprechakte weiter, besonders die illokutionären Akte. Auch Aebli (1981/1994) definiert eine neue Untergruppe der Sprechakte, den „Sprechakt des Anleitens“ (1981/1994, S. 332). Dazu führt er aus, dass man über das Mittel der Sprache die Kompetenz eines anderen Menschen zu einem besseren Vollzug einer Handlung oder einer Operation, einer geistigen Handlung, verhelfen kann. Dies kann sofort geschehen, z. B. beim Bilderaufhängen, oder zu einem viel späteren Zeitpunkt: „Die Wirkungen, die hier ausgeübt werden, sind nicht immer so direkt wie bei den übrigen Sprechakten des Tröstens oder Drohens“ (Aebli, 1981/1994, S. 332). Die Wirkungen können sich auch erst durch eine Vielzahl von Sprechakten des Anleitens ergeben.

4.1.2 Konversations- und Gesprächsanalyse

Kritik erfuhr die Sprechakttheorie besonders wegen der Beschränkung auf die Betrachtung der einzelnen Äusserung, denn sie bezieht weder die Reaktion des Adressaten noch die Wechselwirkung der Gesprächsabfolge in die Analyse ein (Linke, Nussbaumer & Portmann, 2004). Die gesprächsanalytische Forschung geht auf diese Aspekte ein. Sie beschäftigt sich mit den verschiedenen (sprachlichen) Verhaltensweisen, die es mehreren Kommunikationsteilnehmenden ermöglichen, ein Gespräch zu einem oder mehreren Themen gemeinsam zu führen. Dabei werden organisatorische und strukturelle Aspekte des Miteinandersprechens aufgezeigt (Linke, Nussbaumer & Portmann, 2004, S. 294). Die gesprächsanalytische Forschung fokussiert je nach Forschungsteam und Sprachregion auf unterschiedliche Aspekte, bezieht jedoch jeweils die Erkenntnisse der anderen Stränge mit ein. Hier werden die Bezeichnungen Konversations- und Gesprächsanalyse gleichbedeutend verwendet, auch wenn im deutschen Sprachraum die Bezeichnung Gesprächsanalyse üblicher ist, weil der deutsche Begriff Konversation oft eine negative Konnotation beinhaltet und die Belanglosigkeit von Alltagsgesprächen impliziert (Linke, Nussbaumer & Portmann, 2004, S. 294). Ein entscheidender Grundlagenartikel der Konversationsanalyse stammt vom Autorenteam Sacks, Schegloff und Jefferson (1978 und stammt aus dem englischen Sprachraum, wo man diese Forschung ‚Conversation-Analysis‘ nennt. Es geht in diesem Ansatz klar nicht nur um informelle Alltagsgespräche ohne bedeutsamen sachlichen Inhalt, denn die Konversationsanalyse untersuchte von Anfang an auch institutionelle Gespräche (Bergmann, 2001, S. 919). Sacks, Schegloff und Jefferson (1978) interessierten sich v. a. für den Sprecherwechsel, das Turn-Taking (Bergmann, 2001). Die Konversationsanalyse ist von ihrer Herkunft her ein soziologischer Ansatz. Dies zeigt sich an ihrem strikt empirischen Zugang (Bergmann, 2001, S. 191), nämlich der Analyse von transkribierten Gesprächen. Der Ansatz untersucht die soziale Interaktion als einen fortwährenden Prozess der Hervorbringung und Absicherung sinnhafter sozialer Ordnung (Bergmann, 2001, S. 191). Er ist auf die Dialogizität von Sprache ausgerichtet, denn auch der einzelne Redezug bildet grundsätzlich keine monologische Einheit, sondern ist im Akt seiner Realisierung in hohem Masse interaktiv (Bergmann, 2001, S. 924): Es geht immer darum, die Äusserungen der Handlungspartner zu interpretieren, die situative Angemessenheit, Verständlichkeit und Wirksamkeit der eigenen Äusserungen herzustellen und das eigene Tun mit dem Tun der anderen zu koordinieren (Bergmann, 2001, S. 919). Die Gesprächsstrukturen, die analysiert werden, konzentrieren sich auf den handlungstheoretischen Aspekt und haben sich folglich auch von der Sprechakttheorie inspirieren lassen (Hagemann & Rolf, 2001). Die methodische Grundlage der Gesprächsanalyse für erziehungswissenschaftliche Studien ist in Deppermann (2008) dargelegt worden und wird in neueren Studien zur Unterrichtskommunikation oft angewendet.

Zentral bei allen Ansätzen ist das Beachten der Abfolge der Äusserungen, die sequenzielle Organisation von Redezügen, also die über die Erwartung erzeugte Verkettung aufeinanderfolgender Äusserungen. Jede Äusserung produziert für die ihr nachfolgende Äusserung eine kontextuelle Umgebung, die für die Interpretation der nachfolgenden Äusserung bedeutsam ist und deshalb von den Interagierenden bei der Interpretation und Produktion von Äusserungen beständig herangezogen wird. Diese „next-positionedness“ ist als Interpretationsfolie und kontextueller Rahmen von besonderer Bedeutung. Es wird im Gespräch – und in der Interaktion – immer ein sequenzieller Kontext aufgebaut (Bergmann, 2001, S. 922). Die Konversationsanalyse sieht die Interagierenden als kontextsensitive Akteure, die den Kontext ihres Handelns analysieren, mit Hilfe ihres Alltagswissens interpretieren und ihre Äusserungen auf diesen Kontext einstellen (Bergmann, 2001, S. 921). Auch die Konversationsanalyse verwendet den Begriff recipient design:

By ‘recipient design’ we refer to respects in which the talk by a party in a conversation is constructed in ways which display an orientation and sensitivity to the particular other(s) who are the co-participants. In our work, we have found recipient design with regard to word selection, topic selection, admissibility and sequences, options and obligations for starting and terminating etc. (Sacks, Schegloff, Jefferson, 1974, S. 727)

Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) betonen, dass die Handelnden bemüht sind, ihre Äusserungen spezifisch für ihre jeweiligen Handlungspartner – und deren Vorwissen – zuzuschneiden und damit deren Verständlichkeit sicherzustellen. Ein solcher Fokus passt ausgezeichnet zu Lehr-Lerndialogen, welche auf ein Scaffolding der Novizen ausgerichtet sind. Die Anpassung der Äusserungen der Sprechenden an die Zuhörenden, und damit im Unterrichtskontext besonders der Lehrperson als Expertin an die Lernenden, kann sich auf sehr unterschiedliche Aspekte beziehen wie z. B. auf die Wortwahl, auf die Auswahl der Themen, auf das Register bzw. die Höflichkeit der Sprache etc.

4.2 Grundbegriffe der Gesprächs- bzw. Konversationsanalyse

Die strukturelle Grundeinheit des Gespräches ist ein Gesprächsbeitrag, im Englischen als ‚turn‘ bezeichnet (Linke, Nussbaumer & Portmann, 2004). Im deutschen Sprach- und Kulturraum ist ebenso der Begriff ‚Äusserung‘ geläufig. In der Wissenschaftssprache kann zudem das aus dem Englischen stammende Fachwort ‚turn‘ gebraucht werden. Deshalb wird hier sowohl ‚Turn‘ als auch ‚Äusserung‘ oder ‚(Gesprächs)Beitrag‘ verwendet für dieselbe strukturelle Einheit. Einige Autoren nennen es Gesprächsschritt (Henne & Rehbock, 2001). Der Turn ist begrenzt durch die Äusserungen der anderen Sprecher. Die Definition des Turns von Kerbrat-Orecchioni (1990, S. 159) besagt, dass ein Turn (franz. tour de parole) sehr unterschiedlich lang sein kann, nämlich von einem einzigen Morphem bis zu einem längeren Monolog.

„… ‚tour de parole’ – ce terme désignant d’abord le méchanisme d’alternance, puis par métonymie, la contribution verbale d’un locuteur déterminé à un moment déterminé du déroulement de l’interaction (production continue délimitée par deux changements de tours, qui peut du reste avoir une longueur extrêmement variable, allant du simple morphème à l’ample „tirade“)“ (Kerbrat-Orecchini, 1990, S. 159).

Hier wird die Definition von Kerbrat-Orecchioni (1990, 1992, 1994) übernommen, welche im französischen Sprachraum lange führend war in der (Weiter)Entwicklung der Konversationsanalyse. Der Turn oder tour de parole bezeichnet in ursprünglicher Bedeutung das Wechselspiel der Gesprächsteilnehmenden. Ein einzelner Turn ist dabei eine zusammenhängende Äusserung eines einzelnen Gesprächsteilnehmenden.

In der linguistischen Gesprächsforschung wurde lange debattiert, was die kleinste Einheit einer Interaktion ist. Betrachtet man die kleinste kommunikative oder dialogische Einheit, dann wird oft die Zweiersequenz von Anrede und Erwiderung genannt oder diejenige von Gruss und Gegengruss. Diese Zweiersequenzen werden als Zugaustausch (französisch échange) bezeichnet (Hagemann & Rolf, 2001; Kerbrat-Orecchioni, 1990). Betrachtet man die erziehungswissenschaftliche Gesprächsforschung, dann wird die Dreiersequenz IRE (Initiation – Response – Evaluation) (Cazden, 1986; Mehan, 1979) als häufigstes Muster der Unterrichtskommunikation genannt. Es kommt folglich auch hier darauf an, was der Fokus der Forschung ist: Geht es um die kleinste Analyseeinheit von mündlichen Interaktionen oder um die häufigste Struktur der (Unterrichts)Gespräche?

Da in dieser Studie Lehr-Lernpolyloge untersucht werden und dabei besonders auf die Form und Funktion des Gesprächsaufbaus geachtet wird, folgen hier weitere Definitionen eines hierarchischen Models der Struktur von Gesprächen (Kerbrat- Orrechinoni, 1990). Neben dem Sprechakt als – kleinste – funktionelle und pragmatische Einheit (vgl. Abschn. 4.1.1), dem Turn als zusammenhängende Äusserung eines einzelnen Sprechers und dem (Zug)Austausch (engl. exchange, franz. échange) als – kleinste? – dialogische Einheit wird v. a. die Sequenz eine wichtige Rolle bei der Analyse von Problemlösegesprächen spielen. Als Sequenzen bezeichnet man semantisch und/oder pragmatisch verbundene Gesprächsausschnitte (Kerbrat- Orrechinoni, 1990, S. 218). Sie sind meist an Eröffnungs- und/oder Schlusssignalen, den so genannten Gliederungssignalen, erkennbar (Gülich, 1970). Sie können durch thematisch unabhängige Nebengespräche unterbrochen oder durch untergeordnete Nebensequenzen verlängert werden. Es kommt auch hier darauf an, welchen (thematischen) Aspekt man gerade untersucht.

Eine weitere linguistische Einheit ist die intervention, welche als thematisch zusammenhängender Beitrag eines einzelnen Sprechers innerhalb eines échanges definiert wird. Die intervention muss nicht zwingend mit dem Turn übereinstimmen, denn ein Turn kann z. B. auch den Schluss des ersten échange und den Anfang des zweiten enthalten (Kerbrat- Orrechinoni, 1990, S. 225). Als klassisches Beispiel wird oft der Anfang von Alltagsgesprächen genannt: Salut! – Salut, / ça va? – Oui, ça va. Diese drei Turns enthalten zwei échanges, nämlich Gruss und Gegengruss und Frage und Antwort. Der zweite Turn besteht aus zwei interventions (Kerbrat- Orrechinoni, 1990, S. 225). Verfeinert man die Analyse wie es die so genannten. Genfer Gesprächsanalyse macht, so können auch échanges und interventions unterbrochen und wieder aufgenommen werden (Moeschler, 1985).

Im folgenden Abschnitt wird auf die linguistische Grundlage für die Sequenzeinteilungen in Gesprächen eingegangen, nämlich auf die Gliederungssignale. Gesprochene Sprache findet unter grundsätzlich anderen Voraussetzungen und Bedingungen statt als schriftliche Kommunikation (Gülich, 1970). So sind z. B. Satzzeichen, welche in schriftlichen Texten den Informationsfluss gliedern, nicht hörbar. Die Linguistik hat ab ca. 1960 begonnen, die mündliche Sprache als eine spezifische Sprache zu untersuchen und ist dabei auf besondere Wörter gestossen, welche sie je nach Forscherteam als Gesprächswörter (Henne, 1978) oder Diskurspartikel (Schiffrin, 1987) bezeichnet. Diese Partikel haben strukturelle und interaktionsstrategische Funktionen. Am besten untersucht sind die Gliederungssignale. Gülich (1970) hat den Begriff als erste definiert und herausgefunden, dass es neben der Intonation und den Pausen auch Wörter gibt, welche unmittelbar vor oder nach einem Satzzeichen stehen (Gülich, 1970, S. 8). Diese Wörter haben folglich die textgliedernde Funktion für die mündliche Sprache übernommen (Gülich, 1970, S. 9). Die Gliederungssignale können folgendermassen definiert werden:

„Gliederungssignale, auch als Diskursmarker bezeichnet, organisieren und strukturieren Kommunikation. Sie zählen zu den Gesprächswörtern und sind Bestandteil der Alltagsrede. Sie gliedern eine Rede in einzelne Sinneinheiten oder Diskursabschnitte, markieren Anfang, Ende und Absätze eines Abschnittes. Zusätzlich finden sie Verwendung innerhalb eines Redebeitrags als Gliederung (Themenwechsel, neue Informationen) und zur Veranschaulichung. In der Gesprächsanalyse zählt das Gliederungssignal zu den zentralen Kategorien. Die Konversationsanalyse bezieht noch weitere Merkmale ein wie etwa informationsverstärkende und bestätigungsheischende Partikeln wie ne, nich, nicht, wa, gell, ja und also, ich meine, ich glaube usw. [und] prosodische Merkmale wie Tonhöhenverlauf und Sprechpausen (Wikipedia, Gliederungssignale; abgerufen am 3.11.2019).

Die Gliederungssignale weisen auf Themenwechsel hin und markieren den Anfang und das Ende eines Abschnittes. Sie können deshalb – im Hinblick auf die Forschungsmethodik – analysiert bzw. nach ihrer Häufigkeit ausgezählt werden. Die Häufigkeit der Gliederungssignale eines Sprechers kann als Signal für ein hohes Positioning gewertet werden. Der Gesprächsteilnehmende, welcher viele Gliederungssignale einbringt, hat viel Macht in Bezug auf die Organisation und die Themenauswahl des Gespräches. Gliederungssignale erfüllen zudem weitere Funktionen für den Hörer und den Sprecher (Vergewisserung, Werbung um Zustimmung, Aufmerksamkeitssteuerung). Während der Hörer sie als Orientierungshilfen nutzt, dienen sie dem Sprecher als Planungs- und Formulierungshilfen (Bublitz, 2001).

4.3 Hierarchische Struktur der Lehr-Lerngespräche und Positioning

Lernende sollten im Erwerbsprozess mit weitreichender Aktivität und Handlungsfähigkeit (engl. agency) ausgestattet sein, damit sie den Stoff so tief verstehen, dass sie ihn auch unter neuen Gegebenheiten anwenden, d. h. adaptieren und anpassen können (Greeno, 2006). Dies gelingt am ehesten dann, wenn sich die Lernenden im Problemlöseprozess als handlungsfähige Autoren und Autorinnen, als Urheber und Urheberinnen ihrer Vorgehensweise empfinden. Greeno (2006) bezeichnet das Vorgehen von Lehrpersonen im Unterricht, durch das die Schülerinnen und Schüler in diese Lage versetzt werden, als authoritative and accountable positioning. Er empfiehlt für eine solche Interaktion mit lernförderlichen Positionszuweisungen an die Schüler und Schülerinnen folgende Lehrpersonenhandlungen: “[…] draw attention to aspects of interaction such as crediting individuals with authorship, initiating ideas and topics, and challenging or questioning what others say” (Greeno, 2006, S. 538). Er zieht eine Referenz zu den soziolinguistischen Studien der Unterrichtsforschung und zu den Begriffen des agency, positioning und positional identity (Greeno, 2006). Schüler und Schülerinnen müssen lernen, wie man mit vollständiger Handlungsfähigkeit in einem Stoffgebiet agiert (conceptual agency, Greeno, 2006, S. 539). Dies kann am besten erlernt werden, wenn die Lernenden schon beim Erwerben des Themenbereichs auch die Handlungsfähigkeit, also den Umgang mit dem Stoff und die Anwendung, trainieren. In Bezug auf den Erwerb von kognitiven Fähigkeiten kann dies im aktiven Teilnehmen am Lehr-Lerngespräch geschehen. Indem die Schüler und Schülerinnen in den Unterrichtsgesprächen substanzielle Beiträge liefern und sich dessen auch bewusst sind, erwerben sie nicht nur den Stoff, sondern auch eine Vorgehensweise für den Problemlöseprozess.

Mit dieser Betonung von authorship und accountable positioning besteht ein Bezug zum Produktdesign von Krummheuer und seinen Mitarbeitenden (vgl. u. a. Krummheuer & Brandt 2001; vgl. Abschnitt 3.3.2), bei dem die Verantwortlichkeit der jeweils Sprechenden für ihren Redebeitrag aufgeschlüsselt wird, und zum Ansatz von Resnick und ihren Mitarbeitenden (vgl. u. a. Michaels, S., O’Connor, M.C. & Hall, M.W. with Resnick, L.B., 2002; vgl. Abschnitt 3.3.3), dem sogenannten Accountable Talk, welcher versucht, den Lehrpersonen Redezüge zu vermitteln, damit die Lernenden im Unterrichtsdialog mehr Verantwortlichkeiten sowohl für die Gemeinschaft der Lernenden als auch für die Exaktheit des Stoffes und für folgerichtiges Argumentieren erwerben.

Im folgenden Abschnitt wird auf die linguistischen Erkenntnisse der Positionszuweisungen innerhalb des Dialogablaufes, also auch des Lehr-Lerngespräches, eingegangen. In der französischsprachigen Konversationsanalyse spricht man vom „système des places“ (Kerbrat-Orecchioni, 1992, p. 71). Die Gesprächspartner weisen sich, neben dem, was sie sagen, immer auch gegenseitig eine Position zu. Es geht dabei um Macht innerhalb der Gesprächsführung, um Redemacht, um Befehls- oder Anweisungsrecht, oder auch darum, wer die Gesprächsthemen bestimmen darf. Sowohl in Alltagsgesprächen als besonders auch in institutionellen Dialogen herrscht zwischen den Gesprächspartnern zumeist eine vertikale Hierarchie vor:

„Qu’on l’appelle „pouvoir“, „rang“, „autorité“, „dominance“ ou „domination“ [...] ou bien encore „système des places [...], cette dimension renvoie à l’idée qu’au cours du déroulement de l’interaction, les différents partenaires peuvent se trouver placés en un lieu différent sur cet axe vertical invisible qui structure leur relation interpersonnelle. On dit alors que l’un d’entre eux se trouve occuper une position „haute“, de „dominant“, cependant que l’autre est mise en position „basse“ , de „dominé“. [...] la distance verticale est de nature graduelle“ (Kerbrat-Oreccioni, 1992, p. 71, kursive Hervorhebungen im Original, fettgedruckte Hervorhebungen von der Autorin).

In Bezug auf die eine oder die andere Ebene (Organisation, Thematik) sind die Gesprächsteilnehmenden nie vollumfänglich gleichberechtigt. Diese Hierarchie ist graduell. Es gibt im Sprachsystem und im Gesprächsvorgang einige Zeichen und Anzeichen, welche die Positionen der Gesprächsteilnehmenden aufzeigen oder andeuten. Mit dem Begriff «Anzeichen» sind versteckte Hinweise gemeint, wie z. B., welcher Interaktionspartner das Recht hat, das Gespräch abzubrechen; mit dem Begriff «Zeichen» sind ganz konkrete Ausdrücke gemeint, wie z. B. höfliche Anredepartikel mein Herr; Herr Lehrer, oder Formulierungen, welche um Sprecherlaubnis bitten wie darf ich etwas fragen? Diese (An)zeichen werden im Französischen «placèmes» oder «taxèmes» genannt: „[…] que j’appellerai […] taxèmes, lesquelles sont à considérer la fois comme des indicateurs de places […], et des donneurs de places“ (Kerbrat-Orecchioni, 1992, p. 75, kursive Hervorhebungen im Original, fettgedruckte Hervorhebungen von der Autorin).

Besonders zentral an all diesen Überlegungen ist, dass die Positionierungen nicht von vornherein gegeben sind. Sie können sich innerhalb des Gesprächsablaufs ständig ändern bzw. sich erst innerhalb des Gespräches etablieren.

[...] le système des places ne se réduit pas aux données contextuelles, mais il dépend aussi de ce qu’en font les interactants, et de ce qui se passe tout au long de l’interaction. Les comportement langagiers peuvent certes refléter certains relations de pouvoir existant a priori entre les interactants, mais ils peuvent aussi les confirmer, les contester, les constituer (Kerbrat-Orecchioni, 1992, p. 74, kursive Hervorhebungen im Original, fettgedruckte Hervorhebungen von der Autorin)

Dies gilt auch, wenn eine (institutionell) hierarchische Ordnung der Gesprächspartner gegeben ist wie in einer Unterrichtskommunikation. Die Lehrperson ist aufgrund ihrer institutionellen Rolle (Amtsautorität, vgl. Apel, 2002) und ihrem Wissen (Sachautorität, vgl. Apel, 2002) höher gestellt als ihre Lernenden. Dies kann sich jedoch ändern, beispielsweise wenn die Lernenden im Unterricht einfach nicht mitmachen wollen. Denn dann bekunden die Schüler und Schülerinnen, dass sie die Macht haben. Die Situation kann sich auch ändern, wenn die Lehrperson bewusst versucht, die Lernenden als gleichberechtigte Partner und Partnerinnen teilhaben zu lassen und ihnen die Verantwortung für einen gewissen Inhaltsbereich oder für die Organisation ihrer Lernprozesse übergibt. Ein typisches Beispiel, welches die Macht anzeigt, ist die Redemenge. Empirische Studien haben die Redemacht der Lehrperson schon oft bestätigt (Pauli & Lipowsky, 2007). Die TIMS-Videostudie (Stigler et al., 1999) zeigte für Deutsche Lehrpersonen im Mathematikunterricht auf, dass der Anteil der Lehreräusserungen bei 69 % liegt. Auch Seidel (2003) zeigte auf, dass im Physikunterricht 60 % aller verbalen Äusserungen von der Lehrperson stammen. Desgleichen bestätigt Ackermann in ihrer kleinen Studie über Klassengespräche im Mathematikunterricht an der Grundschule, dass „die Lehrperson über mehr Redebeiträge im öffentlichen Unterricht verfügt als alle Schüler einer Klasse zusammen“ (Ackermann, 2011, S. 58). Ein weiteres einleuchtendes Beispiel für die Machtverteilung im Lehr-Lerngespräch ist auch das Meldeverfahren. Ob ein Sprechender selbst das Wort ergreift oder fremdbestimmt warten muss, bis ihm das Wort erteilt wird, weist auf eine ganz andere Position hin.