Zusammenfassung
Die technische Zusammenfassung richtet sich an das Fachpublikum und fasst die wichtigsten Ergebnisse des Berichtes zusammen, ohne aber alle Details auszuführen. Jedes Kapitel wird auf ungefähr zwei Seiten zusammengefasst. Hierbei wird bei den relevanten Aussagen eine Bewertung mit Hinblick auf Übereinstimmung und Literaturbasis angeführt. Im Unterschied zur Zusammenfassung für Entscheidungstragende wird auch die Literatur angeführt.
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Ernest Aigner, Christoph Görg, Astrid Krisch, Verena Madner, Andreas Muhar, Andreas Novy, Alfred Posch und Karl W. Steininger.
FormalPara Leitautor_innenLisa Bohunovsky, Jürgen Essletzbichler, Karin Fischer, Harald Frey, Willi Haas, Margaret Haderer, Johanna Hofbauer, Birgit Hollaus, Andrea Jany, Lars Keller, Klaus Kubeczko, Michael Miess, Michael Ornetzeder, Marianne Penker, Melanie Pichler, Ulrike Schneider, Barbara Smetschka, Reinhard Steurer, Nina Svanda, Hendrik Theine, Matthias Weber und Harald Wieser.
FormalPara ZitierhinweisAPCC (2023): Technische Zusammenfassung. [Aigner, E., C. Görg, A. Krisch, V. Madner, A. Muhar, A. Novy, A. Posch, K. W. Steininger, L. Bohunovsky, J. Essletzbichler, K. Fischer, H. Frey, W. Haas, M. Haderer, J. Hofbauer, B. Hollaus, A. Jany, L. Keller, A. Krisch, K. Kubeczko, M. Miess, M. Ornetzeder, M. Penker, M. Pichler, U. Schneider, B. Smetschka, R. Steurer, N. Svanda, H. Theine, M. Weber und H. Wieser]. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben) [Görg, C., V. Madner, A. Muhar, A. Novy, A. Posch, K. W. Steininger, E. Aigner (Hrsg.)]. Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg.
Vorwort zur technischen Zusammenfassung
In der vorliegenden technischen Zusammenfassung werden die wesentlichen Aussagen der Kapitel des APCC SR Strukturen für ein klimafreundliches Leben zusammengefasst. Der Bericht bewertet auf Basis wissenschaftlicher Literatur unterschiedliche Ansätze zur Transformation von Strukturen, damit klimafreundliches Leben in Österreich dauerhaft möglich und rasch selbstverständlich wird.
Der Weltklimarat der Vereinten Nationen (IPCC) kam 2018 in seinem Sonderbericht „1,5 °C globale Erwärmung“ zum Schluss, dass „nie dagewesene, rapide Veränderungen aller gesellschaftlicher Bereiche“ erforderlich sind, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen und einen Klimawandel mit weltweit katastrophalen Auswirkungen zu vermeiden (IPCC, 2018). In Folge sind menschliches Wohlbefinden und planetare Gesundheit wie auch darauf beruhende menschliche Zivilisationen durch die Klimakrise bedroht (IPCC, 2022a, SPM-WGII).
Das Austrian Panel for Climate Change (ACRP, 2019) hat vor diesem Hintergrund beschlossen, einen Sachstandsbericht über Strukturen für ein klimafreundliches Leben in Österreich zu beauftragen. Ziel dieses Sachstandsberichts ist es, den hierfür relevanten Stand der Wissenschaft zu erfassen und zu reflektieren, welche strukturellen Veränderungen für ein klimafreundliches Leben in Österreich erforderlich sind.
Im Fokus steht dabei die Frage, welche Strukturen in Österreich nach dem aktuellen Stand der Forschung verändert und wie sie gestaltet werden müssen, um klimafreundliches Leben rasch und dauerhaft möglich und selbstverständlich zu machen. Diese Frage wird mithilfe von vier Unterfragen in den jeweiligen Kapiteln behandelt:
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1.
Wie beschreibt die für das Kapitel relevante Literatur den Status quo sowie die Dynamiken gegenwärtigen Wandels und welche speziellen Ziele und Herausforderungen ergeben sich nach der Literatur aufgrund der Klimakrise?
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2.
Welche Veränderungen werden in der für das Kapitel relevanten Literatur als (unbedingt) notwendig angesehen, um eine klimafreundliche Lebensweise zu ermöglichen?
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3.
Wer bzw. was sind laut der für das Kapitel relevanten Literatur treibende und hemmende Kräfte, Strukturen oder Akteur_innen für und gegen die notwendigen Veränderungen für ein klimafreundliches Leben? Welche Konflikte werden genannt?
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4.
Welche Handlungsmöglichkeiten bzw. Gestaltungsoptionen finden sich in der für das Kapitel relevanten Literatur für die Durchsetzung notwendiger Veränderungen für eine klimafreundliche Lebensweise?
Die technische Zusammenfassung richtet sich an das Fachpublikum und gibt den Bericht in stark gekürzter Form wieder. In Teil 1 des Berichts erläutert die Einleitung das Verständnis grundlegender Begriffe und gibt einen Überblick über Emissionsentwicklungen, Kap. 2 stellt vier Perspektiven zur Gestaltung von Strukturen vor. In Teil 2 wird (nach einer Einleitung) klimafreundliches Leben in sechs verschiedenen Handlungsfeldern untersucht. Teil 3 gibt (nach einem kurzen Überblick) die Analyse von zwölf verschiedenen Strukturbedingungen zusammenfassend wieder und in Teil 4 werden die aktuelle Forschung zu Transformationspfaden sowie Szenarien zusammengefasst und die Gestaltungsoptionen im Bericht entlang von Transformationspfaden und Ansatzpunkten systematisiert.
Entwicklung des Berichts
Der vorliegende Bericht ist ein „Assessment Report“ (dt.: Sachstandsbericht), an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik (am Science-Policy Interface – SPI) bzw. zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Ziel des Sachstandberichts ist es, den aktuellen Stand des Wissens zu einer bestimmten Fragestellung bewertend zusammenzufassen und neben der Einschätzung von Aussagen zu dem jeweiligen Themenfeld auch Forschungslücken aufzuzeigen.
Der Bericht wurde in einem dreistufigen Prozess entwickelt, als dessen Teil Begutachtungen, Autor_innen- und Stakeholder-Workshops stattfanden. Die jeweiligen Versionen (Zero-, First-, Second-Order-Draft) wurden von nationalen und internationalen Wissenschafter_innen und Stakeholdern kommentiert und begutachtet. Die Einarbeitung der Kommentare wurde am Ende des Prozesses durch Review Editor_innen geprüft. Gesamt verfassten die knapp 200 Reviewer_innen in etwa 4000 Kommentare. Der Stakeholderprozess umfasste drei Workshops mit gesamt über 100 Teilnehmer_innen und Entscheidungsträger_innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Dieser wurde durch ein eigenes Team durchgeführt und begleitet. Die Workshops halfen den Autor_innen, relevante Fragestellungen zu identifizieren und so mit der Bewertung der Literatur besser zur öffentlichen Debatte zum klimafreundlichen Leben beizutragen.
Der Sachstandsbericht bewertet wissenschaftliche Literatur, wobei Forschungsergebnisse der Politik-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften, der Soziologie, der Rechtswissenschaft und weiteren Sozial- und Naturwissenschaften aufgegriffen wurden. Die Bewertung von Aussagen im Bericht wurde entlang von zwei Maßstäben vorgenommen: (1) ob die relevante Literatur in ihren Einschätzungen einer Aussage übereinstimmt (niedrige, mittlere, hohe Übereinstimmung) und (2) wie umfangreich und qualitativ hochwertig die Literaturbasis, die für die Bewertung der Aussage herangezogen wird, ist (schwache, mittlere, starke Literaturbasis) (Abb. TZ.2). In diesem Bericht wird statt des bisher üblichen Begriffs „Beweislage“ der Begriff „Literaturbasis“ verwendet, da dieser mit allen in diesem Bericht vertretenen Perspektiven kompatibel ist. Die Literaturbasis umfasst nicht nur die Quantität der Literatur, sondern es wird – bezogen auf die Beweislage – auch die Qualität der jeweiligen Literatur bewertet. Aus der Kombination der beiden Kriterien ergibt sich das Vertrauen in eine Aussage, dieses wird allerdings nicht extra angeführt.
Teil 1: Klimafreundliches Leben und Perspektiven
Kapitel 1: Einleitung: Strukturen für ein klimafreundliches Leben
Die Einleitung gibt zuerst das Verständnis der zentralen Begriffe wieder (klimafreundliches Leben, Strukturen sowie Gestalten von Strukturen). Diese fungieren als Vermittler zwischen verschiedenen Milieus, Diskursen, Werthaltungen und Disziplinen (Star & Griesemer, 1989). Weiters gibt die Einleitung einen Überblick über die Rolle unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteur_innen. Darauf folgt ein Überblick über aktuelle Entwicklungen und die Verteilung klimaschädigender Emissionen mithilfe unterschiedlicher Maßzahlen (produktions- sowie konsumbasiert) und entlang unterschiedlicher Verteilungen (Wirtschaftssektoren, Güter, Aktivitäten und Einkommensverteilung).
Klimafreundliches Leben, Strukturen und Gestalten von Strukturen
Dem Bericht liegt folgendes Verständnis von klimafreundlichem Leben zugrunde: Klimafreundliches Leben sichert dauerhaft ein Klima, das ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen ermöglicht. Wenn klimafreundliches Leben der Normalfall wird, führt dies zu einer raschen Reduktion der direkten und indirekten THG-Emissionen und belastet das Klima langfristig nicht. Klimafreundliches Leben strebt danach, eine hohe Lebensqualität bei Einhaltung planetarer Grenzen für alle Menschen zu erreichen. Es geht um ein gutes und sicheres Leben nicht nur für einige Menschen, sondern für alle, in Österreich und global. In diesem Sinne sind die Deckung aller Bedürfnisse und Gerechtigkeit Teil klimafreundlichen Lebens und der Bezug zu anderen sozialen und ökologischen Zielen (z. B. UN-Nachhaltigkeitszielen) ist wesentlich.
Im Bericht sind Strukturen jene Rahmenbedingungen und Verhältnisse, in denen das tägliche Leben stattfindet. Der Strukturbegriff wird unterschiedlich verstanden und definiert; es gibt dazu umfassende und langwährende sozialwissenschaftliche Diskussionen (vergleiche Archer, 1995; Bhaskar et al., 1998) und jede Strukturtheorie verwendet eigene Konzepte und Methoden, um Strukturen zu identifizieren, zu analysieren und ihre Wirkungen zu bewerten (vergleiche Bhaskar et al., 1998). Strukturen sind tendenziell dauerhaft angelegte und langfristig wirksame Phänomene. Sie werden zwar durch soziale Handlungen aufrechterhalten, haben aber eine eigenständige Existenz, das heißt sie bleiben vielfach auch unabhängig davon bestehen (z. B. unabhängig davon, ob Einzelne mit Gas heizen, gibt es Pipelines) und sind über die Zeit relativ stabil. In der Literatur zum klimafreundlichen Leben findet sich eine Vielzahl an Theorien und Mechanismen, wie Strukturen auf Handeln wirken, wie sie fortbestehen und sich verändern (Røpke, 1999; Schor, 1991; Shove, Trentmann, & Wilk, 2009; Stoddard et al., 2021). Es kann unter anderem zwischen immateriellen (z. B. Institutionen, vergleiche Gruchy, 1987; Hodgson, 1989; Vatn, 2005) und materiellen Strukturen (z. B. Leitungen) unterschieden werden.
Gestalten von Strukturen für ein klimafreundliches Leben bedeutet gezieltes und koordiniertes Vorgehen, das am Allgemeinwohl orientiert ist, sich der Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse bewusst ist, Interessen verhandelt und Veränderungen demokratisch legitimiert umsetzt. Strukturen für ein klimafreundliches Leben zu gestalten, erfordert im Vorfeld die Problematisierung bestehender Strukturen, die klimaschädliches Leben fördern und klimafreundliches behindern (vergleiche Chaps. 2, 12, 24–28). Aufgrund der umfassenden Herausforderung ist allerdings kontinuierliches Verändern und Umgestalten von Strukturen über die nächsten Jahrzehnte hinweg notwendig (IPCC, 2022b). Dieses muss in vielen Fällen ein Bündel an integrierten Maßnahmen umfassen, um die erwünschten Ergebnisse zu erreichen (Plank et al., 2021a). Dies erfordert verbindliche Entscheidungen, die etwaige klimaschädliche Strukturen und entsprechende Routinen und Praktiken auch aktiv ausschließen (Hausknost & Haas, 2019).
Klimapolitische Herausforderungen im Kontext anderer politischer Zielsetzungen
Für die Erreichung klimapolitischer Ziele, wie das im österreichischen Regierungsprogramm 2020–2024 festgelegte Ziel der Klimaneutralität bis 2040, die EU-Klimaziele oder die THG-emissionsreduktionszusagen im Rahmen des Pariser Klimavertrags, ist die Umgestaltung der Strukturen zentral, sodass diese ein klimafreundliches Leben begünstigen. Denn falls aktuelle Emissionstrends weiter bestehen und keine umfassenderen Maßnahmen ergriffen werden, werden diese angestrebten Ziele verfehlt (European Environment Agency, 2019; IPCC, 2022b; Kirchengast & Steininger, 2020; Tagliapietra, 2021; Umweltbundesamt, 2020a).
Mit Blick auf die Zeit und nach der territorialen oder produktionsbasierten Perspektive entstanden in Österreich 2019 rund 80 Megatonnen CO2-Äquivalent (CO2-eq) (Abb. TZ.3). Der Höhepunkt der territorialen bzw. produktionsbedingten Emissionen lag in der Mitte der 2010er Jahre bei ca. 90 Megatonnen CO2-Äquivalent. Die CO2-Emissionen verlaufen weitgehend parallel zu den THG-Emissionen in Österreich. Auch das Verhältnis von konsum- zu produktionsbasierten THG-Emissionen war für Österreich in den letzten beiden Jahrzehnten stabil.
Historisch und aktuell anfallende klimaschädliche Emissionen können je nach Bilanzierungsansatz verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen oder Akteur_innen zugerechnet werden (Steininger et al., 2016; Williges et al., 2022, Steininger et al., 2022). Bei der produktionsbasierten Zurechnung fielen gesamt im Jahr 2014 in Österreich 76 Megatonnen CO2-Äquivalent an; davon fielen rund 20 Prozent direkt bei den Haushalten an, 30 Prozent konnten Gütern zugeordnet werden, die in Österreich konsumiert wurden, und 50 Prozent entstanden für Güter, die Österreich exportiert (siehe Abb. TZ.3). Bei der endverbrauchs- oder konsumbasierten Berechnung lagen die Emissionen 2014 bei ca. 112,5 Megatonnen CO2-Äquivalent und damit um 47 Prozent höher als die produktionsbasierten Emissionen. Rund 40 Megatonnen CO2-Äquivalent fallen für Güter an, die in Österreich produziert und nachgefragt werden oder durch direkte Verbrennung von Energieträgern bei den Haushalten entstehen.
Die Zuordnungen der Emissionen zu Wirtschaftsbereichen (produktionsbasiert) oder zu Gütern (konsumbasiert) zeigt große Unterschiede (Abb. TZ.4): Nach Wirtschafsbereichen fällt etwa ein Drittel der Emissionen in der produzierenden Industrie an (25 Megatonnen CO2-Äquivalent). Mehr als die Hälfte davon können der Stahlindustrie und Metallverarbeitung (14 Megatonnen CO2-Äquivalent) zugeordnet werden, allerdings haben auch die Herstellung von Zement (4 Megatonnen CO2-Äquivalent) und von Computer- und elektronischen Produkten (4 Megatonnen CO2-Äquivalent) einen wesentlichen Anteil. Betrachtet man konsumbasierte Emissionen nach Güterart, fallen Emissionen in erster Linie in der Warenproduktion (41 Megatonnen CO2-Äquivalent), dem Bau- und Wohnungswesen (14 Megatonnen CO2-Äquivalent), für private Dienstleistungen (12 Megatonnen CO2-Äquivalent), öffentliche Dienstleistungen (9 Megatonnen CO2-Äquivalent) und Verkehr (8 Megatonnen CO2-Äquivalent) an. Ein wesentlicher Teil dieser Emissionen fällt allerdings im Ausland an.
Auf den Konsum der Haushalte entfallen dabei knapp zwei Drittel (62 Prozent) der konsumbasierten Emissionen Österreichs (Nabernegg, 2021; Muñoz et al., 2020; Steininger et al., 2018). Die konsumbasierten Emissionen sind auch unter den Haushalten ungleich verteilt (Ivanova et al., 2018; Wiedenhofer et al., 2018), was sich sowohl durch die Menge als auch durch die Zusammensetzung der Nachfrage erklärt. Einen wesentlichen Einfluss auf die Höhe der Emissionen hat das Einkommen der jeweiligen Haushalte (Abb. TZ.5 rechts), aber auch die räumliche Verteilung – konsumbasierte Emissionen im städtischen Umland sind besonders hoch (Muñoz et al., 2020). Mit der Analyse der Zeitnutzung kann die Klimarelevanz des Alltagslebens besser verstanden und Potenziale und Grenzen für zeit- und nachfrageseitige Beiträge zur Dekarbonisierung erfasst werden (Creutzig et al., 2021; Jalas & Juntunen, 2015; Wiedenhofer et al., 2018).
Kapitel 2: Perspektiven zur Analyse und Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens
Kap. 2 systematisiert entlang von vier Perspektiven in den Sozialwissenschaften weit verbreitete Theorien zur Analyse und Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens. Das Kapitel möchte Leser_innen des Berichts bewusst machen, mit wie grundlegend unterschiedlichen Zugängen Forscher_innen Strukturen klimafreundlichen Lebens analysieren. Dies ist wichtig, um zu verstehen, dass es nie nur eine, sondern immer mehrere Perspektiven auf Strukturen klimafreundlichen Lebens gibt. Dieses Bewusstsein hilft, die Komplexität der Sozialwissenschaften und damit die Komplexität der Aufgabe – Strukturen für ein klimafreundliches Leben zu gestalten – zu erfassen. Unterschiedliche Zugänge zu sehen, bedeutet auch, ein besseres Verständnis von konfligierenden Problemdiagnosen, Zielhorizonten und Gestaltungsoptionen zu entwickeln und – idealerweise – damit umgehen zu können.
Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen mit Blick auf die Klimakrise sind vielfältig, dennoch lassen sich vor dem Hintergrund wirtschafts-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Debatten vier Hauptperspektiven identifizieren: Markt-, Innovations-, Bereitstellungs- und Gesellschaft-Natur-Perspektive (mittlere Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Es gibt keine Theorien, Modelle und Heuristiken, die alle Dimensionen eines Wandels in Richtung Strukturen klimafreundlichen Lebens sowie deren Gegenspieler adäquat erfassen. Jedoch öffneten sich in den letzten Jahren zahlreiche sozialwissenschaftliche Ansätze für die Analyse klimaunfreundlichen Lebens, insbesondere Praxistheorie, Innovationstheorien und Theorien von Bereitstellungssystemen, und für Fragen der Gestaltung klimafreundlichen Lebens. Daher bietet der Bericht die Chance, wissenschaftliche Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Annahmen, Werkzeugen und Wertvorstellungen gegenüberzustellen. So können möglichst viele Dimensionen von Strukturen klimaunfreundlichen Lebens sowie deren Transformation erfasst werden.
Marktperspektive
Aus der Marktperspektive sind Preissignale, die klimafreundliche Konsum- und Investitionsentscheidungen fördern, zentral für klimafreundliches Leben. Wenn es passende Rahmenbedingungen gibt, die Märkte klimafreundlich regulieren, dann tragen Verursacherprinzip und Kostenwahrheit zur Dekarbonisierung bei (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Gestalten als koordiniertes Handeln ist in dieser Perspektive das Setzen klimafreundlicher wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen, insbesondere durch Anreizsysteme (Baumol & Oates, 1975). Auch die verhaltensökonomische Forschung betont die zentrale Bedeutung passender Rahmenbedingungen, das heißt Strukturen für klimafreundliche Wahlentscheidungen. Diese sollen Anreize zu Veränderungen in Richtung eines klimafreundlichen Lebens setzen, indem sie emissionsärmere Verhaltensweisen vorzugswürdiger machen (Thaler & Sunstein, 2008) oder diese überhaupt als Ausgangszustand („Default“) herstellen.
Weitergehende Änderungen der Rahmenbedingungen ergeben sich daher durch geänderte Entscheidungsarchitekturen (wie beispielsweise auch Verbote), die die Verfügbarkeit und Hierarchie von Optionen verändern (z. B. durch längerfristige Ausstiegspläne für fossile Produkte bzw. Produktionen). Die Ansätze der Verhaltensökonomik ergänzen vermehrt das rationale Entscheidungsmodell, wo an die Stelle des vollkommen informierten „homo oeconomicus“ Menschen mit Werthaltungen und Gewohnheiten treten, die Umweltwissen in das Nutzenkalkül miteinbeziehen (Daube & Ulph, 2016).
All dies führt zu weniger eindeutigen Vorhersagen über Marktergebnisse. Forderungen nach nachhaltigem Konsum als Kernbestandteil klimafreundlichen Lebens stützen sich auf diese Perspektive ebenso wie Forderungen zur Internalisierung externer Effekte und nach einer ökosozialen Steuerreform („to get the prices right“) (wie beispielsweise Akerlof et al. (2019) zur CO2-Bepreisung).
Auch zeigen Studien, dass es durch Substitution klimaschädlicher Technologien und gesamtwirtschaftlicher Effizienzsteigerungen zur Dekarbonisierung kommt, sobald Investitionen in emissionsärmere Technologien und eine Änderung der Konsummuster aus Sicht individueller Entscheidungsträger_innen vorteilhaft sind (Kaufman et al., 2020). Richtige Bepreisung ermöglicht nach dieser Perspektive auch eine Entkoppelung von CO2-Emissionen und Wirtschaftswachstum.
Innovationsperspektive
In der Innovationsperspektive steht die Wirkung unterschiedlicher Formen von Innovation und deren Anwendung auf die soziale und wirtschaftliche Praxis im Vordergrund und damit auf die Umwelt, auf klima(un)freundliches Leben und Wirtschaften. Der Fokus wird auf soziotechnische Erneuerung von Produktions- und Konsumptionssystemen (Ernährung, Mobilität, Energie, Wohnen, …) gelegt. Die Ansätze untersuchen, wie sich Innovationen auf Strukturen auswirken, wie Innovationssysteme Innovationen für nachhaltige Entwicklung ermöglichen und wie Innovationen auf die soziale und wirtschaftliche Praxis und damit einhergehende Umwelteinflüsse wirken (Avelino et al., 2017; Kivimaa et al., 2021; Köhler et al., 2019; Shove & Walker, 2014).
Ausgangspunkte der Innovationsperspektive sind Innovationstheorien und Theorien des technologischen Wandels: Techno-ökonomische Paradigmenwechsel, technologische bzw. soziotechnische Systeminnovationen, radikaler und inkrementeller Innovation und auch Akteur-Netzwerk-Theorie (Dosi et al., 1988; Freeman & Perez, 2000; Köhler, 2012; Köhler et al., 2019; Latour, 2019; Malerba & Orsenigo, 1995). Im Zusammenhang mit den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen hat eine Verlagerung im wissenschaftlichen Diskurs stattgefunden: weg von einer nahezu ausschließlichen Betonung von wirtschaftlichen Zielen hin zu einer normativen Orientierung im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele (Daimer et al., 2012; Diercks et al., 2019).
Diese Perspektive umfasst Ansätze zu technologischer, unternehmerischer, organisatorischer, Produkt-, Prozess-, Marketing- und Systeminnovation ebenso wie soziale Innovation, Umweltinnovation, Nachhaltigkeitsinnovation und Exnovation. Letztere ist ein Sonderfall, weil weniger das Schaffen von etwas Neuem, sondern das Beenden von nichtnachhaltigen Lösungen in den Mittelpunkt rückt (Arnold et al., 2015).
Innovationen dienen nicht nur unternehmerischen, sondern auch gesellschaftlichen Interessen. Zur Bewältigung der Klimakrise tragen sie bei, wenn sie die Rahmenbedingungen klimafreundlichen Lebens verbessern und zu nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Praktiken führen. Innovation hat das Potenzial – intendiert oder unbeabsichtigt – Preisstrukturen, Marktstrukturen, Infrastrukturen bis hin zu Akteurskonstellationen, Governancestrukturen, Organisationsstrukturen oder ganzen soziotechnischen Produktions- und Konsumptionssystemen zu verändern (siehe dazu Teil 5).
Gestalten bedeutet in der Innovationsperspektive, Wandel mittels Innovationen bewusst herbeizuführen (Godin, 2015). Insbesondere wird argumentiert, dass sowohl soziotechnische oder soziale Innovationen, rechtliche Rahmenbedingungen und Infrastrukturen (Bolton & Foxon, 2015), Akteur_innennetzwerken (Latour, 2019), Governanceprozesse (Köhler et al., 2019) und mentale Modelle wie etwa Zukunftsbilder (Grin et al., 2011; Schot & Steinmueller, 2018), nachhaltig gestaltet werden können. Um Strukturen und Prozesse für Wandel zu schaffen, sind aus Sicht der Innovationsperspektive neue Governancemechanismen (Köhler et al., 2019) nötig, die koordiniertes Handeln über und zwischen mehreren Verwaltungsebenen ermöglichen und Akteursgruppen und Akteursnetzwerke von Produktions- und Konsumptionssystemen einbeziehen (z. B. durch Beteiligungsprozesse, Roadmapping).
Bereitstellungsperspektive
Aus der Bereitstellungsperspektive sind Bereitstellungssysteme, die suffiziente und resiliente Praktiken und Lebensformen erleichtern und damit selbstverständlich machen, zentral für klimafreundliches Leben. Der Bereitstellungsperspektive liegt ein weites Wirtschaftsverständnis zugrunde, wonach Wirtschaften die gemeinsame Organisation der Lebensgrundlagen betrifft (Polanyi, 1944).
Theorien der Bereitstellungsperspektive verbinden materielle mit kulturellen Dimensionen (Bayliss & Fine, 2020), soziale Metabolismen mit politökonomischen Zugängen (Schaffartzik et al., 2021) sowie biophysische mit sozialen Prozessen (O’Neill et al., 2018; Plank et al., 2021b). Damit schaffen sie Wissen über die sozialen (z. B. Ungleichheit, Exklusion) und ökologischen (z. B. hinsichtlich CO2-Emissionen, Bodenverbrauch und Biodiversität) Konsequenzen vorherrschender Bereitstellungsformen von bestimmten Gütern und Dienstleistungen. Ziel ist, dass langfristiger Klimaschutz und langfristige Klimawandelanpassung mit der Sicherung der Grundversorgung, das heißt der universellen Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, und dem Schutz vor Naturgefahren vereinbar sind (Jones et al., 2014; Mechler & Aerts, 2014; Schinko, Mechler, & Hochrainer-Stigler, 2017).
Aufgrund ihrer rechtlichen Zuständigkeit sowie ihrer Ressourcenausstattung sind staatliche Akteur_innen wesentlich für die Ausgestaltung von Daseinsvorsorge, Klimaschutz und Klimawandelanpassung. Wichtige Akteur_innen aus dieser Perspektive sind daher politische Entscheidungsträger_innen, die Regeln der Bereitstellung in einem politischen Territorium festlegen, sowie öffentliche Einrichtungen, Verwaltungen und (öffentliche) Unternehmen, die klimafreundliche Geschäftsmodelle entwickeln oder in der Grundversorgung und Sozialwirtschaft tätig sind. Wenn staatliche Institutionen und andere Akteur_innen Infrastrukturen, Institutionen und rechtliche Regelungen dauerhaft ändern, können sich klimafreundliche Gewohnheiten rascher durchsetzen (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Notwendige Veränderungen, damit klimafreundliche Praktiken selbstverständlich werden, sind die Schaffung und Förderung von Bereitstellungssystemen, die kollektiven Konsum fördern (FEC, 2018), sowie klimafreundliche Praktiken rechtlich möglich, kulturell akzeptiert und ökonomisch leistbar machen, z. B. ein dekarbonisiertes öffentliches Mobilitätssystem für Stadt und Land (ILA Kollektiv et al., 2017).
Der Bereitstellungsperspektive folgend müssen Daseinsvorsorge (Krisch et al., 2020; Vogel et al., 2021), Alltagsökonomie (FEC, 2020), Universal Basic Services (Coote & Percy, 2020) und sozialökologische Infrastrukturen (Novy, 2019; Die Armutskonferenz et al., 2021) gestärkt und klimafreundlicher gestaltet werden, während nichtnachhaltige Infrastrukturen und Wirtschaftsbereiche rückgebaut werden müssen (Millward-Hopkins et al., 2020; O’Neill et al., 2018).
Gesellschaft-Natur-Perspektive
Aus der Gesellschaft-Natur-Perspektive ist das Wissen über zentrale Treiber der Klimakrise (z. B. Mensch-Natur-Dualismen, Kapitalakkumulation, soziale Ungleichheit) wesentlich für klimafreundliches Leben. Theorien in der Gesellschaft-Natur-Perspektive betrachten das Soziale und die (biophysische) Natur nicht als unabhängig voneinander, sondern als eng miteinander verzahnt (Becker & Jahn, 2006; Brand, 2017; Foster, 1999; Görg, 1999; Haberl et al., 2016; MacGregor, 2021; Oksala, 2018; Pichler et al., 2017).
Sie verdeutlicht, dass jede Herausforderung soziale und biophysische Implikationen hat (z. B. Agrarland wird zu bebauter Umwelt). Umgekehrt wird betont, dass biophysische Natur auch auf Soziales wirkt (z. B. Hochwasserereignisse werden durch gewisse Bebauungsformen wie z. B. Flächenversiegelung begünstigt und unterminieren Alltagshandeln). Zu den Strukturen, die die Gesellschaft-Natur-Perspektive sichtbar macht, zählen tradierte, in die Wissenschaft, aber auch in den Alltag eingelassene Denkweisen (z. B. disziplinäre Trennung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften, Lösung der Klimakrise durch Technik etc.) und ökonomische Logiken und Ordnungsprinzipien, die modernen, kapitalistischen Gesellschaften zugrunde liegen (z. B. Wachstumszwang inklusive Naturverbrauch und sozialer Ungleichheit, moderne Institutionen wie Staatlichkeit, individualistisches Freiheitsverständnis etc.).
Die Relevanz der Gesellschaft-Natur-Perspektive für das Gestalten klimafreundlicher Strukturen liegt in der Analyse und Beurteilungen von Verhältnissen und angebotenen Lösungen, vor allem im Hinblick auf deren Implikationen und Reichweite (Becker & Jahn, 2006; Fischer-Kowalski & Erb, 2016; Fraser, 2014; Görg, 2011; McNeill, 2000; McNeill & Engelke, 2016). Sie hat zudem das Potenzial, die Reflexivität von Akteur_innen zu erhöhen (siehe z. B. Bashkar, 2010), vor allem mit Blick auf tiefliegende Treiber der Klimakrise.
Der Begriff „Gesellschaft“ wird im Alltag oft mit Zivilgesellschaft gleichgesetzt, doch die Gesellschaft-Natur-Perspektive beschränkt sich im Kontext dieses Berichts nicht auf die Zivilgesellschaft, sondern bezieht auch Wissenschaft, öffentliche Institutionen (Regierung, Verwaltung, Legislative) und Parteien ein. Wissensproduktion, Medialisierung, Problematisierung und Protest, Ökotopien, aber auch Gesetze sind Instrumente für das Gestalten von klimafreundlichen Strukturen; sie rufen jedoch oft starken Widerstand hervor (Brand, 2017).
Nur wenn bei klimapolitischen Lösungen auch der Bezug zu den Treibern der Klimakrise mitreflektiert wird (z. B. Kapitalakkumulation, westliche Naturbeherrschung), ist eine tiefenwirksame Bearbeitung der Klimakrise möglich (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Perspektivische Herangehensweise für die Analyse von Strukturen
Dieser Bericht setzt auf Perspektivismus, um aktuelle Herausforderungen in ihrer Diversität bezüglich der Problemdiagnosen von klimaunfreundlichen Strukturen sowie Zielhorizonten und Gestaltungsoptionen von Transformationspfaden zu berücksichtigen. Wir anerkennen damit, dass Erkenntnis immer abhängig von Bezugssystemen (wie z. B. Marktlogiken, Innovationsdiskursen, gesellschaftstheoretischen Diskursen) ist (Giere, 2006; Sass, 2019).
Wenn bloß von einer Perspektive ausgegangen wird (z. B. von der gesellschaftlich am anschlussfähigsten – derzeit die Marktperspektive), dann kommen nur bestimmte Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen zur Anwendung (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Jede der vier Perspektiven hat Stärken und Schwächen. Diese gilt es zu erkennen und zu benennen.
Alle vier Perspektiven thematisieren Strukturen. Eine Stärke der Marktperspektive ist, dass sie aufgrund der Prominenz von Marktlogiken gesellschaftlich besonders anschlussfähig ist. Eine ihrer Schwächen ist ihr Vertrauen in individuelles Handeln sowie in Bepreisung. Aus einer Bereitstellungs- und Gesellschaft-Natur-Perspektive ist hingegen sowohl der Fokus auf das Individuum als auch der Fokus auf Marktlogiken eher Treiber der Klimakrise als deren Lösung (Pirgmaier & Steinberger, 2019). Auch die Innovationsperspektive ist gesellschaftlich anschlussfähig. Eine der Stärken der in diesem Sachstandsbericht vorgestellten Innovationsperspektive ist, dass sie den Innovationsbegriff weder rein technologisch noch primär marktorientiert versteht, sondern Innovationen immer an ihrem sozial-ökologischen Mehrwert misst. Eine ihrer Schwachstellen ist, dass sie wenig klare Aussagen darüber macht, von wem und wie Entscheidungen über den Erfolg oder Misserfolg von Innovationen getroffen werden. Dass Letzteres immer (auch) ein politischer Prozess ist, wird in dieser Perspektive nur bedingt berücksichtigt.
Für die Gestaltung klimafreundlichen Lebens gilt: Wenn mehrere Perspektiven berücksichtigt werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen differenziert verstanden, Prioritäten informiert gesetzt und Inkompatibilitäten sowie Synergien identifiziert werden können (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Teil 2: Handlungsfelder
Kapitel 3: Überblick Handlungsfelder
Um die in Paris vereinbarten Klimaziele zu erreichen, sind Veränderungen im Alltag der Menschen und in ihrem täglichen Verhalten erforderlich. Diese Veränderungen können nicht vorrangig durch Appelle an die individuelle Verantwortung angestoßen werden. Es braucht vielmehr adäquate Strukturen wie Regulierung, steuerliche Anreize, infrastrukturelle Veränderungen und Verbote, um Aktivitäten mit hohen Emissionen einzuschränken bzw. solche mit niedrigen Emissionen zu verstärken. Klimafreundliche Strukturen sind notwendig, um klimafreundliches Handeln leichter in den Alltag zu integrieren und damit eine attraktive Alternative zu den bisherigen nichtnachhaltigen Praktiken bereitsteht (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
In Teil 2 wird mit der Analyse der Klimawirkungen unterschiedlicher Handlungsfelder eine umfassende Zusammenschau über alle Lebensbereiche gegeben. Dabei werden die Klimawirkungen in den Bereichen Wohnen, Ernährung und Mobilität sowie für die Handlungsfelder der Erwerbsarbeit, Versorgung, Betreuungs- und Pflegearbeit, gesellschaftliche Aktivitäten und Erholung untersucht. Individualistische und rationalistische Theorien des Handelns fokussieren auf das Verhalten autonomer und stetig abwägender Individuen. Forschungsansätze, die Praktiken ins Zentrum stellen, gewinnen jedoch an Relevanz (Røpke, 2015). Praktiken sind mehr als tägliche Routinen. Sie sind geprägt von der Kompetenz (Können; z. B.: Wie leihe ich ein Buch aus?), der Möglichkeit (vorhandene Struktur, z. B. öffentliche Bibliothek, leistbar und erreichbar) und der Zeit, sie auszuführen (Zeitwohlstand, Zeitsouveränität) (vergleiche Kap. 2 und 27).
Aktuell existieren Strukturen, die Menschen auf unterschiedlichen Ebenen daran hindern, im Einklang mit den klimapolitischen Zielen zu leben. Daher genügt es nicht, einzelne Barrieren zu beseitigen. Das Gestalten von Strukturen erfordert die Änderung der strukturellen Zusammenhänge (sowohl hemmender als auch fördernder Faktoren) innerhalb einzelner Handlungsfelder (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Entscheidend für erfolgreiches Gestalten ist die Abstimmung von Maßnahmen zwischen Handlungsfeldern. Dazu bedarf es eines integrativen und systemischen Vorgehens, um Rahmenbedingungen für individuelles Verhalten festzulegen. Widersprüchliche Maßnahmen, die Konflikte oder Nachteile in einem oder mehreren Handlungsfeldern schaffen, gefährden das Erreichen klimapolitischer Ziele. So genügt es beispielsweise nicht, lediglich die räumliche Infrastruktur zu verbessern. Um den Umstieg vom Individualverkehr auf den öffentlichen Verkehr zu erleichtern, sind auch die räumliche Verteilung der Mobilitätsziele und die Zeitökonomie im Alltag und von verschiedenen Mobilitätsmodi zu berücksichtigen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Verschiedene Bevölkerungsgruppen (nach Geschlecht, Alter, Einkommen) sind vom Klimawandel unterschiedlich betroffen und tragen in unterschiedlichem Ausmaß durch ihre Tätigkeiten mit THG-Emissionen zum Klimawandel bei. Ein gutes Leben für alle kann nur ermöglicht werden, wenn Maßnahmen zur Minimierung von Ungleichheiten ergriffen werden. Die Neugestaltung der Zeitstrukturen ist hierbei von zentraler Bedeutung (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Die Berechnung von CO2-Fußabdrücken je alltäglicher Aktivität ermöglicht die Analyse von Unterschieden in Bevölkerungsgruppen und je Handlungsfeld (Smetschka et al., 2019) (Tab. TZ.1). Die persönliche Zeit, die für die Fürsorge für die eigene Person verwendet wird, ist relativ kohlenstoffarm, während sowohl Haushalts- als auch Freizeitaktivitäten große Unterschiede in Bezug auf den CO2-Fußabdruck pro Stunde aufweisen. Die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung prägt die Zeitnutzungsmuster von Frauen und Männern, die sich auf ihre CO2-Fußabdrücke auswirken.
In einem systematischen Review wurden die internationalen Emissionsvermeidungs- und verringerungspotenziale von 60 Konsumoptionen aus Primärstudien und mehreren Reviews aus unterschiedlichen Ländern zusammengefasst (Ivanova et al., 2020) (Abb. TZ.7). Alle Optionen inkludieren sowohl direkte als auch indirekte Emissionen in der Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen („Fußabdruck“).
Es zeigt sich, dass einige wenige Optionen im Bereich Mobilität, Ernährung und Wohnen sehr hohe bis mittlere Potenziale haben. Klassisches „umweltfreundliches Verhalten“, wie beispielsweise Mülltrennung, weniger Papier oder optimierte Nutzung von Haushaltsendgeräten, zeigen eher geringe Vermeidungspotenziale, wenn man sie etwa mit der Nutzung selbst produzierten Ökostroms oder dem Verzicht auf Haustiere vergleicht. Der Mobilitätsbereich weist das größte Potenzial für Emissionsreduktionen auf, insbesondere der Verzicht auf das Auto, gefolgt vom Wechsel zu Elektromobilität und der Vermeidung von Langstreckenflügen. Sowohl Automobilität als auch Flugreisen steigen stark mit höherem Einkommen. Daher ist die Gestaltung dieser Mobilitätsangebote in einem reichen Land wie Österreich besonders wichtig. Im Bereich der Ernährung zeigen sich klar die Vorteile von veganer bis vegetarischer Ernährung bzw. einer sehr starken Reduktion des Fleischkonsums. Im Bereich Wohnen zeigen Investitionen in den Ausbau erneuerbarer Energien das größte Potenzial, gefolgt von der Renovierung und Sanierung von Wohngebäuden, wo wiederum Rahmenbedingungen und Standards entscheidend sind.
Für Konsumoptionen mit hohem Vermeidungspotenzial sind strukturelle Maßnahmen notwendig, die infrastrukturelle, institutionelle und verhaltensbezogene Barrieren beseitigen, damit die Realisierung der Vermeidungspotenziale strukturell ermöglicht und bevorzugt wird (Ivanova et al., 2020). Gutes Leben mit hoher Lebensqualität und weniger Ressourcenbedarf zu erreichen, muss in allen Handlungsfeldern ansetzen. Die unterschiedlichen Wege dahin sind beispielsweise Konzepte von Nutzen statt Besitzen oder Reparieren statt Wegwerfen und stellen das Teilen von Services anstelle von Anhäufen von Material und Abfällen in den Vordergrund (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis): Das Bewusstsein der Bevölkerung für die Notwendigkeit umfassender klimapolitischer Maßnahmen steigt. Eine aktive öffentliche Debatte, zivilgesellschaftliche Bewegungen sowie Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit bilden die Grundlagen einer demokratischen Öffentlichkeit als Voraussetzung und Ziel einer klimagerechten Transformation. Es ist davon auszugehen, dass Klimapolitik ein Anliegen mit hoher Zustimmung ist, für den ein Großteil der Bevölkerung zur klimapolitischen Transformation gewonnen werden kann. Für eine hohe Akzeptanz und positive Klimawirkung ist entscheidend, dass diese Transformation keine neuen Ungleichheiten schafft bzw. dass Nachteile und Verluste für manche Teile der Bevölkerung sozial(politisch) entsprechend ausgeglichen werden (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Kapitel 4: Wohnen
Um Strukturen eines klimafreundlichen Wohnens zu verstehen, hilft ein integrativer Blick auf das österreichische Wohnungssystem. Dieser umfasst alle in das Themenfeld Wohnen involvierten Akteur_innen, Aktivitäten und strukturellen Bedingungen von der Bodeninanspruchnahme und Produktion bis zur Nutzung und Wiederverwertung. Im Folgenden wird die Literatur zu klimafreundlichem Wohnen entlang dieser Dimensionen dargestellt.
Wohnen als Grund- und Existenzbedürfnis ist eine Tätigkeit, welche sich über den eigenen Wohnraum hinaus in die Nachbarschaft und Freiräume erstreckt. Sie besteht aus einem multiplen Beziehungsgeflecht ökologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Aspekte. Wohngebäude umfassen 82 Prozent des gesamten österreichischen Gebäudebestands (Statistik Austria, 2019c). Davon sind 65,8 Prozent Einfamilienhäuser (Statistik Austria, 2013). Der Sektor Gebäude verursachte im Jahr 2019 allein im Betrieb rund 8,1 Millionen Tonnen THG-Emissionen, was einem Anteil des Gebäudesektor-Betriebs von 10,2 Prozent aller THG-Emissionen in Österreich im Jahr 2019 entspricht (Umweltbundesamt, 2021c), wobei Wohngebäude darin mit einem Anteil von 8,2 Prozent dominieren (Statistik Austria, 2019c). Eine Reduktion der THG-Emissionen im Betrieb von Gebäuden konnte von 1990 bis 2014 beobachtet werden, wobei diese Emissionen zwischen 2014 bis 2017 wieder anstiegen (Umweltbundesamt, 2021c).
Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in einer Hauptwohnsitzwohnung in Österreich liegt bei 45,3 m2 pro Person, in Wien liegt sie bei 36,1 m2 pro Person, im Burgenland bei 54 m2 pro Person (Statistik Austria, 2019c). Der Zuwachs an Bodenverbrauch für Wohn- und Geschäftsgebiete liegt in Österreich im Jahr 2020 bei 23 km2 (Umweltbundesamt, 2021a). Leerstand spielt bei der Vermeidung von Bodenverbrauch im Wohnungssektor eine zentrale Rolle. Eine vollständige und übergreifende Leerstandserhebung für Österreich liegt derzeit jedoch nicht vor (Schneider, 2019) (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis).
Einfamilienhäuser weisen im Vergleich zu Wohnsiedlungen und Geschoßwohnbau eine deutlich schlechtere Bilanz auf. Graue Emissionen, also die gesamte Energie, die bei Herstellung, Einbau und Abbruch von tragwerksrelevanten Bauelementen benötigt wird, aber auch Leerstand spielen hier eine große Rolle. Die Weiternutzung von Leerstand könnte helfen, den Neubau von Einfamilienhäusern einzudämmen, welche als Wohnform den höchsten Flächenverbrauch aufweisen und mit der Bereitstellung umfangreicher Infrastrukturmaßnahmen (speziell im Bereich des Verkehrs) einhergehen. Darüber hinaus geht es um die energetische Ertüchtigung des Bauvolumens. Durch Sanierung in Form einer energieeffizienten Gebäudeertüchtigung mit ökologischen Materialen ließe sich beispielsweise in Vorarlberg bei Gebäuden aus den 1970er Jahren im Vergleich zu einer reinen Instandhaltung ohne thermische Sanierung das globale Erwärmungspotential um 72 Prozent reduzieren (Energieinstitut Vorarlberg, 2020). Die Sanierungsrate ist jedoch österreichweit seit 2010 um ein Viertel zurückgegangen (Global 2000, 2021; IIBW, Umweltbundesamt, 2020) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Der Umstieg auf erneuerbare Energien im Wohnungssektor ist mangelhaft, der erneuerbare Anteil an der Fernwärmeerzeugung und am -verbrauch lag im Jahr 2018 bei nur 48 Prozent (Umweltbundesamt, 2022) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Im Neubau lassen sich neue technische Lösungen einfacher umsetzen, es sollte aber der klare Fokus auf den Bestand und dessen Ertüchtigung gelegt werden (Amann & Mundt, 2019).
Durch den Föderalismus liegen in Österreich für den Wohnbau derzeit stark fragmentierte Zuständigkeiten auf Entscheidungs- und Wissensebenen vor. Mindeststandards für den Wohnbau (z. B. Grünflächenfaktor, Versiegelungsfaktor, Energieeffizienzstandards etc.) werden maßgeblich durch die Bauordnungen der Bundesländer vorgegeben. Alle Wohngebäude müssen seit 2021 die Mindestanforderung an ein Niedrigstenergiegebäude im Sinne der EU-Gebäuderichtlinie (Artikel 2, Ziffer 2 der RL 2010/31/EU) erfüllen. Wohnbauförderungen sind nach der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung auf Landesebene geregelt. Baugenehmigungsverfahren werden auf kommunaler Ebene vollzogen.
Die Ökologisierung des Wohnbausektors betrifft sowohl die Baubiologie (z. B. Giftstoffe in Baumaterialien) als auch die Bauökologie (Land-, Ressourcen- und Energieverbrauch im Bau, im laufenden Betrieb und im Recycling). Ein wichtiges Ziel liegt darin, die Zertifizierung ökologischer Baustoffe voranzubringen. Der Verwendung von neuen – teils low tech, insofern alten – Bauweisen stehen oft kostenintensive Genehmigungs- und Prüfverfahren im Weg. Wenn die Ressourcen fehlen, um Prüfprozesse für alternative Baumaterialien und -elemente einzuleiten, verfestigt sich der Einsatz von Industrieprodukten ungeachtet der ökologischen Qualitäten und Vorzüge alternativer Baumaterialien (Bauer, 2015; Reinhardt et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Im Kontext sozial-ökologischer Bauwirtschaft steigert Urban Mining („städtischer Bergbau“) Ressourceneffizienz und fördert eine Rückgewinnung von Sekundärrohstoffen. Dies senkt den Verbrauch von Primärrohstoffen und ermöglicht weitgehende Unabhängigkeit vom Import; auch mit Hilfe von Ressourcenkatastern zur Identifikation anthropogener Lager (Allesch et al., 2019; Kral et al., 2018) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Die Nutzung von Recycling-Baumaterial und materialbewusster Konstruktion ermöglicht kreislauffähiges Bauen (Kakkos et al., 2020; Brunner, 2011) (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis).
Im aktuell dominanten marktorientierten System wird die ausreichende Versorgung mit Wohnraum für untere und mittlere Einkommensgruppen in urbanen Regionen zunehmend schwieriger (Kadi et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis). Diese können kaum einen Beitrag zur klimafreundlichen Gesellschaft leisten, da sie zur Wohnversorgung auf billigere Immobilien mit schlechterer Bauqualität und daher schlechterer Energieeffizienz in minderversorgten Wohngegenden angewiesen sind (Weißermel & Wehrhahn, 2020) (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis). Rund 20 Prozent aller Österreicher_innen und rund 45 Prozent der Wiener_innen wohnen heute in einer Gemeinde- oder Genossenschaftswohnung (Schwarzbauer et al., 2019; Van-Hametner et al., 2019). Die Privatisierung bzw. Kapitalisierung von vormals öffentlichen und/oder gemeinnützigen Gütern der Wohnungswirtschaft birgt die Gefahr, soziale Belange gegen Klimaschutz und andere ökologische Anliegen auszuspielen (Weißermel & Wehrhahn, 2020) (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis). Die vorerst letzten Erhebungen zu Österreich aus 2016 beziffern 117.100 Haushalte, die von Energiearmut betroffen sind. Vertreter_innen der Armutskonferenz vermuten weit höhere Zahlen (Armutskonferenz, 2019, 2020) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Potenziale liegen in der verbindlichen Koordination und Kooperation urbaner und ländlicher Regionalplanung. Eine große Barriere ist die Kompetenz der Bürgermeister_innen als Baubehörde erster Instanz. Derzeit existiert kein nationales Monitoringsystem zur Erfassung aller thermisch-energetisch relevanten Sanierungsaktivitäten (Umweltbundesamt, 2020a) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Es braucht das Zusammenführen der Zuständigkeiten auf Bundesebene in Form einer nationalen Koordinations- und Monitoringstelle für das Thema Wohnen. Zuständigkeiten wären die Etablierung einer Wohnbauforschung, die unter anderem ein österreichisches Leitbild des Wohnbaus erarbeitet und die gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten zur Wohnraumversorgung sowie zukunftsfähige, nachhaltige und sozial gerechte Wohnformen untersucht sowie eine stärkere Zweckbindung der Wohnbauförderung an ökologische und soziale Auflagen mittels Objektförderung forciert (Allianz Nachhaltiger Hochschulen, 2021) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Für ressourcenschonende Wohnbaupolitik ist eine flächendeckende Leerstandserhebung wichtig. Bestandsaktivierung bzw. -mobilisierung wären prioritär gegenüber dem Neubau zu behandeln (Koch, 2020) (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis).
Aktivierung und Attraktivierung des Wohnbaubestandes senkt die Neubautätigkeiten und beugt der weiteren Ausbreitung der Siedlungsflächen in Form von zunehmender Versiegelung des Bodens vor. Diese klimafreundlichen Potenziale können sich durch Erhalten, Reparieren und Weiterdenken städtebaulich übergreifender Ansätze und gemeinwohlorientierte Kooperationen sowie Beteiligungskonzepte in Kombination mit Lebenszyklusbetrachtungen und zirkulären, ökologischen Materialeinsätzen entfalten. (Ebinger et al., 2001). (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis). Die Sanierung von privaten Mietwohnungen könnte durch eine verkürzte Absetzung von Sanierungskosten oder alternativ mit Investitionsprämien unterstützt werden (Amann, 2019). Niedrigverdiener_innen kann alternativ die Inanspruchnahme einer Negativsteuer angeboten werden. Mit dem verstärkten Blick auf den Bestand und somit auf die Sanierungen wird eine Verschiebung im fachlich-technischen wie auch im handwerklichen Bereich des Baugewerbes einsetzen, samt adäquater Instrumente der Umschulung sowie diesbezüglicher Fördermechanismen, ebenso wie eine Verlagerung der Wirtschaftsleistung. Dies erfordert auch bessere Entlohnung und höheren sozialen Status von Bauarbeiter_innen (Amann, 2019) (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis).
Das Herauslösen der Wohnungsversorgung aus den Logiken des Marktes (Dekommodifizierung) erfordert die kleinmaßstäbliche Erfassung der territorialen Verteilung und Preisentwicklung bestehenden Wohnraums. Verfügbarkeit von kommunalem Boden und Wohnungsbeständen ist dafür besonders wichtig, weshalb sich die Dekommodifizierungspolitik mit einem solchen Ziel nicht allein auf die Wohnung beschränken kann, sondern auch den Boden als endliche Ressource miteinschließen muss. Gemeinnützige Organisationsformen werden gefordert, um die Bodenvergabe für Wohnbauzwecke weiterzuentwickeln (Kaltenbrunner & Schnur, 2014) (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis). Genannt werden außerdem Instrumente wie Widmung auf Zeit, Rückwidmung, Enteignung, Baulandumlegung oder Vorkaufsrecht der Gemeinde (ÖROK, 2017) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Im Land Salzburg wird mittels Vorbehaltsflächen „zur Sicherung von Flächen für die Errichtung von förderbaren Miet-, Mietkauf- oder Eigentumswohnungen“ (Land Salzburg, 2008) und in Tirol mittels „Vorbehaltsflächen für den geförderten Wohnbau“ (Land Tirol, 2016) aktive Bodenpolitik betrieben. Um dekarbonisierten, sozial-ökologisch gerechten Wohnbau im Sinne des Gemeinwohls zu ermöglichen, gilt es vor allem, für staatliche und kommunale Stellen vermehrt Verfügungs- und Handlungsspielräume zurückzugewinnen. Ebenso können alternative Wohnbaukonzepte, z. B. in Form von Baugruppen, Eco Villages, Mietshäusersyndikaten etc., neuartige und inklusive Zugänge in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht für den allgemeinen Wohnbau befördern (Lang & Stoeger, 2018; Höflehner, 2019; Jany, 2019; van Bortel & Gruis, 2019) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Kapitel 5: Ernährung
Um Strukturen einer klimafreundlichen Ernährung zu verstehen, hilft ein integrativer Blick auf Ernährungssysteme. Diese umfassen alle in die Ernährung involvierten Akteur_innen, Aktivitäten und strukturellen Bedingungen von der Produktion bis zu den Lebensmittelabfällen. Im Folgenden wird die Literatur zu klimafreundlicher Ernährung entlang dieser Dimensionen gesichtet.
Weltweit sind Ernährungssysteme für ca. ein Drittel aller anthropogenen THG-Emissionen verantwortlich; je ein Drittel davon entfällt auf Landnutzungsänderungen, auf direkte Emissionen aus der Landwirtschaft und auf die weiteren Prozesse des Ernährungssystems bis hin zur Entsorgung (Crippa et al., 2021). Eine sektorübergreifende Betrachtung rechnet rund 10 Prozent aller österreichischen THG-Emissionen der Landwirtschaft zu (Umweltbundesamt, 2021c). Die THG-Emissionen der Landwirtschaft haben sich seit 1990 durch sparsamere Düngung und einen Rückgang im Viehbestand um 14,3 Prozent reduziert (Umweltbundesamt, 2021c). In den letzten Jahren blieben sie allerdings konstant. Eine weitere Reduktion von THG-Emissionen in der Landwirtschaft steht nicht prioritär auf der politischen Agenda. Maßnahmen werden nur unzureichend umgesetzt.
Aus wissenschaftlicher Sicht birgt die Tierhaltung großes Emissionsreduktionspotenzial (IPES, 2019; SAPEA, 2020) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). In Österreich wird dieses Potenzial agrarpolitisch nicht thematisiert. Bezüglich des Nahrungskonsums verweist die Forschung bei einer Reduktion des Konsums tierischer Produkte auf hohe Synergien zwischen Klimaschutz- und Gesundheitszielen (APCC, 2018; Willett et al., 2019) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Potenziale einer Reduktion des Konsums tierischer Produkte werden bei Klimaschutzstrategien bisher allerdings ausgeblendet. Ernährungspraktiken spiegeln soziale Ungleichheitsstrukturen wider. Hohes Potenzial für die Reduktion von THG-Emissionen besteht darüber hinaus in der Vermeidung von Lebensmittelabfällen (IPES, 2019; SAPEA, 2020). Wenn dieses lukriert werden soll, sind Akteur_innen entlang der gesamten Wertschöpfungskette in die Verantwortung zu nehmen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Verarbeitung und Handel sind klimapolitisch wichtige Teile der Wertschöpfungskette. Geprägt durch eine sehr hohe Konzentration hat der Lebensmitteleinzelhandel zwar das Angebot an klimafreundlichen Produkten am Markt erweitert, klimaschädliche Strukturen im Ernährungssystem werden damit aber nicht abgebaut. Politische Regulierungen des Handels erschöpfen sich bisher in wenig effektiven Maßnahmen. Alternative Vertriebswege jenseits der Supermärkte bieten Formen bäuerlicher Direktvermarktung, die in Österreich verbreitet sind. Diese können durch verkürzte Distanzen zwischen Produktion und Konsum und eine klimafreundliche Ausgestaltung der Logistik dazu beitragen, dass transportbezogene THG-Emissionen reduziert werden. Allerdings wird die Klimarelevanz von „food miles“ häufig überschätzt (Enthoven & Van den Broeck, 2021; Paciarotti & Torregiani, 2021). Die biologische Lebensmittelproduktion wird in der öffentlichen Wahrnehmung häufig mit Klimafreundlichkeit in Verbindung gebracht. Dennoch liefern hier Studien sehr kontextspezifische Ergebnisse (Seufert & Ramankutty, 2017) (niedrige Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Aufgrund des geringeren Flächenertrags im Biolandbau werden Ausbaupotenziale im Biolandbau für eine klimafreundlichere Ernährung oftmals mit einer gleichzeitigen Reduktion des Konsums tierischer Produkte verknüpft (z. B. Hörtenhuber et al., 2010; Niggli, 2021; Schlatzer et al., 2017; Theurl et al., 2020).
Notwendige Veränderungen, Barrieren und Konflikte im Bereich der klimafreundlichen Ernährung finden vor allem in vier Feldern ihren Ausdruck: (1) in der umkämpften Transformation von Politikbereichen, (2) im Konfliktthema Fleisch, (3) in Arbeitskonflikten und (4) in konfligierenden Wissensformen. Erstens wird eine auf Klimaziele ausgerichtete integrative Ernährungspolitik von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen und der Wissenschaft gefordert; diese kann verschiedene Politikbereiche wie z. B. Klima-, Umwelt- und Gesundheitspolitik verbinden (APCC, 2018; IPES, 2019) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Sie steht im Konflikt mit Interessen der agrarischen Interessenvertretung, der Agrar- und Lebensmittelindustrie und des Handels, die überwiegend den Status quo des Handelssystems aufrechterhalten wollen, sowie mit der aktuellen Ausgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union (Nischwitz et al., 2018). Zweitens forciert unser Wirtschaftssystem Produktion, Weiterverarbeitung, Konsum und eine vergleichsweise geringe Wertschätzung tierischer Produkte, da es auf der Bereitstellung billiger Erzeugnisse und deren Export beruht (Plank et al., 2021c). Unterstützt wird dies kulturell durch Routinen. Beispielsweise wird Fleisch als unverzichtbar angesehen (Oleschuk et al., 2019) und mangelnde Zeit trägt zur Lebensmittelverschwendung bei (Devaney & Davies, 2017; Plank et al., 2020b) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Drittens werden Arbeitskonflikte im Bereich der Erntearbeit, der Verarbeitungsindustrie, der Supermärkte und Essenszustellung wie auch durch die Aufgabe von Höfen sichtbar, die nach einer Aufwertung der menschlichen Arbeit verlangt, um die soziale Dimension klimafreundlicher Strukturen zu gewährleisten (Behr, 2013; Möhrs et al., 2013) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Und schließlich setzen viertens Forschungsfragen nicht an der Lebensrealität von Bauern und Bäuerinnen an (Laborde et al., 2020; Nature, 2020). Wichtige Forschungslücken zeigen sich zur Rolle der Verarbeitungsindustrie, der Landwirtschaft, vorgelagerter Agrarindustrie und des Lebensmittelhandels. Diese gilt es in künftigen Forschungsarbeiten zur Bereitstellung von Strukturen für ein klimafreundliches Leben besser in den Blick zu nehmen, um konkretere Aussagen zu deren Verantwortlichkeiten treffen zu können (mittlere Übereinstimmung, niedrige Literaturbasis).
Übergangspfade zu einem klimafreundlichen Ernährungssystem werden kontrovers und oftmals vereinfachend dichotom diskutiert: „Bioökonomie“ versus sozial-ökologische Transformation der Produktions- und Konsumpraktiken in einer „Ökoökonomie“ (Ermann et al., 2018; Horlings & Marsden, 2011); agrarökologische versus industrielle Systeme (IPES, 2016); Lebensmittel als Ware versus Lebensmittel als Gemeinschaftsgut oder Menschenrecht (Jackson et al., 2021; SAPEA, 2020) (geringe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Wenngleich eine solche Entweder-oder-Perspektive analytisch sinnvoll sein mag, können Veränderungsprozesse durch ein „Sowohl-als-auch“ gewinnen: technische UND soziale Innovationen, agrarökologische UND industrielle Ansätze, zentrale UND dezentrale Ansätze, produktions- UND konsumseitige Maßnahmen (Ermann et al., 2018). Reduktionsziele ließen sich über höhere Preise (z. B. lokale Fütterung oder Vollweide, höhere Tierschutzstandards, Bio) bzw. Steuern auf klimaschädliche Lebensmittel wie Fleisch forcieren. Diese würden sozial benachteiligte Gruppen stärker treffen. Allerdings bestehen hier große Synergien zu Gesundheitszielen, da gerade sozial benachteiligte Gruppen von den ernährungsmitbedingten Gesundheitsfolgen aktueller Ernährungsmuster mit hohen Fleischanteilen und hochverarbeiteten Lebensmitteln überproportional betroffen sind (Brunner, 2020; Fekete & Weyers, 2016).
Eine klimafreundliche Ernährung zielt auf sozial inklusive, ungleichheitsreduzierende Ernährungsweisen. Die Akzeptanz von Änderungen hin zu einer klimafreundlichen Agrar-Ernährungspolitik hängt nicht zuletzt von einer effektiven Sozialpolitik und einem Ausgleich territorialer Ungleichgewichte zwischen Stadt und Land oder agrarischen Gunst- und Ungunstlagen ab (SAPEA, 2020). Eine Ernährungswende lässt sich durch mehr Transparenz bezüglich Herkunft, Umwelt- und Tierschutzstandards sowie rechtliche Beschränkungen der Werbung bzw. von Aktionsangeboten für klimaschädliche und ungesunde Lebensmittel unterstützen, ebenso durch einen erweiterten Zugang zu Wissen beispielsweise durch direkte Interaktionen von Konsument_innen und Produzent_innen (Ermann et al., 2018; IPES, 2019; SAPEA, 2020). Im öffentlichen Diskurs ließe sich das lineare, fossil getriebene Produktionsmodell der billigen Massenware durch eine Kreislaufwirtschaft mit Fokus auf Qualität, Abfallreduzierung, Nährstoffkreisläufe und Kohlenstoffbindung ersetzen (SAPEA, 2020). Klimabezogene Standards in Handelsabkommen, ein effektiver Emissionshandel und eine internationale CO2-Bepreisung (inklusive CO2-Grenzabgabe) unterstützen nationale Anstrengungen (Europäische Kommission, 2020b; SAPEA, 2020). Klimaschonende und kreislauforientierte Agrar-Ernährungssysteme eröffnen neue Geschäftsmodelle und Investitionsmöglichkeiten, beispielsweise im Zusammenhang mit der Nutzung von Lebensmittelabfällen, der CO2-Bindung, Bioraffinerien, Biodünger oder Bioenergie (Europäische Kommission, 2020b; Hörtenhuber et al., 2019; Zoboli et al., 2016). Um flexibel auf die – dem Ernährungssystem inhärenten – Unsicherheiten reagieren zu können, scheinen adaptive, inklusive und sektorübergreifende Ansätze, die auf dezentrale Selbstorganisation, Entrepreneurship und soziales Lernen setzen und durch staatliche und finanzpolitische Anreize stark gefördert werden, besonders vielversprechend (IPES, 2016, 2019; SAPEA, 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Da technologische Innovationen mit Fokus auf Ökoeffizienz zur Erreichung von Klima- und Umweltzielen nicht ausreichen, sind diese um Ansätze der Suffizienz und Maßnahmen zur Reduktion des Energie- und Materialumsatzes zu ergänzen (Haberl et al., 2011, 2020; Theurl et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, geringe Literaturbasis).
Kapitel 6: Mobilität
Um Strukturen einer klimafreundlichen Mobilität zu verstehen, hilft ein integrativer Blick auf Mobilitätssysteme. Im Folgenden wird die Literatur zu klimafreundlicher Mobilität, den involvierten Akteur_innen und strukturellen Bedingungen gesichtet.
Verkehr und Mobilität sind eine der größten Herausforderungen sowohl für Österreich als auch global bei der Erreichung der Klimaziele (EASAC, 2019; Kurzweil et al., 2019) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Die THG-Emissionen aus dem Verkehrsbereich betragen in Österreich über 30 Prozent der Gesamtemissionen. Im Jahr 2019 erreichten diese, verursacht durch den Anstieg der Fahrleistung, im Straßenverkehr 24,0 Megatonnen CO2-Äquivalent (siehe Abb. TZ.9).
Hinzu kommen rund 3,0 Megatonnen CO2 durch den internationalen Flugverkehr (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Auch die Anzahl der Pkw-Wege und der Motorisierungsgrad in Österreich nehmen weiter zu. Der Anteil im Modal Split für Pkw-Wege stieg von 42 Prozent im Jahr 1983 auf 51 Prozent im Jahr 1995 (Sammer, 1990; Herry et al., 2012) und auf 58 Prozent im Jahr 2014 (Follmer et al., 2016). Der Motorisierungsgrad nahm seit dem Jahr 2000 bis 2019 um mehr als 10 Prozent auf 562 Pkw je 1000 Einwohner_innen zu (Statistik Austria, 2019a, 2019b). Der Energieeinsatz im Verkehr (inklusive Kraftstoffexport im Tank, das heißt wenn insbesondere Lkw aufgrund der vergleichsweise geringeren Treibstoffpreise in Österreich im internationalen Transit eher hierzulande tanken) betrug im Jahr 2018 401 Petajoule (PJ) und verdoppelte sich gegenüber dem Jahr 1990 (Statistik Austria, 2021). 90 Prozent des Energieeinsatzes basieren auf fossilen Energieträgern. Die Verkehrsleistung (= „Verkehrsaufwand“) im Personenverkehr über alle Verkehrsmodi nahm zwischen den Jahren 1990 und 2019 von 76,7 Milliarden auf 115,3 Milliarden Personenkilometer (+50 Prozent) zu (Anderl et al., 2021). Zwischen 2000 und 2017 wuchs der Personenverkehrsaufwand um rund 23 Prozent und damit mehr als doppelt so schnell wie die Bevölkerung im selben Zeitraum (Anderl et al., 2020). Der durchschnittliche Besetzungsgrad über alle Wege für Pkw sank gleichzeitig seit dem Jahr 1990 von 1,40 auf 1,14 Personen pro Pkw (Anderl et al., 2021) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Im Güterverkehr ist die Transportleistung eng an die Wirtschaftsleistung gekoppelt und stieg zwischen den Jahren 1990 und 2018 um 149 Prozent auf 84,3 Milliarden Tonnenkilometer (tkm) an; 73 Prozent dieser Transportleistung wurden 2019 auf der Straße erbracht (Anderl et al., 2021). Die Lkw-Fahrleistung im Inland (leichte und schwere Nutzfahrzeuge) stieg seit 1990 um rund 91 Prozent, die Transportleistung (in tkm) um 168 Prozent (Anderl et al., 2020). Im gleichen Zeitraum sank der relative Anteil der Bahn am Modal Split des gesamten Gütertransports von 34 auf 27 Prozent (Anderl et al., 2021).
Für den Personen- und Güterverkehr ist festzuhalten, dass Effizienzsteigerungen in der Fahrzeugantriebstechnik durch steigende Fahrleistungen (= „Fahraufwände“) sowie den Trend hin zu größeren, schwereren und stärkeren Fahrzeugen überkompensiert wird (Helmers, 2015). Erwähnenswert ist auch der Anteil der Kraftstoffexporte an den THG-Emissionen im Straßenverkehr, der für das Jahr 2019 mit 5,8 Megatonnen CO2-Äquivalent ausgewiesen wurde und sich seit 1990 aufgrund von Preisdifferenzen zum Ausland vervierfachte (Anderl et al., 2021) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Globales Ziel ist, die Mobilität schrittweise bis 2050 (United Nations General Assembly, 2015) bzw. in Österreich bis 2040 (BMK, 2021a) zu dekarbonisieren. Um die European-Green-Deal-Ziele zu erreichen, wäre eine Reduktion der verkehrsbedingten THG-Emissionen um 90 Prozent bis zum Jahr 2050 notwendig (Europäische Kommission, 2020d) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Diese Ziele wurden in einer Reihe von (verkehrs-)politischen Willenserklärungen (BMNT, 2018; Heinfellner et al., 2019; BMK, 2021b; ÖVP & Grüne, 2020) explizit festgehalten und Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele formuliert. Die vorgeschlagenen Maßnahmen reichen von der Ausweitung des Fußgeher_innen- und Radverkehrs über die Stärkung und den Ausbau des öffentlichen Verkehrs bis hin zur Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene und dem Einsatz von Agrartreibstoffen und der Steigerung des E-Mobilitätsanteils (Heinfellner et al., 2019). Als weitere sinnvolle und wirksame Maßnahmen werden eine Erhöhung der mineralöl- und motorbezogenen Versicherungssteuer, die Reduktion der generellen Höchstgeschwindigkeiten auf Autobahnen und im Freiland auf 100 bzw. 80 km/h, die Einführung von Citymauten, eine Qualitätsoffensive für das Zu-Fuß-Gehen, Radfahren und für den öffentlichen Verkehr sowie eine Einbeziehung der Umwelt- und Klimapolitik in die Raumplanung im Bereich Personenverkehr genannt (Heinfellner et al., 2019) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Im Güterverkehr werden Maßnahmen im Bereich Elektrifizierung, die Einhebung einer flächendeckenden Maut, Maßnahmen zur Einführung von Kostenwahrheit und Digitalisierungsinitiativen als erfolgversprechend ausgewiesen (Heinfellner et al., 2019) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Die wissenschaftliche Evidenz (EASAC, 2019; Heinfellner et al., 2019; BMK, 2021b) zeigt, dass die Zielerreichung der „Null-THG-Emission“ des motorisierten Verkehrs bis 2040 mit den oben genannten Maßnahmen alleine nicht erreichbar ist und es weitere, das Verkehrsverhalten beeinflussende Maßnahmen benötigt (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Hierzu werden unter anderem Maßnahmen und Konzepte wie „die Stadt der kurzen Wege“, die Neuverteilung und Attraktivierung des öffentlichen Raums sowie neue Formen der Verkehrsberuhigung (z. B. Superblocks) angeführt. Weiters werden die Internalisierung externer Kosten z. B. in Rahmen einer ökosozialen Steuerreform (CO2-Bepreisung) und eine technisch relativ einfach umsetzbare kilometerabhängige Abgabe, welche die Infrastruktur-, Unfallfolge-, Stau-, Lärm-, Feinstaub-, CO2- und weitere externe Kosten des motorisierten Güter- und Individualverkehrs adäquat bepreist, vorgeschlagen (Kirchengast et al., 2019). Diese flächendeckende Straßenbenutzungsgebühr könnte um tageszeit-, straßentyp- und fahrzeugtypabhängige Komponenten erweitert werden, um zielgerichtet steuernd auf die Verkehrsnachfrage einzuwirken.
Als weitere wirkungsvolle Maßnahmen werden genannt: (1) die Abschaffung „kontraproduktiver“ Subventionen im Verkehrssektor, z. B. Pendlerpauschale, Rahmenbedingungen für Firmenautos, Steuerbegünstigung von Diesel, Normverbrauchsabgabe, KFZ-Versicherungssteuergesetz, Fiskal-Lkw etc. (Kletzan-Slamanig & Köppl, 2016a); (2) die Einführung einer Verkehrserregerabgabe (Schopf & Brezina, 2015, S. 42 ff); (3) eine Anpassung der Bauordnungen hinsichtlich der Anzahl und räumlichen Anordnungen (Stichwort Äquidistanz) von Pkw-Stellplätzen bei Arbeitsstätten und Wohnanlagen (Knoflacher, 2007); und (4) eine Neuverteilung der Straßenraumflächen zugunsten Zufußgehender und Radfahrender (Knoflacher, 2007) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Festzuhalten ist, dass auf eine soziale Ausgewogenheit bei der Implementierung der oben vorgestellten verkehrspolitischen Maßnahmen zu achten ist, da ja vor allem durch monetäre Maßnahmen untere Einkommensschichten mehr belastet werden können, wenn erhöhte Steuern und Abgaben nicht adäquat rückverteilt werden (Dugan et al., 2022) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Strukturelle Maßnahmen im Bereich Verkehr, seien es Veränderungen in den Zuständigkeiten von Gebietskörperschaften, Änderungen in den Umsetzungsprozessen, der Bau von Infrastrukturen und die Änderungen von Oberzielen (z. B. Zugang zu gewährleisten und dabei innerhalb der planetaren Grenzen zu verbleiben anstatt Befriedigung der scheinbar unlimitierten Nachfrage an motorisierter individueller Mobilität), die Änderungen und Anpassung von Gesetzen etc., beanspruchen lange Zeiträume (5 bis 20 oder gar 30 Jahre), um wirksam zu werden. Erst wenn diese strukturellen Änderungen umgesetzt sind, sind – wiederum zeitverzögert – Verhaltensänderungen in der Gesellschaft und im dazugehörigen Wirtschaftssystem zu bemerken (Emberger, 1999). Da sich Österreich im Kontext des Pariser Klimaübereinkommens verpflichtet hat, dazu beizutragen, global eine Erwärmung von möglichst nicht mehr als 1,5 Grad einzuhalten, und bis 2040 ein dekarbonisiertes Verkehrssystem anstrebt, ist ein zielgerichtetes, ambitioniertes und rasches Handeln aller involvierten Akteur_innen notwendig (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Kapitel 7: Erwerbsarbeit
Das Kapitel beschäftigt sich mit Strukturbedingungen für klimafreundliche Erwerbsarbeit. Damit sind zum einen die Voraussetzungen für klimafreundliches Handeln im Rahmen der Berufstätigkeit gemeint. Zum anderen geht es um die Frage, wie Erwerbsarbeitsstrukturen gestaltet werden müssen, damit Menschen auch außerhalb ihrer Berufstätigkeit ein klimafreundliches Leben führen können.
Erwerbsarbeit ist von zentraler Bedeutung im Leben der Menschen. Sie ist nicht nur Quelle materieller Existenzsicherung, sondern ermöglicht soziale Einbindung, Sinnstiftung und Identitätsentwicklung. Zugleich hat Erwerbsarbeit enorme klimapolitische Relevanz, da sie unzählige Tätigkeiten und Abläufe beinhaltet, die mit Energie- und Ressourcenverbrauch verbunden sind (Tab. TZ.2). In der Literatur herrscht breiter Konsens darüber, dass Erwerbsarbeit ein bedeutendes Element des klimapolitischen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft ist (Bohnenberger, 2022; Seidl & Zahrnt, 2019).
Weite Bereiche der Erwerbsarbeit erfüllen gegenwärtig nicht die Voraussetzungen für ein klimafreundliches Leben (Hoffmann & Spash, 2021). Daher sind grundlegende Veränderungen der Strukturbedingungen von Erwerbsarbeit erforderlich (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Ambitionierte Dekarbonisierungspläne auf europäischer und nationaler Ebene erfordern einen grundlegenden Wandel insbesondere im Produktionssektor (Meinhart et al., 2022; Steininger et al., 2021; Streicher et al., 2020). Erwerbsarbeit im Dienstleistungssektor verursacht im Durchschnitt einen geringeren Ausstoß an Emissionen als die Güterproduktion. Allerdings beruhen viele dieser Tätigkeiten auf der vorgelagerten Herstellung von Gütern. Zudem existieren auch emissionsintensive Dienstleistungen, insbesondere im Verkehr (Hardt et al., 2020, 2021).
Die Strukturen der Erwerbsarbeit beeinflussen maßgeblich, inwiefern Erwerbstätige außerhalb ihrer Beschäftigung ein klimafreundliches Leben führen können. Arbeitsumfang, Belastungen, aber auch Erfahrungen von Sinn und sozialer Anerkennung im Rahmen der Erwerbsarbeit haben Auswirkungen auf das Handeln von Erwerbstätigen in der erwerbsfreien Zeit. In der Literatur zeichnen sich vier konzeptuelle Zugänge zu erwerbsarbeitsbezogener Klimapolitik ab: (1) Green Jobs (Janser, 2018); (2) Just Transition (ILO, 2015; TUDCN, 2019); (3) Sustainable Work (Barth et al., 2016; Littig et al., 2018; UNDP, 2015); und (4) Post-Work (Frayne, 2016; Hoffmann & Paulsen, 2020).
Klimafreundliche Erwerbsarbeit kann in manchen Sektoren durch Umstellung auf erneuerbare Energien und andere (technologische) Innovationen erreicht werden. Andere Bereiche erfordern Stilllegungen oder die Konversion zu klimafreundlicheren Produkten und Dienstleistungen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (UNDP, 2015). Mögliche Folgen für Erwerbsarbeit wurden beispielsweise für den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor (Sala et al., 2020; Wissen et al., 2020) erforscht. In der Transformationsphase dürfte das Arbeitsvolumen aufgrund des notwendigen Umbaus der Infrastruktur voraussichtlich konstant bleiben (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Aiginger, 2016). Längerfristig könnte eine Reduktion des Arbeitsvolumens erforderlich sein, um die ökologischen Grenzen nicht zu überschreiten (mittlere Übereinstimmung, schwache Literaturbasis) (Hoffmann & Spash, 2021; Seidl & Zahrnt, 2019).
Damit der notwendige Strukturwandel gelingen kann, ist in liberalen Demokratien die Einbindung aller wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte und die Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen erforderlich. Unternehmen und ihre Interessenvertretungen ebenso wie Gewerkschaften können dabei sowohl hemmende als auch treibende Kräfte des Strukturwandels sein (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Sowohl auf Seite der Arbeitnehmer_innen (unter anderem Littig, 2017; Niedermoser, 2017a; siehe auch „AK Klimadialog“: https://wien.arbeiterkammer.at) als auch auf Unternehmensseite besteht ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Transformation (z. B. BMK, 2021a; GLOBAL 2000, Greenpeace und WWF Österreich, 2017). Werden strukturelle Veränderungen angestrebt, sollen diese aktiv gestaltet werden und in ein Bündel an Maßnahmen eingebettet sein. Aus Sicht der Arbeitnehmer_innen sind die Gewährleistung materieller Absicherung sowie die gerechte Verteilung der Transformationskosten entscheidend (Laurent, 2021; ISW, 2019; ÖGB, 2021; Wissen et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis).
Erwerbsarbeit ist ein wichtiger Treiber von Wirtschaftswachstum. Bei steigender Arbeitsproduktivität können durch Wirtschaftswachstum Beschäftigungsverluste vermieden werden (Antal, 2014; Seidl & Zahrnt, 2019). Auf individueller Ebene schränkt die Koppelung von Einkommen, sozialer Sicherung, Anerkennung und Teilhabe an Erwerbsarbeit klimapolitische Gestaltungsspielräume ein (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Bohnenberger & Schultheiss, 2021; Hoffmann & Paulsen, 2020).
Technologische Entwicklungen wie die Digitalisierung sind ambivalent und können die sozial-ökologische Transformation entweder unterstützen oder behindern (Kirchner, 2018; Santarius et al., 2020). Damit Digitalisierung für eine klimafreundlichere und gute Erwerbsarbeit nutzbar gemacht werden kann, braucht es politische Gestaltung (mittlere Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Erleichtert wird die Gestaltung klimafreundlicher Strukturbedingungen von Erwerbsarbeit durch den Wertewandel hin zu einer ausgewogenen Work-Life-Balance, veränderte Sinnansprüche an Arbeit (Aichholzer et al., 2019) und Wünsche nach kürzeren Arbeitszeiten (Csoka, 2018; FORBA & AK, 2021) (mittlere Übereinstimmung, schwache Literaturbasis).
Um klimafreundliche Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, sind Investitionen in umweltfreundliche und kreislaufwirtschaftliche Produktionsverfahren notwendig (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Investitionen in öffentliche Infrastrukturen und Dienstleistungen (Daseinsvorsorge) können dazu beitragen, (1) klimafreundliche Beschäftigung zu stärken, (2) gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen und (3) eine sozialverträgliche Transformation zu gewährleisten (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Krisch et al., 2020; Schultheiß et al., 2021). Darüber hinaus könnte die Verschiebung der Steuerlast von Arbeit zu Energie und Ressourcen Beschäftigung stärken und Umweltverbrauch senken (Köppl & Schratzenstaller, 2019). Betriebliche Mitbestimmung und Partizipation sind eine Voraussetzung, um gemeinsam mit den Beschäftigten notwendige Veränderungen umzusetzen. Mehr Partizipation führt nicht automatisch zu klimafreundlicherem Verhalten, sondern erfordert entsprechende Begleitmaßnahmen in Betrieben sowie seitens der Politik (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Um den Strukturwandel zu bewältigen und klimafreundliche Erwerbsarbeit zu ermöglichen, müssen Arbeitnehmer_innen Zugang zu erforderlichen Qualifikationen erhalten (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Für Österreich wird ein Aktionsplan für zentrale Bereiche der Energiewende entwickelt, ebenso auf globaler Ebene (IRENA & ILO, 2021). Kommt es zu einem ökologisch induzierten Rückgang von Wirtschaftsaktivität und damit Arbeitsvolumen, können soziale Ziele nur erreicht werden, wenn Einkommen und soziale Sicherung (zumindest teilweise) von Erwerbsarbeit entkoppelt werden (Kubon-Gilke, 2019; Petschow et al., 2018). Vorschläge hierzu umfassen ein bedingungsloses Grundeinkommen (Mayrhofer & Wiese, 2020), die Bereitstellung umfassender Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Büchs, 2021; Coote & Percy, 2020) oder eine stärkere Eigenversorgung (Littig & Spitzer, 2011; Paech, 2012).
Eine wichtige Gestaltungsoption für klimafreundliche Erwerbsarbeit ist die Verkürzung der Arbeitszeit. Diese gilt als geeignete Maßnahme, um (1) ein klimafreundliches Leben außerhalb der Erwerbsarbeit zu erleichtern (mittlere Übereinstimmung, schwache Literaturbasis) (Schor, 2005, Knight et al., 2013) und um (2) das (möglicherweise längerfristig sinkende) Erwerbsarbeitsvolumen gleichmäßiger zu verteilen (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Figerl et al., 2021).
Kapitel 8: Sorgearbeit für die eigene Person, Haushalt, Familie und Gesellschaft
Im Folgenden wird die Literatur zu Sorgearbeit im Kontext klimafreundlichen Lebens dargelegt. Versorgung und Fürsorge der eigenen Person, von Haushalt, Familie und Gesellschaft sind unverzichtbare, (über-)lebensnotwendige, aber oft unsichtbare Tätigkeiten. Diese werden einerseits im Alltag wenig beachtet und andererseits auch in ökonomischen und ökologischen Analysen oft ignoriert (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Die Relevanz dieser unbezahlten Sorgearbeit für ein klimafreundliches Leben hängt davon ab, in welchem Umfang Güter, Dienstleistungen und Mobilität für diese Tätigkeiten erforderlich sind und eingesetzt werden, wie emissionsintensiv diese bereitgestellt werden und wie viel Zeit dafür zur Verfügung steht (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Strukturen für ein klimafreundliches Leben im Bereich unbezahlte Sorgearbeit und ehrenamtliches Engagement müssen diese zunächst sichtbar machen, um in einem nächsten Schritt die notwendigen Veränderungen der Rahmenbedingungen und Verhältnisse eines klimafreundlichen Alltags aller Menschen vorzunehmen. Weniger Zeitdruck, Entschleunigung und verringerte Mehrfachbelastungen sind wichtige Hebel, um klimafreundliche Entscheidungen im Alltag zu gewährleisten. Es braucht somit Rahmenbedingungen, die dazu beitragen, Zeitdruck zu mindern, Wege zu verringern und Unterstützung bei der Betreuung von Kindern und Familienangehörigen anzubieten (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Die derzeit ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit für die notwendige Versorgung von Menschen (Kinder, Ältere, Pflegebedürftige) ist nach wie vor stark von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung geprägt. Zeitdruck durch Erwerbs- und unbezahlte Sorgearbeit und Beschleunigung in Arbeitsleben und Alltag belasten Lebensqualität und Klima (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Mehr Geschlechter- und Sorgegerechtigkeit fördert gleichzeitig auch Klimagerechtigkeit (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Die Klimawirksamkeit von unbezahlter Sorgearbeit zeigt sich oft als Synergieeffekt mit anderen Handlungsfeldern: Je mehr Zeit für notwendige Sorgearbeit zur Verfügung steht, desto eher können klimafreundliche Praktiken entwickelt werden (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis).
„Fairteilen“ von unbezahlter und bezahlter Arbeit als Umverteilung zwischen den Geschlechtern, aber auch hin zum öffentlichen Sektor führt zu sozialem Ausgleich und ermöglicht klimafreundlichere Lebensweisen. Arbeitszeitverkürzung und gerechte Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit reduzieren Stress und machen klimafreundliche Praktiken attraktiver (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). In Haushalten ist der gemeinsame und reduzierte Verbrauch von Gütern und Energie ein wichtiger Faktor zur Verringerung von Emissionen, neben der Wohnungsgröße, dem Energiemix, dem Sanierungsgrad und energiesparenden Technologien (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (siehe Tab. TZ.1). Ausreichend Zeit, gute Informationen und vorhandene Kompetenzen sind notwendig für den klimafreundlichen Einkauf, die Produktion und Zubereitung von Lebensmitteln und nachhaltige Entscheidungen beim Essen außer Haus (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Für alle zugängliche und leistbare Infrastrukturen sind wichtig, um notwendige Wege zur Versorgung anderer Menschen, z. B. Pflegebesuche, Schulwege etc., nachhaltig zu gestalten (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Wenn Sorgearbeit und somit auch Freizeit gerechter verteilt werden, mindern sich jene Emissionen, die durch Zeitdruck entstehen, ebenso wie solche, die aus Zeit- und Einkommenswohlstand entstehen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Beschleunigung (Rosa, 2005) und Zeitdruck (Sullivan & Gershuny, 2018) sind besonders im Bereich der unbezahlten Sorgearbeit und Fürsorge bestimmend für Lebensqualität und Klimawirkungen von alltäglichem Verhalten (Schor, 2016; Shove et al., 2009). Zeitkulturen, z. B. auch der Umgang mit Tempo und Wartezeiten und die Bewertung von Kurz- oder Langlebigkeit von Produkten, werden als wichtige Faktoren für nachhaltige Ressourcennutzung gesehen (Rau, 2015) und sind auch bei Sorge- und Hausarbeit wichtige Faktoren. Ausreichend Zeit ist notwendig, um ein gesundes Leben mit Erholung, Bewegung und Sport führen zu können (APCC, 2018). Zeitwohlstand als immaterielle Form von Wohlstand trägt zu klimafreundlicheren Entscheidungen bei (Großer et al., 2020; Rinderspacher, 1985; Rosa et al., 2015).
Unbezahlte Care-Arbeit ist auch Thema bei Ansätzen zu „Vorsorgendem Wirtschaften“ (Biesecker, 2000; Biesecker & Hofmeister, 2006). In der neueren Debatte zu feministischen Postwachstumsideen wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, die verschiedenen Stränge der feministischen und Degrowth-Ansätze zu verknüpfen (Bauhardt, 2013; Dengler & Lang, 2019, 2022; Knobloch, 2019; Kuhl et al., 2011). Der Bedarf an einer feministischen Ergänzung zum Green Deal wird in einigen Ländern wahrgenommen (z. B. Cohen & MacGregor, 2020). Gender-Budgeting-Ansätze gibt es auch in Österreich. Wenn sie das Ziel haben, öffentliche Ausgaben auf Geschlechter- und Klimagerechtigkeit hin zu untersuchen, gibt es die Möglichkeit, auch im Sorgebereich Emissionseinsparungen zu erreichen (Schalatek, 2012). Auch die Raum-, Stadt- und Verkehrsplanung muss Sorgearbeit mitdenken, wenn sie Emissionsminderungen ermöglichen will. In einer „Stadt der kurzen Wege“ sollen Quartiere so geplant werden, dass zwischen Wohnort und vor allem Kindergärten/Schulen sowie Einkaufs- und möglichst auch zu Erwerbsmöglichkeiten kurze Wege liegen, die zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt werden können. Öffentliche Verkehrsmittel sollten sich nach diesem Konzept stärker an den Zeiten und Bedarfen der Sorgearbeit und Stadtentwicklung orientieren und weg von der autogerechten hin zur menschengerechten Stadt gedacht werden (Bauhardt, 1995).
Neben Sorgearbeit gibt es auch weitere Tätigkeiten, die außerhalb der ökonomischen Betrachtung liegen. Ehrenamtliche Tätigkeiten, die dazu dienen, Gemeinschaft und Gesellschaft zu bilden und zu pflegen, aber auch alle Aktivitäten mit dem Ziel der Selbstversorgung sind Teil einer Sorge für Gesellschaft und Natur. Diese Tätigkeiten tragen auch zum Aufbau von Gemeinschaft, zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen und eventuell zur Reduktion von Klimawirkungen bei. So trägt der Trend zu eigener Gemüseproduktion oder „urban gardening“ als emissionsarme Produktion von Lebensmitteln dazu bei, CO2-Emissionen zu verringern (Cleveland et al., 2017). Wenn für ehrenamtliche und alternative Aktivitäten zur Subsistenzsicherung Zeit aufgewendet wird, die dann nicht für Erwerbsarbeit und marktliche wirtschaftliche Produktion zur Verfügung steht, trägt das auch indirekt zu Emissionseinsparung und einem klimafreundlichen Leben bei; insbesondere da weite Teile der Erwerbsarbeit in Österreich die Voraussetzungen für ein klimafreundliches Leben nicht erfüllen (vergleiche Kap. 7). Zeitbanken zeigen z. B. eine Möglichkeit, Sorge- und Betreuungsarbeit und Erwerbsarbeit in Beziehung zu setzen und so sozial- und klimagerechtere Arbeitszeitkontingente zu schaffen (Bader et al., 2021; Schor, 2016).
Sorgearbeit und Qualität von Sorgearbeit sind abhängig von menschlicher Interaktion und damit von Zeit. Strukturelle Zwänge führen zu Zeitknappheit bzw. mangelnder Zeitsouveränität. Dies bedingt – sofern finanziell möglich – einen Konsum mit erhöhtem Ressourcen- und Energieverbrauch. Gleichzeitig wachsen mit höheren Einkommen auch die Ansprüche z. B. im Haushaltsbereich (Küchenausstattung, höhere Hygienenormen, steigende Wellness-Ansprüche). Klimafreundliche Zeitpolitik (Reisch & Bietz, 2014) und sorgegerechte Zeitpolitik (Heitkötter et al., 2009) fokussieren auf Zeit als Hebel für politische Gestaltung und verbinden die beiden Anliegen: Wenn Menschen mehr Zeit haben und Sorgearbeit gerechter (zwischen den Geschlechtern) verteilt wird, könnten sie klimafreundlicher handeln (Hartard et al., 2006; Rau, 2015; Schor, 2016).
Eine Zeitperspektive hilft dabei, sozial-ökologische Interaktionen zu analysieren und den Arbeitsbegriff neu zu definieren und zu erweitern (Biesecker et al., 2012; Biesecker & Hofmeister, 2006). Die Neubewertung von verschiedenen Formen von Arbeit, bezahlt und unbezahlt, für Produktion und Reproduktion von den gesellschaftlichen Subsystemen Person, Haushalt, Wirtschaft und Gesellschaft führt zu mehr Geschlechtergerechtigkeit und einer vorsorgenden Gesellschaft. Eine besser verteilte Sorge für diese Subsysteme verringert soziale Ungleichheiten und damit einhergehenden Zeitdruck und Überlastung bei einem Teil und (zu) hohen Konsum bei einem anderen Teil der Gesellschaft: „Gelänge es, größere Spielräume in der Zeitverwendung durch Zeitwohlstand zu schaffen, so wäre es denkbar, dass in vielen Lebenswelten ressourcenintensive Praktiken mit zeitintensiven substituiert werden“ (Buhl et al., 2017). Freiwerdende Kapazitäten können für mehr Sorge für die Natur (Hofmeister & Mölders, 2021) und zum Aufbau von Strukturen für ein gerechtes und klimafreundlicheres Leben verwendet werden (Winker, 2021) und stellen damit wertvolle Co-benefits dar.
Kapitel 9: Freizeit und Urlaub
Kap. 9 bewertet Literatur zu Strukturen für klimafreundliche Freizeit- und Urlaubsaktivitäten in Österreich. Die Klimafreundlichkeit von Freizeitaktivitäten und Urlaub hängt davon ab, wie klimafreundlich die dafür genutzte Mobilität, die gewählten Räumlichkeiten und deren Energieversorgung sind, wie emissionsintensiv die für Freizeitaktivitäten und Urlaube genutzten Sachgüter und Dienstleistungen bereitgestellt werden, wie viel Zeit zur Verfügung steht und welchen konkreten Tätigkeiten nachgegangen wird (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Der THG-Fußabdruck von Freizeitaktivitäten ist entlang von Einkommensgruppen ungleich verteilt, da wohlhabendere Haushalte tendenziell mobiler sind und eine konsumintensivere Freizeit- und Urlaubsgestaltung aufweisen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Durch Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Digitalisierung von Freizeitaktivitäten verursachte Emissionen nehmen laufend zu. Für die Einschätzung der Klimawirkungen von digitalen oder nichtdigitalen Optionen ist es notwendig, den gesamten Produktlebenszyklus systematisch zu vergleichen (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Freizeitaktivitäten im Freien sind durch den Klimawandel bereits betroffen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Freizeit und Erholung dienen der Regeneration und haben eine hohe Bedeutung für die Lebensqualität der Menschen in Österreich. Daher ist es wichtig, klimafreundliche Alternativen mit Erholungswert zu finden und ressourcen- und energieintensive Aktivitäten in allen Einkommensgruppen zu reduzieren. Die Emissionsintensität der Mobilität dominiert die Belastung, aber auch Güter und Dienstleistungen sind ausschlaggebend für die Klimafreundlichkeit von Freizeitaktivitäten und Urlaub (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Tab. TZ.3). Dienstleistungen können klimafreundlicher als Sachgüter sein. Dafür ist jedoch erforderlich, dass die Produktionsnetzwerke, die Bereitstellung der Dienstleistung und die Energiebereitstellung klimafreundlich gestaltet sind bzw. erfolgen. Für die Bewertung sind die entsprechenden Informationen aus Perspektive der Lebenszyklusanalyse notwendig (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Alltäglicher Zeitdruck durch Erwerbs- und Sorgearbeit und die Beschleunigung in Arbeitsleben und Alltag können klimaschädliches Freizeitverhalten als einfacheren und schnelleren Weg erscheinen lassen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Gesellschaftliche Normen strukturieren Freizeitpraktiken entlang der (oft genderspezifischen) Arbeitsteilung von bezahlter Arbeitszeit und Sorgearbeit (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Gesellschaftlich verbreitete Praktiken der Freizeitgestaltung sind zentral dafür, was als „normale“ bzw. akzeptable Tätigkeiten betrachtet wird und wie diese durchgeführt werden, z. B. Ferntourismus versus lokale/regionale Erholung oder Radfahren versus Motorradfahren als Hobby (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Freizeit ist ein Lebensbereich mit sehr vielfältigen individuellen Handlungsoptionen, der aber trotzdem stark strukturellen Bedingungen unterliegt. So wirken etwa gesellschaftliche Normierungen und verbreitete Praktiken oder die vorhandenen Infrastrukturen und Möglichkeiten auf individuelle Entscheidungen. Die Hauptantriebskräfte alltäglicher Zeitnutzungsmuster sind die Arrangements rund um bezahlte und unbezahlte Arbeit und Bildung sowie Wohnort und vorhandene (Mobilitäts-)Infrastrukturen und die räumlich-zeitliche Erreichbarkeit von Freizeitangeboten. Das Ausmaß an Arbeitsstunden und ihre zeitliche Gestaltung sowie die Betriebszeiten von Bildungseinrichtungen und die für das Pendeln benötigte Zeit formen, beschränken und ermöglichen andere Zeitnutzungsaktivitäten.
Zeitknappheit aufgrund von Betriebszeiten, niedrige Work-Life-Balance und Doppelbelastungen beeinflussen die CO2-Intensität anderer Aktivitäten durch Entscheidungen über Verkehrsmittel (Individualverkehr versus öffentlicher Verkehr) und Konsummuster (z. B. Fast Food). Ein Fokus auf Zeitwohlstand für alle bietet die Chance, klimafreundliches Leben mit dem Ziel „viel Freizeit selbstbestimmt und mit klimafreundlichen Tätigkeiten verbringen“ zu definieren und nicht in den Vordergrund zu stellen, dass Individuen verzichten und über Konsumexpertise im Sinne von „weniger und anders konsumieren“ verfügen (Schor, 2016). Zeitpolitische Maßnahmen (Reisch, 2015) können sektorübergreifend Lösungen für soziale und wirtschaftliche Probleme bieten. Wenn sie Umweltfragen miteinschließen, können sie auch ein Beitrag zu einer klimafreundlichen Entwicklung sein.
Effiziente, qualitativ hochwertige, langlebige, gemeinsam nutzbare und reparaturfähige Produkte sind für eine klimafreundliche Freizeit notwendig. Ebenso wichtig ist die Abkehr von Geschäftsmodellen, welche auf der Beschleunigung von Produktlebenszyklen basieren, wie beispielsweise „Fast Fashion“ oder rasche Obsoleszenz bei Smartphones (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Zeitsouveränität und mehr Freizeit könnten zu weniger Zeitdruck und mehr Wohlbefinden bei einem niedrigeren THG-Fußabdruck führen, wenn diese Praktiken wenig bzw. emissionsfreie Mobilität benötigen, Wohnräume emissionsfrei betrieben werden und die sonstigen involvierten Produkte sehr effizient sind und lange genutzt bzw. repariert werden (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Die Bereitstellung von Infrastruktur und Services für Erholung im öffentlichen Raum, die kostenlos und zu Fuß erreichbar sind, trägt zu Änderungen der Praktiken bei der Freizeitgestaltung bei. Öffentliche Dienstleistungen und kommunale Infrastruktur – z. B. Grünflächen, Sport- und Freizeiteinrichtungen mit geringen Kosten und CO2-Emissionen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln in kurzer Zeit erreichbar sind – ermöglichen CO2-sparsamere Freizeitpraktiken (Druckman & Jackson, 2009; Jalas & Juntunen, 2015; Rau, 2015).
Da die Klimaproblematik der Freizeit, der Urlaube und des sonstigen Konsums, abseits von Mobilität und Wohnen, hauptsächlich indirekt durch die Produktion von Gütern und Dienstleistungen entsteht, benötigt es eine Kombination aus Maßnahmen. Ganz klar muss die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen und deren Produktion klimafreundlicher gestaltet werden. Eine Neubewertung von Arbeit und Freizeit mit dem Fokus auf Entschleunigung und Zeitwohlstand ermöglicht es, Freizeit zu entschleunigen und weniger konsumintensiv zu leben, und bewirkt damit niedrigere Emissionen und weniger Ressourcenverbrauch (Creutzig et al., 2021). Einigkeit gibt es in der Literatur darüber, dass ein Mix an Maßnahmen (Kostenwahrheit, Emissionsbepreisung, Ressourcensteuern, verbindliche Standards und Auflagen) notwendig ist, um diese Ziele zu erreichen:
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strukturelle Änderungen, die Entschleunigung und ein gutes Leben für alle fördern,
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eine rasche Dekarbonisierung der Energieversorgung und der Mobilität,
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eine rasche Dekarbonisierung der globalisierten Produktion von Gütern und Dienstleistungen,
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die Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz von Produkten,
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mehr Produkte mit entschleunigten und verlängerten Produktlebenszyklen und
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innovative Produkte, die repariert werden (können) und von mehreren Personen genutzt werden können.
Teil 3: Strukturbedingungen
Kapitel 10: Integrierte Perspektiven der Strukturbedingungen
Strukturen wirken auf vielfältige Weise auf alltägliches Handeln und ihre adäquate Gestaltung ist daher notwendig, um klimafreundliches Verhalten dauerhaft zu ermöglichen. Die in Teil 3 behandelten Strukturen fördern oder behindern eine Transformation in Richtung klimafreundlichen Lebens maßgeblich und sind quer durch alle Handlungsfelder von Relevanz. Die einzelnen Strukturen, deren Analyse sich so weit möglich auf die besonderen Bedingungen in Österreich bezieht, thematisieren unterschiedliche Bereiche, die von Strukturveränderungen betroffen sind: Recht, Governance, Strukturen der öffentlichen Willensbildung in Diskursen und Medien sowie in Bildung und Wissensproduktion als auch wirtschaftliche Aktivitäten einschließlich ihrer technischen Dimensionen und der zugehörigen Innovationssysteme. Ebenso werden Bereiche wie räumliche Ungleichheit und Raumplanung sowie soziale Sicherungssysteme in den Blick genommen. Der Teil betrachtet zudem die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen generell, legt aber auch einen Akzent auf globalisierte Warenketten und Geld- und Finanzsysteme, um die interdependenten Strukturen über die Grenzen Österreichs hinaus zu thematisieren. Die strukturierende Rolle der gebauten Umwelt wird im abschließenden Kapitel zu netzgebundenen Infrastrukturen diskutiert.
Die bis heute bestehenden Strukturen sind nicht dazu geeignet, ein klimafreundliches Leben für alle Menschen in Österreich zu fördern. Interne Dynamiken, starke Beharrungskräfte, Lock-in-Effekte und Pfadabhängigkeiten hemmen die notwendigen Veränderungen. Um die Klimaziele zu erreichen, wird die Umgestaltung oder der Aufbau neuer Strukturen als essenziell betrachtet. Der Fokus auf das Zusammenwirken unterschiedlicher Strukturen quer über einzelne Handlungsfelder (Teil 2), aber auch auf die Wechselbeziehungen der Strukturen untereinander ermöglicht handlungsrelevante Erkenntnisse, wie und mit welchen Maßnahmen bestehende Strukturen tatsächlich – im Sinne eines wirkungsvollen Klimaschutzes – gestaltet werden können.
Die Umgestaltung von Strukturbedingungen ermöglicht Akteur_innen, ihr Leben (Arbeit, Konsum, Freizeit) wirksam, dauerhaft und ohne unzumutbaren Aufwand klimafreundlich zu führen. In Bezug auf die Gestaltung von Strukturveränderungen ist zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß individuelle und kollektive Akteur_innen (z. B. Verbände) gemäß ihres Machtpotenzials, ihrer Ressourcenausstattung oder Organisationsfähigkeit in der Lage sind, gegenwärtige Strukturen zu bewahren oder zu verändern. Der Teil beschäftigt sich einerseits mit unmittelbar handlungsrelevanten Strukturen (z. B. im Recht, bei den netzgebundenen Infrastrukturen, in der Produktion etc.), deren Veränderung direkt auf die Möglichkeiten für klimafreundliches Verhalten einwirken. Andererseits werden auch Strukturen behandelt, die indirekt wirken und die Voraussetzung für den Aufbau von klimafreundlichen Strukturen schaffen (z. B. Governance, Bildung und Wissenschaft, Innovationssystem etc.). Eine wichtige Erkenntnis dieses Teils liegt darin, dass sowohl direkt als auch indirekt wirksame Strukturen für die Durchsetzung eines klimafreundlichen Lebens von großer Bedeutung sind und es unerlässlich ist, sie durch demokratisches und koordiniertes Handeln zu gestalten, wenn die Zielsetzungen des Pariser Klimavertrags und die entsprechenden Ziele der österreichischen Bundesregierung erreicht werden sollen.
Kapitel 11: Recht
Maßnahmen für ein klimafreundliches Leben werden in zahlreichen Handlungsfeldern, die auch im Rahmen dieses Berichts thematisiert werden, rechtlich umgesetzt und instrumentiert. Auf diese Weise schafft Recht Strukturen für ein klimafreundliches Leben. Das Recht ist dabei allerdings von vielfältigen Querverbindungen und Über- und Unterordnungsbeziehungen geprägt, die wiederum Gestaltungsentscheidungen ermöglichen, einschränken oder verunmöglichen. Das Recht hat damit strukturprägende Wirkung für das klimafreundliche Leben. Die Rechtsmaterien, die für ein klimafreundliches Leben von struktureller Bedeutung sind, gehen über das Umwelt- und Klimaschutzrecht hinaus und umfassen weitere Rechtsbereiche, wie z. B. das Finanzverfassungsrecht, das internationale Handelsrecht oder das Wohnrecht (Madner, 2015a; Schulev-Steindl, 2013) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Das für ein klimafreundliches Leben relevante Recht wird auf mehreren Ebenen gestaltet und vollzogen. Es schafft eine Struktur, die für die Rechtsetzung und Vollziehung einerseits Möglichkeiten bietet, andererseits aber auch Beschränkungen enthält (Peel et al., 2012; Scott, 2011). Vielfach setzt der Rechtsrahmen der Gesetzgebung Schranken, z. B. durch die Grundrechte (Kahl, 2021). Manche Gestaltungsbedingungen sind nur unter erschwerten rechtlichen Bedingungen veränderbar, z. B. die Kompetenzverteilung im österreichischen Bundesstaat, die nur durch Verfassungsänderung neu gestaltet werden kann. Generell bestehen Kompetenzabgrenzungs-, Abstimmungs- und Koordinierungserfordernisse von der internationalen über die europäische und bundesstaatliche bis zur lokalen Ebene (Schlacke, 2020; Ennöckl, 2020; Raschauer & Ennöckl, 2019; Ziehm, 2018; Horvath, 2014; Madner, 2010, 2005a) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Es gibt in Österreich kein explizites Grundrecht auf Umwelt- bzw. Klimaschutz, auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die im Verfassungsrang steht, beinhaltet kein Grundrecht auf Schutz der Umwelt „als solche“. Aus ihren Garantien können jedoch umweltrelevante Schutzpflichten abgeleitet werden (Grabenwarter & Pabel, 2021; Schnedl, 2018; Ennöckl & Painz, 2004; Wiederin, 2002) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). In einzelnen europäischen Ländern haben Gerichte Klagen betreffend stärkerer Klimaziele stattgegeben und dafür die Garantien der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. Staatsziele herangezogen (siehe z. B. BVerfG 24.03.2021, 1 BvR 2656/18). Aktuell sind beim Europäischen Gerichtshof für Menschrechte mehrere Fälle anhängig, die sowohl die Frage nach Klimaschutzpflichten von Staaten als auch explizit die Frage nach einem Recht auf wirksame Beschwerde im Zusammenhang mit fehlenden Klimaschutzmaßnahmen betreffen (Duarte Agostinho u. a. gegen Portugal u. a., anhängig; Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u. a. gegen Schweiz, anhängig; Mex M. gegen Österreich, anhängig).
Das Unionsrecht prägt den Handlungsspielraum des nationalen Gesetzgebers auch in der Klimaschutzgesetzgebung stark. Der Einsatz marktbasierter Instrumente ist mit dem Emissionshandel (ETS) für die emissions- und energieintensive Industrie und Teile des Energiesektors auch für Österreich EU-rechtlich vorgegeben (Madner, 2005b; Schulev-Steindl, 2013). Nationale Handlungsspielräume bestehen vorwiegend im Non-ETS-Bereich (Abfallwirtschaft, Landwirtschaft und Energie sowie derzeit noch für die Sektoren Gebäude und Verkehr, deren Einbeziehung in das Emissionshandelssystem jedoch mittelfristig geplant ist) (Fitz & Ennöckl, 2019) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Das nationale Klimaschutzgesetz (KSG) soll die Klimapolitik im Non-ETS-Bereich koordinieren (Abfallwirtschaft, Landwirtschaft und Energie sowie derzeit noch Gebäude und Verkehr), seine Steuerungs- und Durchsetzungskraft wird aktuell aber als gering eingeschätzt. Es gilt als aktualisierungsbedürftig. Weitgehender Konsens herrscht über die Notwendigkeit eines Klimaschutzgesetzes, das strategische Zielvorgaben im Einklang mit den Pariser Klimazielen sowie effektive Sanktionsmechanismen enthält (Ennöckl, 2020; Schulev-Steindl et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Ein effektives nationales Klimaschutzgesetz soll zudem ein Verbesserungsgebot enthalten, um die österreichischen Klimaziele gegen Rückschritte abzusichern (Schulev-Steindl et al., 2020; Kirchengast & Steininger, 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
In der österreichischen Bundesverfassung fehlt ein einheitlicher Kompetenztatbestand „Umwelt“ oder „Klima“ (Horvath, 2014). Die Einführung einer eigenen Bedarfskompetenz Klimaschutz auf Bundesebene wird als notwendige Strukturbedingung erachtet, um umfassende Regelungen für den Klimaschutz zu ermöglichen und einheitliche Klimaschutzstandards zu schaffen (Schulev-Steindl et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Als notwendige strukturelle Hebel werden in der Literatur zudem Maßnahmen im Bereich des Finanz-, Steuer- und Förderrechts betrachtet; so werden insbesondere eine adäquate CO2-Bepreisung, aber auch eine ökologische Umgestaltung des Steuer- und Beihilfenrechts (z. B. Neugestaltung der Kommunalsteuer), die Verknüpfung der Wohnbauförderung mit ökologischen Kriterien und generell die Orientierung des Finanzausgleichs an raum- und klimarelevanten Parametern thematisiert (Mitterer, 2011, Madner & Grob, 2019, Kanonier, 2019 jew mwN) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Verwaltungsinterne Ressortgegensätze prägen die Gestaltung der Umwelt- und Klimapolitik auf europäischer und nationaler Ebene (Hahn, 2017; Madner, 2007; Bohne, 1992). Die „siloförmige“ Ausgestaltung der nach dem Ressortprinzip gegliederten österreichischen Verwaltung wird als hemmend für die Bearbeitung von Querschnittsthemen wie Klimaschutz angesehen (Hahn, 2017). Die Europäische Kommission hat mit dem Initiativrecht zur Legislative eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des europäischen Klimaschutzrechts (z. B. European Green Deal). Gegenüber den Mitgliedsstaaten prägen z. B. die Überprüfungsrechte bei der Erstellung nationaler Klimaschutzpläne, aber auch die Befugnis zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren die klimapolitische Rolle der Kommission. Gleichzeitig wird das Kollegialorgan Kommission als Hüterin des Binnenmarkts und als Initiatorin weitreichender Liberalisierungen oft als Promotorin von dem Klimaschutz gegenläufigen Interessen wahrgenommen (Bürgin, 2021) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Die Stärkung von Umweltorganisationen in umweltrelevanten Genehmigungsverfahren wird als für den Klimaschutz besonders förderlich angesehen, wenngleich die Beurteilung im Zusammenhang mit Projekten zum Ausbau erneuerbarer Energie differenziert ausfällt (Berger, 2020; Schwarzer, 2018; Schmelz et al., 2018; Sander, 2017; Schmelz, 2017a). Aus der Perspektive von Projektbetreiber_innen wird verstärkte Öffentlichkeitsbeteiligung von Umweltorganisationen oft grundsätzlich als Hemmnis für den Wirtschaftsstandort qualifiziert (Bergthaler, 2020; Schmelz, 2017a, 2017b; Niederhuber, 2016) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Im Kontext von Klimaklagen wird auch Gerichten eine wichtige Funktion für den Klimaschutz zugeschrieben. Durch ihre Kontrollfunktion sollen sie eine defizitäre Klimaschutzgesetzgebung und ungenügende Berücksichtigung des Stands der Wissenschaft identifizieren und bestehende Pflichten des Gesetzgebers konkreter fassen können (Schulev-Steindl, 2021; Schnedl, 2018; Krömer, 2021). Diese Rolle der Gerichte für den Klimaschutz ist wesentlich von Grundrechten oder anderen einklagbaren Rechten und dem Zugang zu Gerichten abhängig (Krömer, 2021; Peel & Osofsky, 2018; Colombo, 2018). Mit Blick auf die Gewaltenteilung wird eine solche Rollenzuschreibung in der Literatur teilweise auch kritisch gesehen (Wegener, 2019, Saurer, 2018) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Ein Grundrecht auf Klimaschutz würde es Einzelnen (und gegebenenfalls auch juristischen Personen) ermöglichen, Entscheidungen und Maßnahmen, die in Konflikt mit dem Klimaschutz stehen, vor Gerichten anzufechten und so Entscheidungsträger_innen stärker in die Pflicht zu nehmen (Ennöckl, 2021). Um dies leisten zu können, müsste ein solches Grundrecht mit adäquaten Bestimmungen über den Zugang zu Gerichten verbunden werden (Krömer, 2021; Schulev-Steindl, 2021). In Ergänzung zum Grundrecht auf Klimaschutz könnte eine Grundpflicht zum Ressourcen- bzw. Klimaschutz die (wachsende) Inanspruchnahme von Ressourcen begrenzen (Winter, 2017). Rechte der Natur werden verschiedentlich als notwendiger Schritt hin zur Abkehr von der Instrumentalisierung der Natur bzw. als Chance verstanden, Rechtsinstrumente gänzlich neu zu denken (Epstein & Schoukens, 2021; Kauffman & Martin, 2021; Darpö, 2021; Krömer, 2021; Fischer-Lescano, 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
In der Diskussion um Gestaltungsoptionen auf der nationalen Ebene werden in der Literatur im Einklang mit den identifizierten notwendigen Strukturbedingungen die Verankerung eines Grundrechts auf Klimaschutz (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis), ein eigener Kompetenztatbestand „Klimaschutz“ (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis), ein effektives Klimaschutzgesetz (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) und eine ökologische Steuerreform (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) als besonders relevant hervorgehoben.
Maßnahmen zum Klimaschutz, die auf der internationalen, EU- und/oder nationalen Ebene gesetzt werden, stehen oftmals in einem Spannungsverhältnis zu den auf Handelsliberalisierung ausgerichteten Zielen des WTO-Rechts (Du, 2021; Mayr, 2018; Müller & Wimmer, 2018) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Der Schutz des Wettbewerbs prägt als ein zentrales Anliegen der europäischen Wirtschaftsverfassung die Ausrichtung der österreichischen Wirtschaftsverfassung und die Gestaltungsspielräume nationaler Gesetzgebung, unter anderem auch in der Daseinsvorsorge. (Madner, 2022; Müller & Wimmer, 2018; Griller, 2010; Hatje, 2009) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Um die Fragmentierung im internationalen Recht zu überwinden und das Welthandelsrecht stärker in den Dienst von Nachhaltigkeitszielen zu stellen, bedarf es einer Neuausrichtung der globalen Handelspolitik an den übergreifenden Zielen sozialer und wirtschaftlicher Stabilität und ökologischer Nachhaltigkeit (Ruppel, 2022; Neumayer, 2017; Vranes, 2009; Bernasconi-Osterwalder et al., 2005; Weinstein & Charnovitz, 2001) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Eine Reihe zivilgesellschaftlicher Akteur_innen und breite zivilgesellschaftlichen Allianzen (z. B. das Netzwerk Seattle to Brussels), Thinktanks (z. B. das International Institute for Sustainable Development (IISD), siehe International Institute for Sustainable Development, 2021), aber auch die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung („Geneva Principles for a Global Green New Deal“, siehe Gallagher & Kozul-Wright, 2019) haben Vorschläge für eine grundlegende Umgestaltung der internationalen und europäischen Handelspolitik vorgelegt, die als notwendig erachtet werden, um die Umwelt- und Klimakrise zu bewältigen und den nachteiligen Folgen der Globalisierung zu begegnen (z. B. Gallagher & Kozul-Wright, 2019) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Als besonders wichtig werden dabei folgende Optionen genannt: Die Sicherstellung des Rechts, staatliche Regulierung zum Schutz von Gesundheit, Sozialem und Umwelt einzusetzen („right to regulate“); die Festlegung von verbindlichen Unternehmenspflichten für die Einhaltung von Menschenrechten, die Sicherstellung von Freiräumen für die lokale und regionale Wirtschaft sowie die Stärkung sozial-ökologischer öffentlicher Auftragsvergabe (Krajewski, 2021; Schacherer, 2021; Eberhardt, 2020; Petersmann, 2020; Schill & Vidigal, 2020; Strickner, 2017; Attac, 2016; Kube & Petersmann, 2018; Schmidt, 2021; Bernasconi-Osterwalder & Brauch, 2019) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Kapitel 12: Governance und politische Beteiligung
Dieses Kapitel fasst die Literatur zum Thema Governance der Klimakrise in Österreich zusammen. Es geht dabei der Frage nach, welche Akteur_innen und Strukturen Klimapolitik in Österreich prägen. Dabei sind sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Aspekte der gesellschaftlichen Steuerung relevant. Im Fall von Österreich kommt an den Schnittstellen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eine Besonderheit hinzu, die es in ähnlicher Form nur in wenigen Ländern gibt: die Sozialpartnerschaft als zentraler Bestandteil eines korporatistischen Regierungssystems. Kap. 12 im Bericht analysiert, wie vor allem staatliche und sozialpartnerschaftliche Akteur_innen die österreichische Klimapolitik bis 2019 prägten, welche Rolle die EU dabei spielte und was sich seit 2019 veränderte.
Die Klimapolitik der Bundesregierungen fand ihren Ausdruck in drei Klimastrategien (2002, 2007 und 2018), einem Klimaschutzgesetz und entsprechenden Novellen (2011, 2012, 2017) sowie zwei Maßnahmenprogrammen für die Jahre 2013/2014 und 2015 bis 2018. Obwohl es sich dabei um verschiedene Ansätze zur Koordination und Umsetzung von klimapolitischen Maßnahmen handelt, gelang es keinem dieser Ansätze die Treibhausgasemissionen im Einklang mit den Zielsetzungen der Bundesregierung zu senken. Wie Abb. TZ.11 zeigt, wurden mit einer Pandemie-bedingten Ausnahme bislang alle Klimaziele verfehlt. Somit ist Österreich auch eines der wenigen nördlichen Länder in Europa, das Emissionen im Inland seit 1990 nicht reduziert hat (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Steurer & Clar, 2015; Clar & Scherhaufer, 2021).
Dieses klimapolitische Versagen Österreichs ist auch auf die föderale Struktur, die Sozialpartnerschaft und eine lange Zeit passive Zivilgesellschaft zurückzuführen, die der vorherrschenden Prioritätensetzung bis 2019 nichts entgegensetzen konnte (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Das föderale System Österreichs weist eine hohe Divergenz bei den Ziel- und Entscheidungsstrukturen, Handlungsspielräumen und Zeithorizonten auf. Die Kompetenzverteilung für Raumordnung, Verkehr sowie Gebäude erschwert die bundesstaatliche Entscheidungsfindung und damit eine zielorientierte Dekarbonisierung. Bundesländer haben wichtige Kompetenzen für Raumordnung, Verkehr sowie Gebäude, sind aber selbst nicht an die vom Bund mit der EU akkordierten Klima-Ziele gebunden. Auch deshalb hat Klimaschutz für die Landesregierungen oft nur einen geringen Stellenwert (Steurer et al., 2020).
Die vier Sozialpartner, darunter besonders die Wirtschaftskammer sowie die Industriellenvereinigung, haben klimapolitische Fortschritte wiederholt abgeschwächt, verzögert oder gänzlich verhindert (Pesendorfer, 2007; Steurer & Clar, 2015; Niedermoser, 2017a; Brand & Niedermoser, 2019; Clar & Scherhaufer, 2021). Umweltpolitik war schon in den 1970ern meist nur dann ohne nennenswerten Widerstand möglich, wenn er im Sinne einer ökologischen Modernisierung wirtschaftlichen Interessen dienlich war (Pesendorfer, 2007).Footnote 1 Diese umweltpolitische Tradition dominiert das Politikfeld Klima bis heute (Steurer & Clar, 2015; Clar & Scherhaufer, 2021). Nur bei der Arbeiterkammer und den Gewerkschaften zeigt sich in den letzten Jahren ein langsamer Prozess des Umdenkens, der innerhalb der Gewerkschaften allerdings durchaus umstritten ist (Brand & Niedermoser, 2019; Niedermoser, 2017a; Segert, 2016; Soder et al., 2018; vgl. Kap. 14).
Seit 2019 haben sich zwei Governance-Aspekte verändert: Gesellschaftliche Bewegungen wie Fridays for Future haben im Jahr 2019 eine neue Dynamik in das Politikfeld Klima gebracht. Durch diese Dynamik bestärkt wurde 2020 ein Klimaschutzministerium eingerichtet, das zielorientierte Klimapolitik voranzutreiben versucht, allerdings oft auf regierungsinternen, sozialpartnerschaftlichen und/oder föderalen Widerstand trifft (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis; Clar & Scherhaufer, 2021).
Das strukturell geprägte Zusammenspiel bremsender klimapolitischer Kräfte hatte zur Folge, dass Österreich seine Rolle als umweltpolitischer Vorreiter eingebüßt hat. Umweltpolitische Fortschritte waren etwa seit dem EU-Beitritt im Jahr 1995 im Wesentlichen aufgrund von EU-Vorgaben oder in Fällen möglich, in denen auch kurzfristig wirtschaftliche Vorteile erwartet wurden. Da Klimaschutz lange Zeit nicht mit wirtschaftlichen Vorteilen in Verbindung gebracht wurde, haben sämtliche Bundesregierungen die Verfehlung von klimapolitischen Zielen bewusst in Kauf genommen (Pesendorfer, 2007; Pfoser, 2014). Für die Übertretung des Kyoto-Ziels musste Österreich knapp 700 Millionen Euro bezahlen (Steurer & Clar, 2014). Ein Verfehlen des Ziels für den Zielpfad bis 2030 würde angesichts erwartbar hoher CO2-Preise voraussichtlich ein Vielfaches an Kosten verursachen. Dies war in vielen anderen Ländern zwar ähnlich (Nash & Steurer, 2019), allerdings klafften Zielsetzungen und tatsächliche Emissionen in kaum einem Land der EU so drastisch auseinander wie in Österreich (Rechnungshof, 2021).
Angemessene Klimapolitik hat in Österreich erst ansatzweise in wenigen Bereichen (etwa dem Ausbau der erneuerbaren Energieversorgung) begonnen. Folglich weicht Österreich nach wie vor weit von jenem Zielpfad ab, der sich aus der selbst gesteckten Vision, bis 2040 klimaneutral werden zu wollen, ergeben würde (vgl. Abb. TZ.12). Die nun anstehende Herausforderung einer gesellschaftlichen Transformation wird nur gelingen, wenn der bis 2019 vorherrschende „vicious circle of inaction“ dauerhaft in einen „virtuous circle of climate action“ verwandelt wird (Climate Outreach, 2020).
Kapitel 13: Innovationssystem und -politik
Die strukturellen und die politisch-institutionellen Bedingungen für Innovation bilden den Rahmen für die Fähigkeit unserer Gesellschaft, technologische, organisatorische und soziale Innovationen hervorzubringen, sich an diesen auszurichten und ihre Verbreitung zu ermöglichen. Sie sind somit von zentraler Bedeutung für den Wandel unserer Gesellschaft hin zu einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise. Im Folgenden wird die Literatur zu Innovationspolitik für ein klimafreundliches Innovationssystem gesichtet.
Das Innovationssystem umfasst die Akteur_innen, ihre Beziehungen und die institutionellen und strukturellen Bedingungen, die deren Innovationsverhalten prägen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Innovationspolitik, die hier in einem breiten Sinne als die Summe jener Politikfelder, die Forschung und Innovationsbedarfe und -möglichkeiten beeinflussen, verstanden wird. Im Hinblick auf Systemwandel durch Innovation ist daher über die Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik im engeren Sinne eine Vielzahl von weiteren sektoralen und Querschnittspolitiken angesprochen.
Neue technologische und nicht-technologische Entwicklungen und damit zusammenhängende soziotechnische Innovationen spielen eine zentrale Rolle für Transformationen hin zu einer klimafreundlicheren Gesellschaft (Schot & Steinmueller, 2018; Joly, 2017). In Hinblick auf die gesellschaftlichen Ziele, die mithilfe von Innovation verfolgt werden sollen, lässt sich in der wissenschaftlichen Debatte ein Schwenk weg von einer nahezu ausschließlichen Betonung von wirtschaftlichen Zielen hin zu stärker richtungsgebenden, direktionalen Zielsetzungen im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele beobachten (Daimer et al., 2012; Diercks et al., 2019). Gerade in hoch klimarelevanten Bereichen wie Mobilität, Energieerzeugung, -versorgung und -nutzung oder Nahrungsmittelversorgung und Ernährung ist dafür die Verknüpfung neuer technologischer Optionen mit organisatorischen und sozialen Innovationen und Verhaltensänderungen zentral, um gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der Bewältigung der Klimakrise anzustoßen und zu ermöglichen. Erst im Zusammenwirken dieser verschiedenen Dimensionen von Innovation sind Systemveränderungen möglich (Wanzenböck et al., 2020; Wittmayer et al., 2022). Dieser Schwenk lässt sich seit einigen Jahren auch in der österreichischen Forschungs- und Innovationspolitik beobachten. Er ist eingebettet in eine programmatische Weiterentwicklung der europäischen Politikziele (European Commission, 2019d, 2020). Konkret manifestieren sich erste Schritte dieser Veränderung auf österreichischer Ebene in der Einführung neuer programmatischer, instrumenteller und Governance-Elemente in der Forschungs- und Innovationspolitik, die Ausdruck transformativer Politikziele und entsprechender missionsorientierter Politikkonzepte sind. Dabei werden derzeit mit Blick auf die Klimaziele 2030 der österreichischen Bundesregierung vor allem umsetzungsorientierte Maßnahmen betont, die angebots- und nachfrageseitige Elemente umfassen (Bundeskanzleramt, 2020; BMBWF et al., 2021). Trotz dieser Veränderungen dominieren weiterhin ungerichtete F&I-politische Maßnahmen den öffentlichen Finanzierungsmix für Forschung und Innovation (BMBWF et al., 2021; OECD, 2018) (hohe Übereinstimmung, starke Literarturbasis).
Es besteht nach wie vor ein Spannungsverhältnis zwischen Nachhaltigkeitszielen und einem wachstumsorientierten Zugang in der Innovationspolitik (Schot & Steinmueller, 2018; Lundin & Schwaag-Serger, 2018). Durch die gegenwärtigen Krisen (z. B. COVID-19, Ukraine-Krieg) gibt es zudem neue Politikziele (z. B. Krisenresilienz, Souveränität, Verteidigung). Neben Innovation spielen die Bedingungen für den Ausstieg aus nicht-nachhaltigen Praktiken („Exnovation“) eine wichtige Rolle für die Überwindung der Klimakrise („Destabilisierung des dominanten soziotechnischen Regimes“). Diese beiden Aspekte spielen in der bisherigen Diskussion über Innovationssystem und -politik bislang nur eine Nebenrolle (David, 2017; Sengers et al., 2021). Die für Innovationen typischen Eigenschaften wie Ungewissheit und Komplexität werfen erhebliche Schwierigkeiten bei der Abschätzung und Ex-ante-Bewertung von Innovationen auf. Gerade radikale und systemische Innovationen können nur sehr unzureichend abgeschätzt werden („Collingridge-Dilemma“); ein Problem, das zudem durch Rebound-Effekte und andere Komplexitätsphänomene verstärkt wird („wicked problems“) (Polimeni et al., 2009; Collingridge, 1980; Tuomi, 2012). Innovation im Sinne der Einführung neuer Lösungen ist der erste Schritt hin zu einem klimafreundlichen Systemwandel. Erst die Diffusion, Skalierung und Replikation-Adaption dieser neuen Lösungen in all ihren Dimensionen („Generalisierung“) macht Systemwandel möglich (Sengers et al., 2021). Hierfür ist die Mobilisierung auch etablierter Akteur_innen mit ihren Ressourcen und Kapazitäten wichtig (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Die Verankerung eines erweiterten Innovationsverständnisses zählt zu den zentralen Herausforderungen der Innovationspolitik im Kontext des Klimawandels, das heißt die Ausweitung auf soziale, institutionelle und Systeminnovationen sowie deren Generalisierung (Howaldt et al., 2017; Wittmayer et al., 2022). Hierbei werden Maßnahmen wie (tertiäre) Bildung, neue Curricula, höhere Anerkennung für inter- und transdisziplinäre Forschung an Universitäten, Recruiting und Personalentwicklung, Anreizsysteme für risiko- und innovationsfreundlicheres Verhalten gefordert (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Veränderungen sind auch bei den Governance-Strukturen und -Prozessen erforderlich, auf deren Grundlage Systemveränderungen angestoßen werden können. Hier ist an erster Stelle das kohärente Zusammenwirken von Akteur_innen und Instrumenten aus unterschiedlichen Politikfeldern und -ebenen zu nennen („Politikkoordination“, „Alignment“), durch das wirksame Impulse für einen Systemwandel erzielt werden können (Kuittinen et al., 2018; OECD, 2019, 2021). Die Versäulung politischer Verantwortlichkeiten und der öffentlichen Verwaltung bzw. das Fehlen übergreifender Kompetenzen (z. B. Richtlinienkompetenz für Innovation und Systemwandel), mangelnde Abstimmungsprozesse (aktuell erste Versuche im Rahmen der FTI-Strategie 2030 und der Arbeitsgruppe EU-Missionen) sowie das komplexe Zusammenspiel zwischen der nationalstaatlichen und der Bundesländerebene zählen zu zentralen Hindernissen am Weg zu einer gut abgestimmten und klimafreundlichen Governance. Eine Hinwendung zu experimentellen Ansätzen, die in längerfristige Monitoring-/Assessment- und vorausschauende Lernprozesse eingebettet sind, bietet Möglichkeiten der Erprobung und breiten Umsetzung neuer systemischer Lösungsansätze unter Bedingungen der Ungewissheit. Diese experimentellen Praktiken und Lernprozesse erstrecken sich auch auf institutionelle Bedingungen für Innovation (Sengers et al., 2021; Veseli et al., 2021) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Damit einher geht ein notwendiger Wandel des Rollenverständnisses der Politik, deren prioritäre Aufgabe in der Moderation sowie der richtungsgebenden und rahmensetzenden Ausrichtung von Innovation und Systemwandel liegt. Für die Übernahme von derartigen Rollen bedarf es allerdings entsprechender Fähigkeiten und Ressourcen in der öffentlichen Verwaltung („Capacities & Capabilities“) (Borrás & Edler, 2020; Kattel & Mazzucato, 2018) im Sinne einer Weiterentwicklung von New Public Management hin zu „agiler Innovationspolitik“ und der Umkehrung der personellen Aushöhlung der öffentlichen Verwaltung. Das Öffnen diskursiver Räume zu normativen Fragen und Kontroversen im Zusammenhang mit Innovation und Systemwandel kann weiters zu einer höheren Kohärenz und gemeinsamen Orientierung im Handeln der verschiedenen Akteur_innen im Innovationssystem (das heißt im breiten Sinne neben Forschung, Wirtschaft und Politik auch Zivilgesellschaft) beitragen (Schlaile et al., 2017; Stirling, 2007), indem Bürger_innenräte einbezogen und das Parlament als Ort des normativen Diskurses aufgewertet wird. Wenn es gelingt, transformatives Systemversagen als Legitimationsgrundlage für staatliches Handeln auch in anderen innovations- und transformationsrelevanten Politikbereichen zu etablieren, kann das Instrumentarium zur politischen Mitgestaltung von Systemtransformationen ausgeweitet werden. Durch die Berücksichtigung direktionaler Elemente in grundsätzlich nichtdirektionalen innovationspolitischen Instrumenten (insbesondere struktureller Maßnahmen, themenoffener Programme und steuerlicher Anreize für F&E) kann deren Klimawirksamkeit erhöht werden (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Nachfrageseitige Instrumentarien wie öffentliche Beschaffung und Regulierung sind vorhanden, werden aber bislang nur begrenzt eingesetzt und wirksam. Durch einen breiteren Einsatz speziell von öffentlichen Beschaffungsinitiativen könnten verstärkt klimafreundliche Innovationsimpulse induziert werden. Klare strategische Orientierungen seitens der Politik, unterstützende strukturelle und institutionelle Bedingungen und eine frühzeitige Einbindung der betroffenen Stakeholder reduzieren Unsicherheiten bei Zukunftsinvestitionen und unterstützen eine langfristige und kohärente Orientierung der Innovationsstrategien von Unternehmen, Forschungsorganisationen und anderen Innovationsakteur_innen an klimafreundlichen Lösungen. Im öffentlichen Einflussbereich könnten in diesem Sinne die mehrjährigen Leistungsvereinbarungen angepasst werden. Die derzeit diskutierten Vorschläge für transformative und missionsorientierte Politik (z. B. im Hinblick auf die fünf EU-Missionen) verstärken den Abstimmungsbedarf zwischen Politikfeldern und -ebenen weiter und reichen deutlich über den Bereich der FTI-Politik hinaus. Eine Weiterentwicklung der Politikkoordination im Sinne transformativer und missionsorientierter Ansätze kann dazu beitragen, die ressortübergreifende Zusammenarbeit für klimafreundliche Strategien zu intensivieren (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Um agilere Organisationsstrukturen und -prozesse im Rahmen einer transformativen Innovationspolitik zu etablieren, könnten institutionelle Innovationen experimentell erprobt werden, und zwar sowohl im Hinblick auf die operative Abwicklung von Politikmaßnahmen als auch bei den vorgelagerten strategischen Entscheidungsprozessen. Durch den Aufbau geeigneter Kompetenzen und Kapazitäten in den Bereichen Vorausschau, formative Begleitung, Evaluierung und Anpassung von Politikstrategien könnten die Voraussetzungen geschaffen werden, um umfassende Transformationsprozesse zu begleiten und nachzujustieren, und zwar sowohl auf der Ebene einzelner Maßnahmen als auch auf der Ebene von Systemen (z. B. Energiewende, Mobilitätswende etc.) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Kapitel 14: Die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen
Kap. 14 wirft einen umfassenden Blick auf die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen mit ihren diversen wirtschaftlichen Akteur_innen, die in Österreich an deren Gestaltung und Umsetzung mitwirken. THG-Emissionen können sowohl in der Nutzung von Gütern und Dienstleistungen wie auch entlang des gesamten Wertschöpfungsprozesses von der Ressourcenextraktion und Energiegewinnung bis zur Bereitstellung und laufenden Instandhaltung von Gütern entstehen. Die Möglichkeiten eines klimafreundlichen Lebens sind damit unmittelbar mit den Fußabdrücken der Güter und Dienstleistungen verbunden, die für ein solches Leben erforderlich sind. Der Fokus dieses Kapitels liegt auf jenem Teil der Versorgung, der in Österreich produziert wird. Jener Anteil der österreichischen Produktion, der exportiert wird (etwa 50 Prozent), und des Konsums, der importiert wird (etwa 30 Prozent), wird im nächsten Kapitel besprochen.
Für die Erreichung der Klimaziele sind umfassende Veränderungen in den nationalen Versorgungsstrukturen erforderlich. Dafür bedarf es tiefgreifender Umstellungen in den dominanten Geschäftsmodellen und Wertschöpfungsprozessen bei einer Neuausrichtung entlang zentraler Bedürfnisse wie Gesundheit oder Ernährung (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Köppl & Schleicher, 2019; Schleicher & Steininger, 2017). Eine umfassende Transformation der Energiesysteme durch eine vollständige Umstellung auf erneuerbare Energien, Steigerungen der Energieproduktivität und eine Reduktion des direkten Energiebedarfs in den Sektoren Gebäude, Mobilität, Industrie und Landwirtschaft kann einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion der THG-Emissionen leisten (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Wie Abb. TZ.13 veranschaulicht, sind für die Erreichung der Klimaziele mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Veränderungen entlang des Modells einer Kreislaufwirtschaft wie auch eine umfangreichere Umstellung auf Modelle der gemeinsamen bzw. geteilten Nutzung von Ressourcen erforderlich (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Cantzler et al., 2020; Eisenmenger et al., 2020; Jacobi et al., 2018; Kirchengast et al., 2019; Köppl & Schleicher, 2019; Meyer et al., 2018; Schleicher & Steininger, 2017).
Das bisherige Scheitern einer umfassenden Transformation zu klimafreundlichen Versorgungsstrukturen kann vor allem auf eine aus Klimasicht wenig konsistente Gestaltung der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen zurückgeführt werden (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Niedertscheider et al., 2018; Plank et al., 2021b; Steurer & Clar, 2015). Einem klimapolitischen Fokus auf „weiche“ Politikinstrumente zur Skalierung bzw. stärkere Marktdurchdringung klimafreundlicherer Technologien, Produkte und Dienstleistungen stehen in Österreich „harte“ finanzielle und regulative Rahmenbedingungen gegenüber, die wenig Handlungsdruck zur Veränderung erzeugen und klimaschädliche Tätigkeiten mitunter sogar fördern (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Hausknost et al., 2017; Kletzan-Slamanig & Köppl, 2016a; Köppl & Schratzenstaller, 2015; Schaffrin et al., 2015; Schnabl et al., 2021; Wurzel et al., 2019). Diese klimapolitisch ungünstigen Rahmenbedingungen werden durch eine korporatistische und föderalistische Governance-Struktur gestützt, die kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen, de einer konsequenten Klimapolitik entgegenstehenden, großen Einfluss ermöglichen (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Brand & Pawloff, 2014; Niedertscheider et al., 2018; Seebauer et al., 2019; Steurer et al., 2020; Steurer & Clar, 2015, 2017; Tobin, 2017; Wissen et al., 2020).
Einzig in den Zuwächsen in der Energieeffizienz, einem steigenden Anteil erneuerbarer Energien und einem Ausbau der Abfallwirtschaft konnten in den letzten drei Jahrzehnten in Österreich bedeutende Fortschritte in der Dekarbonisierung der Versorgungsstrukturen erreicht werden (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Anderl et al., 2020). Damit konnte insbesondere im Bereich der Energieversorgung ein klimafreundlicheres Leben erleichtert werden. Im selben Zeitraum konnte sich in Österreich ein dynamischer Wirtschaftssektor für umweltorientierte Güter und Dienstleistungen herausbilden, der sowohl im Inland als auch im Ausland an Bedeutung gewinnt (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Gözet, 2020; Schneider et al., 2020) (siehe Abb. TZ.14).
Diesen Erfolgen stehen gegenläufige Tendenzen im Verkehr und in der Industrie sowie eine unzureichende Umsetzung klimafreundlicherer Prozesse in der breiten Masse der in Österreich tätigen Unternehmen gegenüber (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Anderl et al., 2020; Dorr et al., 2021; Europäische Kommission, 2016, 2020c; Kiesnere & Baumgartner, 2019; Kofler et al., 2021; Schöggl et al., 2022). Während Unternehmen in Bereichen wie Abfallmanagement und betrieblichem Energieverbrauch relativ fortgeschritten sind, wurden tiefergreifendere Veränderungen in Geschäftsmodellen und dem Angebot an Produkten und Dienstleistungen bisher lediglich von einer Minderheit implementiert (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (ebd.).
Zur Erreichung der Klimaziele bedarf es einer deutlichen Ausweitung des Maßnahmenspektrums jenseits des bisherigen klimapolitischen Fokus auf die Förderung neuer Produkte und Dienstleistungen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Bachner et al., 2021; Dugan et al., 2022; Großmann et al., 2020; Kirchengast et al., 2019; Stagl et al., 2014; Steininger et al., 2021; Weishaar et al., 2017). Instrumente zur Setzung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen wie eine konsequent an den Klimazielen ausgelegte Steuerreform, die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen und die Einführung von Umweltstandards für Produktionsprozesse, Produkte und die öffentliche Beschaffung, können einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leisten (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Bittschi & Sellner, 2020; Goers & Schneider, 2019; Großmann et al., 2020; Kettner-Marx et al., 2018; Kirchner et al., 2019; Kletzan-Slamanig & Köppl, 2016a; Mayer et al., 2021; Schleicher & Steininger, 2017; Steininger et al., 2021). Eine entsprechende Klimapolitik sollte von sozialen Kompensationsmaßnahmen begleitet werden, wenn die gesellschaftliche Akzeptanz für solche Maßnahmen aufrechterhalten bleiben soll (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Feigl & Vrtikapa, 2021; Großmann et al., 2020; Högelsberger & Maneka, 2020; Keil, 2021; Kettner-Marx et al., 2018; Kirchner et al., 2019; Mayer et al., 2021; Pichler et al., 2021). Um die langfristige Einhaltung der planetaren Grenzen zu gewährleisten, kann die Förderung von alternativen Versorgungsweisen sowie die Festlegung von Obergrenzen erforderlich sein (mittlere Übereinstimmung, schwache Literaturbasis) (Bärnthaler et al., 2020; Brand et al., 2021; Brand & Wissen, 2017; Exner & Kratzwald, 2021; Novy, 2020; Spash, 2020a).
Kapitel 15: Globalisierung: Globale Warenketten und Arbeitsteilung
Um Österreichs Rolle in der Klimakrise zu verstehen, braucht es eine Analyse seiner Einbettung in globale Wirtschaftsstrukturen (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Diese Analyse wird in diesem Kapitel mit dem Konzept der „Globalen Warenketten“ geleistet (Fischer et al., 2021). Das Kapitel stellt literaturbasiert dar, auf welche Weise Österreich hinsichtlich seiner Produktionsstandorte und des Endkonsums in globale Warenketten involviert ist und trifft, soweit es auf Grundlage der Datenlage möglich ist, eine Abschätzung der dadurch bedingten Umweltfolgen. Es bewertet literaturbasiert Gestaltungsformen für Warenketten, die auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene diskutiert werden und eine klimafreundliche Umgestaltung von globalen Warenketten befördern sollen.
Als offene Volkswirtschaft ist Österreich als Produktionsstandort und in Bezug auf Endkonsum stark in transnationale Warenketten eingebunden (OECD-WTO, 2015; WTO, o.\,J.; Kulmer et al., 2015; Giljum et al., 2017; Stöllinger et al., 2018; Eisenmenger et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Durch eine solche Organisationsweise werden Orte der Produktion und des Endkonsums zum Teil entkoppelt. Das bedeutet, dass für in Österreich produzierte und konsumierte Waren und Dienstleistungen an anderen Orten THG-Emissionen emittiert werden. Wie es auch für andere Hocheinkommensländer der Fall ist, werden für die österreichischen Importe an Waren und Dienstleistungen in durchschnittlich ärmeren Volkswirtschaften hohe Emissionen erzeugt (Jakob & Marschinski, 2013; Chancel & Piketty, 2015; Eisenmenger et al., 2020; Jakob, 2021; IPCC, 2022b; Dorninger et al., 2021; Duan et al., 2021) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Um die Klimaziele zu erreichen, braucht es deshalb eine grenzüberschreitende, sektorweite Betrachtungsweise österreichischer Produktions- und Konsummuster [Kap. 1] (Plank et al., 2021a) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Das Kapitel unterscheidet mehrere Strategien, die eine klimafreundliche Veränderung globaler Warenketten befördern sollen. Dazu zählen verantwortungsvoller Konsum und ressourcenleichte Lebensstile. Individuelle Lebensstilveränderungen reichen allerdings nicht aus, um die negativen Konsequenzen globaler Produktions- und Konsumstrukturen im erforderlichen Ausmaß zu reduzieren [Kap. 1] (Akenji, 2014) (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Weitere mögliche Maßnahmen umfassen ein „Rescaling“ ökonomischer Aktivitäten hin zu niedrigeren räumlichen Ebenen (New Economics Foundation, 2010; Bärnthaler et al., 2021; Raza et al., 2021a, 2021b) sowie ressourcenschonende Produktionsprozesse unter Einbeziehung der gesamten Warenkette (Eder & Schneider, 2018; Pianta & Lucchese, 2020; Pichler et al., 2021; Denkena et al., 2022). Dafür braucht es sektorweite, zum Teil sekorübergreifende, transnational orientierte Umbau- und Konversionsstrategien, die nicht nur den Standort Österreich im Blick haben (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Angewandte Forschung dazu liegt bislang kaum vor.
In grenzüberschreitender Hinsicht werden auf EU-Ebene Initiativen umgesetzt, die direkte und indirekte Effekte auf die Struktur und Organisation globaler Warenketten haben. Dies betrifft das Emissionshandelssystems ETS sowie Maßnahmen im Rahmen des European Green Deal wie die EU-Industriestrategie, die Bioökonomie-Strategie sowie den Aktionsplan für Kreislaufwirtschaft (Europäische Kommission, 2019a, 2019b, 2019c, 2020a, 2020b, 2021). Die Umgestaltung von globalen Warenketten nach ökologischen Gesichtspunkten ist dabei ein untergeordnetes oder kein explizites Ziel (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). In Österreich hat das Bundesministerium Digitalisierung und Wirtschaftsstandort im Rahmen der Erarbeitung der Standortstrategie 2040 eine Arbeitsgruppe zu „Nachhaltigkeit und Wertschöpfungsketten“ eingerichtet (BMDW, 2021). Im Bereich von Bioökonomie und Kreislaufwirtschaft gibt es jeweils nationale Plattformen, um Akteur_innen zu koordinieren, aber – zumindest noch – keine eigenen Strategien. Die Herangehensweise ist vorherrschend markt- und innovationsorientiert, die nationale Industriepolitik klimapolitisch weniger ambitioniert als jene der EU (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis).
Um die Klimaziele zu erreichen, reichen markt- und innovationsorientierte Maßnahmen nicht aus (Beckmann & Fisahn, 2009; Plank et al., 2021a) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Vorgeschlagen werden verbindliche Regeln für Markthandeln, Verbote von extrem umweltschädlichen Produkten und Produktionsprozessen (Pichler et al., 2021) sowie ökologisierte öffentliche Bereitstellungssysteme (Bärnthaler et al., 2021) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Die bereits bestehenden EU-Initiativen im Bereich der CO2-Bepreisung und der Industriestrategien bieten die Möglichkeit für eine Nachbesserung (Landesmann & Stöllinger, 2020; Pianta & Lucchese, 2020; Polt et al., 2021; Paul & Gebrial, 2021) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Vorschläge zielen auf ambitioniertere Regelungen innerhalb des derzeitigen EU-Emissionshandelssystems und die Einführung eines EU-Kohlenstoff-Grenzausgleichsmechanismus (Krenek et al., 2018; Stöllinger, 2020) (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Eine klimafreundliche Regulierung von globalen Warenketten kann weiters durch Lieferkettengesetze erfolgen, die transnational operierenden Konzernen rechtsverbindlich ökologische Sorgfaltspflichten auferlegen (De Schutter, 2020; Kunz & Wagnsonner, 2021) (hohe Übereinstimmung, hohe Literaturbasis). Die Erfassung und Sanktionierung von Umweltschäden bedarf der Entwicklung neuer Rechtsmittel (Krebs et al., 2020; Schilling-Vacaflor, 2021) (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Derzeit befindet sich ein Richtlinienvorschlag der EU-Kommission für ein Lieferkettengesetz in Beratung (Europäische Kommission, 2022). Die genannten Gestaltungsoptionen sollten idealerweise auf internationaler Ebene umgesetzt werden, um unfaire Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen sowie Rebound-Effekte (Barker et al., 2009; Wei & Liu, 2017) und Carbon Leakage (Birdsall & Wheeler, 1993; Jakob & Marschinski, 2013; Jakob, 2021; IPCC, 2022b) zu vermeiden (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Darüber hinaus scheint in Hocheinkommensländern, so auch in Österreich, die absolute Reduktion des Konsums inklusive der für seine Befriedigung erforderlichen Vorleistungen unumgänglich, um die Klimaziele zu erreichen (Brand et al., 2021) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Die genannten Eingriffe verweisen auf flankierende Maßnahmen für einen gerechten Übergang („just transition“) (Steffen & Stafford Smith, 2013). Soziale und ökonomische Ausgleichsmechanismen gilt es auf nationaler Ebene sowie in globaler Perspektive zu berücksichtigen („global climate justice“), da eine Verschärfung von Ungleichheit zwischen armen und reichen Ländern der Erreichung von Klimazielen entgegenläuft (Sovacool & Scarpaci, 2016; Baranzini et al., 2017; O’Neill et al., 2018; Korhonen et al., 2018; van den Bergh et al., 2020; Eicke et al., 2021; Paul & Gebrial, 2021; IPCC, 2022b) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Aufgrund ihrer Komplexität ist eine Vielzahl von unterschiedlichen Akteur_innen in die Gestaltung und Organisation von globalen Warenketten involviert, national und international (Fischer et al., 2021) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Das ermöglicht es einerseits, mehrere Ansatzpunkte für klimagerechtes Handeln zu formulieren; andererseits macht es die Herstellung eines tragfähigen Konsenses sehr schwierig. Hinzu kommt, dass die involvierten Akteur_innen in Österreich (und darüber hinaus) über unterschiedliche Machtressourcen verfügen und Konfliktlinien auch innerhalb einzelner Akteursgruppen bestehen. Das betrifft etwa staatliche Institutionen, den Unternehmenssektor und Arbeitnehmer_innen bzw. ihre Interessensorganisationen (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). In dieser komplexen Ausgangslage geht es darum, jene Akteur_innen zu einer „Allianz für ein klimafreundliches Leben“ zur Kooperation zu bewegen, deren Interessen sich – aus unterschiedlichen Gründen – unter diesem Ziel vereinbaren lassen. Bei anderen Akteur_innen geht es darum, Interessen und Einstellungen hin zu einer klimafreundlicheren Produktions- und Lebensweise zu verschieben.
Generell verlangen die (Re-)Regulierung und der ökologische Umbau von globalen Warenketten eine abgestimmte Mehrebenenstrategie (national, regional, europäisch, international), wobei jede Ebene mit eigenen Herausforderungen konfrontiert ist (Dreidemy & Knierzinger, 2021) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Neben derzeit vorherrschenden markt- und innovationsorientierten Strategien bilden öffentliche Bereitstellungssysteme (Bärnthaler et al., 2021) und bewusstseinsbildende Überzeugungsarbeit für die gesellschaftliche Veränderung von Alltagsroutinen (Göpel, 2016) komplementäre Strategien zur Zielerreichung (mittlere Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Insgesamt zeigt die literaturbasierte Bestandsaufnahme, dass viel mehr Begleitforschung vonnöten ist, um Informationen über die Auswirkungen bestehender Initiativen zu erhalten und künftige Strategien zu planen. Darüber hinaus mangelt es an Grundlagenforschung, um Möglichkeiten zur Umgestaltung von globalen Warenketten auszuloten.
Kapitel 16: Geld- und Finanzsystem
Dieses Kapitel bewertet, inwiefern Anreizstrukturen des Geld- und Finanzsystems die Transformation zu einer klimafreundlichen und nachhaltigen Lebensweise in Österreich begünstigen oder behindern. Zudem trifft es eine literaturbasierte Einschätzung darüber, in welche größeren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen das Geld- und Finanzsystem in Österreich eingebettet ist. Bereits eingeleitete und potenzielle zukünftige Reformen des Finanzsystems und Änderungen des bestehenden Geldsystems werden dahingehend überprüft, inwiefern sie Kapitalströme mobilisieren können, die für die Finanzierung der Strukturen für eine klimafreundliche Lebensweise notwendig sein werden.
Die Ausgestaltung der Anreizstrukturen des Geld- und Finanzsystems spiegelt die leitenden gesellschaftlichen Denk- und Handlungsmuster, die gegebenen sozialen Institutionen sowie den bestehenden physischen Kapitalstock wider (Aglietta, 2018; Eisenstein, 2021; Graeber, 2014; J. Lent, 2017; Schulmeister, 2018) (geringe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Geld galt lange Zeit als neutral, das heißt ohne Rückwirkung auf die reale, oftmals physische wirtschaftliche Produktion – dieses Paradigma befindet sich seit der Finanzkrise 2008/09 im Wandel (Ball, 2009; Malkiel, 2003; Maloumian, 2022). Die Gelpolitik hatte primär das Ziel, hohe Inflationsraten zu verhindern. Bis zum diskursiven Wandel wurde ihr kein wesentlicher Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise zugeschrieben (Aglietta, 2018; Dikau & Volz, 2018, 2021) (geringe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Im Sinne eines Green-Finance-Paradigmas soll nunmehr die Finanzierung klimafreundlicher Investitionen vor allem über Finanzmärkte sowie Vermögensbesitzer_innen erfolgen – und mit entsprechenden Anreizen motiviert werden (Alessi et al., 2019; Breitenfellner et al., 2020; Faktencheck Green Finance, 2019; Monasterolo, 2020; Sustainable-finance-Beirat, 2021; UNCTAD, 2019) (mittlere Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Das Green-Finance-Paradigma wird vielfach als vorherrschend angesehen und es werden – unter anderem aufgrund der in den letzten Jahrzehnten ungenügenden klimafreundlichen Investitionen – in anderen Literatursträngen vermehrt tieferliegende, strukturelle Probleme des finanzialisierten Wachstumsparadigmas priorisiert (Hache, 2019a, 2019b; Jäger, 2020; Jäger & Schmidt, 2020; J. Lent, 2017; Reyes, 2020).
Für die Erwartungssicherheit von Investor_innen sind langfristige, sichere und profitable Renditen zur Finanzierung von Investitionen in emissionsneutralen oder -armen Kapitalstock (= „grüne Investitionen“) zentral, während Renditen auf andere (z. B. fossilbasierte) Finanzprodukte sinken sollten. Es sollte Klarheit darüber herrschen, dass der CO2-Preis stetig, substanziell und langfristig steigen wird (Aglietta, 2018; Edenhofer et al., 2019; IEA, 2021; IPCC, 2018; Pahle et al., 2022; Schulmeister, 2018) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Aus Innovationsperspektive braucht es mehr öffentliche (Förder-)Mittel sowie Finanzinnovationen zur Finanzierung innovativer Forschung für klimafreundliche Technologien (Balint et al., 2017; Mazzucato, 2014; Shiller, 2009) (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Ein anderer Literaturstrang erklärt die Abkehr von Finanzialisierung, das heißt eine verstärkte Entkopplung von Finanz- und Realwirtschaft, sowie einen stärkeren Fokus auf Investitionen in klimafreundliche Bereitstellung als für ein klimafreundliches Leben notwendig (Aglietta, 2018; Crotty, 2019; Keynes, 1936; Malm, 2013, 2016; Schulmeister, 2018) (geringe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Degrowth und eine stärkere Gebrauchswertorientierung stehen dabei im Vordergrund (Eisenstein, 2021; Georgescu-Roegen, 1971; Hickel, 2021; Hickel & Hallegatte, 2021; Hickel & Kallis, 2020; Kallis et al., 2012, 2018; Keyßer & Lenzen, 2021; Meadows et al., 1972; Schröder & Storm, 2020) (geringe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Der Staat wird als Akteur zentral dafür sein, die Gestaltungsmacht auszuüben, um die Anreizstrukturen auf Finanzmärkten effektiv emissionsreduzierend umzugestalten (Aglietta, 2018; Breitenfellner et al., 2021; DiEM25, 2020; Edenhofer et al., 2019; Kelton, 2019; Novy, 2020; Pahle et al., 2022; Schulmeister, 2018) (mittlere Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) als Teil des europäischen Zentralbankensystems und die österreichische Finanzmarktaufsicht (FMA) als regulierende Behörde für die Finanzmärkte können Strukturen für ein klimafreundliches Leben schaffen (Battiston et al., 2020; Breitenfellner et al., 2019; NGFS, 2021; Pointner, 2020; Pointner & Ritzberger-Grünwald, 2019). Einerseits können sie durch Regulierung und Geldpolitik Klima-Finanz-Risiko reduzieren, welches Finanzmarktstabilität durch unzureichende Einpreisung klimabezogener physischer und Transitionsrisiken gefährdet. Andererseits können sie dabei helfen, die Emissionswirksamkeit von grüner und nachhaltiger Finanzierung sicherzustellen. Dies kann beispielsweise über entsprechende Eigenveranlagung (grüne Investitionsstrategien der Notenbank selbst), die Ausgestaltung der Eigenkapitalquoten der Banken und über makroprudenzielle Maßnahmen geschehen (Battiston, Dafermos, et al., 2021a; Battiston et al., 2020; Battiston, Monasterolo, et al., 2021b; Bolton et al., 2020; Breitenfellner et al., 2019; Dörig et al., 2020; Monasterolo, 2020; NGFS, 2021; Pointner, 2020; Pointner & Ritzberger-Grünwald, 2019; Rattay et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Green Growth – ermöglicht durch grüne und nachhaltige Finanzierung – wird der entscheidende Lösungsansatz in dieser Perspektive sein. Entsprechende Initiativen sind z. B. der Green Deal der EU, Sustainable Finance (Taxonomie) und Green Recovery, staatliches Risikokapital für innovative grüne Investitionen sowie Divestmentstrategien (Alessi et al., 2019; Breitenfellner et al., 2020; Faktencheck Green Finance, 2019; Monasterolo, 2020; Sustainable-finance-Beirat, 2021; UNCTAD, 2019). Wenn diese Maßnahmen wirksam sein sollen, muss „Greenwashing“ vermieden werden (Alessi et al., 2019; Der GLOBAL 2000 Banken-Check, 2021; Hache, 2019a, 2019b; Reyes, 2020) (mittlere Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Eine tiefgreifende und effektive Reform finanzieller Anreizstrukturen und des Steuerwesens zur Herstellung von Kostenwahrheit in Produktion und Konsum wird entscheidend sein. Eine tiefgreifende Steuerreform und begleitende grüne Industriepolitik würde effektive CO2-Steuern, Finanztransaktionssteuern, Vermögenssteuern und eine Kreditlenkung in Richtung grüner Investitionen umfassen (Aglietta, 2018; DiEM25, 2020; Edenhofer et al., 2019; Novy, 2020; Pahle et al., 2022; Pettifor, 2019; Piketty, 2014; Schulmeister, 2018; UNCTAD, 2019) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Ein alternativer Literaturstrang betont, dass Kommodifizierung und Monetarisierung der Natur keine dauerhafte Lösung darstellt, solange finanzialisierte Ökonomien aus systemischen Gründen – wenn Finanzmärkte durch strukturelle Blasenentwicklung, Instabilität und Wachstumserwartungen charakterisiert sind – mittels Wachstum auf Basis von Ausbeutung der Natur soziale Spannungsverhältnisse auszugleichen suchen (Bracking, 2020; Hache, 2019b; Harvey, 2011; Kemp-Benedict & Kartha, 2019; Maechler & Graz, 2020; Spash, 2020a, 2020b; Sullivan, 2013) (geringe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Sollen planetare, biophysische Grenzen eingehalten werden, dann ist eine Beschränkung von Wachstum oder ein ökonomisches Schrumpfen (Degrowth) in Ökonomien mit hohen Einkommen und (vor allem) mit hohem Konsumniveau in dieser Perspektive eine wesentliche Bedingung (Eisenstein, 2021; Georgescu-Roegen, 1971; Hickel, 2021; Hickel & Hallegatte, 2021; Hickel & Kallis, 2020; Kallis et al., 2012, 2018; Keyßer & Lenzen, 2021; Meadows et al., 1972; Schröder & Storm, 2020; Spash, 2020a) (geringe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Bei Ent-Kommodifizierung, Ent-Monetarisierung sowie Stärkung des Gebrauchswerts im Rahmen des Degrowth-Konzepts geht es um die Entfaltung des Menschen als soziales Wesen, die durch die Umstrukturierung unseres Werte-, Gesellschafts- und Wirtschaftssystems zur Einhaltung biophysischer Grenzen ermöglicht und befördert wird. Diese Entfaltung würde eine materialistische Wertehaltung erweitern und transzendieren und ein gutes Leben für alle abseits von gegenwärtigen, dem modernen Kapitalismus inhärenten Monetarisierungstendenzen ermöglichen (Eisenstein, 2011, 2021; Hickel, 2021; Hickel & Hallegatte, 2021; Hickel & Kallis, 2020; Kallis et al., 2012, 2018; J. Lent, 2017; J. R. Lent, 2021; Spash, 2020a, 2020b) (geringe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Wenn man die Finanzmärkte dienlich für ein klimafreundliches Leben machen will, wird es gemäß dieser letztgenannten Perspektive notwendig sein, eine Ent-Kommodifizierung und Ent-Monetarisierung von wirtschaftlichem Handeln einzuleiten (Harvey, 2011; O’Connor, 1998; Polanyi, 1944; Smessaert et al., 2020) und durch eine Demokratisierung der Finanzmärkte und des Geldwesens die Natur des Geldes als Gemeingut anzuerkennen (Eisenstein, 2011, 2021; Hockett, 2019; Mellor, 2019) (geringe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Insgesamt zeigt sich für das Geld- und Finanzsystem, wie die Klimakrise ein Dreh- und Angelpunkt (Pivot) werden könnte, um den sich eine neue internationale monetäre Kooperation formt, die die Schaffung und den Einsatz internationaler Finanzmittel an die Bewältigung der Klimakrise bindet (Aglietta, 2018; Eisenstein, 2011, 2021; Schulmeister, 2018) (geringe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). In dieser Sichtweise wären Geld- und Finanzwesen über eine verstärkte nationale und internationale Demokratisierung zu regulieren, um Geld in seinem tatsächlichen Status als Gemeingut demokratisch zu begründen und zu regulieren (Eisenstein, 2011, 2021; Hockett, 2019; Mellor, 2019) (geringe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Zusammengefasst hätten diese strukturellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen das Ziel, Geldströme zum Zwecke der Finanzierung der sozial-ökologischen Transformation und im Sinne des Gemeinwohls zu schaffen, zu lenken und einzusetzen (Aglietta, 2018; Cahen-Fourot, 2020; Eisenstein, 2011, 2021; Felber, 2018; Hache, 2019b; J. Lent, 2017; J. R. Lent, 2021) (geringe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Kapitel 17: Soziale und räumliche Ungleichheit
Kap. 17 bewertet, inwiefern soziale und räumliche Ungleichheit mit klimafreundlichem Leben in der Literatur in Verbindung stehen. Es werden Einschätzungen darüber getroffen, welche strukturellen Bedingungen von Ungleichheit klimafreundliches Leben insbesondere in den Handlungsfeldern Mobilität und Wohnen behindern und welche Veränderungen notwendig sind, um ein „gutes“ Leben für alle innerhalb ökosozialer Grenzen des Planeten zu ermöglichen.
Einkommen und Vermögen sind die wirkmächtigsten Einflussfaktoren auf das Emissionsverhalten von Haushalten. Da Einkommen und Vermögen zunehmend ungleich verteilt sind, ist auch das Emissionsverhalten von starker Ungleichheit geprägt (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Dabei stellt der klimaschädigende Konsum vermögens- und einkommensstarker Gruppen ein besonderes Problem für die Bewältigung der Klimakrise dar (Rehm, 2021; Wiedmann et al., 2020) (mittlere Übereinstimmung, hohe Literaturbasis). Einkommensschwache Gruppen werden durch klimaschützende Maßnahmen stärker finanziell belastet und sind oft nicht in der Lage, diese zu finanzieren. Belastungen werden dabei je nach Wohnort verstärkt oder gemildert (Chancel, 2020; Laurent, 2014) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Monetäre Umverteilung allein würde dieses Problem jedoch nicht lösen, da Einkommen und der damit verbundene Konsum nur umverteilt und nicht reduziert würde. Ein erweiterter Einkommensbegriff, der die gesellschaftliche Bereitstellung von und den Zugang zu sozialer und materieller Infrastruktur einschließt, ist notwendig, um soziale und räumliche Ungleichheiten auszugleichen und allen Menschen unabhängig ihres monetären Einkommens und Wohnortes klimafreundliches Leben zu ermöglichen (geringe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Mobilität (30 Prozent) und Wohnen (inklusive Heizen, Kochen, „utilities“) (27 Prozent) zählen zu jenen Sektoren, welche für einen Großteil der in Österreich emittierten CO2-Gesamtemissionen verantwortlich sind (Muñoz et al., 2020). Strukturelle Bedingungen zur Förderung klimafreundlichen Handelns sind vor allem von diesen Handlungsfeldern abhängig (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Sozialräumliche Unterschiede im Mobilitätsverhalten (z. B. erhöhter Pkw-Besitz und Nutzung in ländlichen Gebieten und in oberen Einkommensgruppen) spielen bei Maßnahmen zur Emissionsreduktion eine wesentliche Rolle. Um klimafreundliche Mobilität für alle zu gewährleisten und zu fördern, braucht es ein für alle zugängliches und attraktives öffentliches Verkehrsangebot (Mobilitätsgarantie) und gezielte finanzielle Steuer- bzw. Umverteilungsmaßnahmen (ökosoziale Steuerreform im Verkehrssektor, Öko-/Mobilitätsbonus etc.). Internationale Best-Practice-Beispiele lassen sich unter anderem in der Schweiz (ökologischer Pendlerfonds aus Einnahmen der Parkraumbewirtschaftung), Belgien (Kilometergeld für Fahrradfahren) oder Kanada (sozial gestaffelter Ökobonus) finden (Pendlerfonds, o.\,J.; VCÖ, 2014, 2018, 2021; Frommeyer, 2020; Harrison, 2019) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Im Wohnungswesen sind insbesondere die Heizkosten in Österreich ungleich verteilt: Einkommensschwache Haushalte (Haushaltseinkommen < 60 Prozent des Medians) wenden vier Prozent ihres Einkommens zum Heizen auf; einkommensstarke Haushalte (> 180 Prozent des Medians) lediglich zwei Prozent. Der mit Wohnform und Wohnumfeld zusammenhängende Energieverbrauch ist ein entscheidender Treiber von THG-Emissionen und stellt ein Strukturmerkmal dar, welches klimafreundliches Leben massiv fördern bzw. restringieren kann. Die Energieeffizienz von Gebäuden wird maßgeblich vom jeweiligen Heizsystem bestimmt. Relevante Trends sind die überdurchschnittliche Nutzung von Kohle als Energieträger in den ersten beiden Einkommensdezilen und der deutliche Anstieg von alternativen Energieträgern mit höheren Einkommen (Lechinger & Matzinger, 2020). Eine zentrale Herausforderung auf dem Weg zur Klimaneutralität ist, mit dem Abschied von Kohle, Öl und Gas die unteren Einkommensdezile nicht zu stark zu belasten (Plumhans, 2021) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Für das Handlungsfeld Mobilität lassen sich exemplarisch folgende Akteur_innen identifizieren: (1) Öffentliche und zivilgesellschaftliche Institutionen und Organisationen, wie die österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK). Die Planung eines flächendeckenden öffentlichen Verkehrssystems für alle sowie dessen rechtliche Verankerung ist ein wesentlicher Hebel zu Förderung klimafreundlichen Mobilitätsverhaltens. (2) Interessenvertretungen, wie die Autolobby und Verkehrsclubs (ÖAMTC, ARBÖ, VCÖ) oder die Fahrradlobby (radlobby, ARGUS). Während Vertreter_innen der Automobilindustrie den Ab- und Umbau fossiler Verkehrsstrukturen nicht unterstützen, setzen sich andere, gemeinwohlorientierte Verkehrs- und Radclubs aktiv für die Förderung und den Ausbau zukunftsfähiger Mobilität ein (Haas & Sander, 2019). (3) Öffentliche und private Verkehrsdienstleister_innen und Verkehrsunternehmen (ÖBB, Wiener Linien, Verleihfirmen von Rädern etc.) sowie Verkehrsverbünde (z. B. VOR) zählen zu jenen, welche klimafreundliche Mobilitätskonzepte praktisch umsetzen können (mittlere Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Für das Handlungsfeld Wohnen spielt zunächst das Verhältnis von Eigentümer_innen und Mieter_innen eine wichtige Rolle: Bewohner_innen im Mietverhältnis haben kaum bis gar keinen Einfluss auf ihr Heizsystem (Allinger et al., 2021). Eigentumsverhältnisse beschränken die Handlungsfähigkeit, klimafreundlich zu wohnen, und stellen ein sozial ungleich verteiltes Strukturmerkmal klimafreundlichen Lebens dar (Friesenecker & Kazepov, 2021). Dem Mietrechtsgesetz und vor allem dem Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (WGG) wird das Potenzial attestiert, Wohnen in Österreich über ökologische und soziale Standards nachhaltiger und inklusiver zu gestalten (Litschauer et al., 2021). Allerdings können im WGG verankerte Mechanismen, wie z. B. hohe Anzahlungen, als Barriere für einkommensschwache Haushalte wirken und eine marginalisierende Wirkung entfalten, die Möglichkeiten eines klimafreundlichen Lebens also entlang sozialer Trennlinien strukturieren (Kadi, 2015; Friesenecker & Kazepov, 2021). Schließlich können exemplarisch Projektentwickler_innen und Bauunternehmen, Sozialpartner (insbesondere die Arbeiterkammer), Mietervereinigungen, Gewerkschaften und NGOs als relevante Akteure genannt werden (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Monetäre Anreize und Kosten in Form von Steuern, Steuerbegünstigungen und Gebühren auf klimaschädliche Aktivitäten (z. B. CO2-Steuer, Mineralölsteuer, Autobahnmaut, steuerliche Begünstigung von Fahrradankauf usw.) stellen eine Möglichkeit dar, Externalitäten zu internalisieren. Diese Maßnahmen sind jedoch verteilungswirksam. Wenn der Konsum einkommensstarker Haushalte stark reduziert wird und die Teilnahme am sozialen Leben für einkommensschwache Haushalte erhalten bleiben soll, gilt es, diese Verteilungseffekte zu beachten (Humer et al., 2021; Köppl & Schratzenstaller, 2021) (mittlere Übereinstimmung, hohe Literaturbasis). Der Ausbau ökosozialer Infrastruktur kann umweltschädliche Emissionen reduzieren und gleichzeitig progressive Verteilungseffekte entfalten. Höhere Einkommens- und Vermögenssteuern könnten deshalb zweckgebunden in den Ausbau ökosozialer Infrastruktur fließen, um Strukturen eines klimafreundlichen Lebens zu schaffen (Froud & Williams, 2019; Gough, 2017; Lechinger & Matzinger, 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Innovationen im Energie-, Transport- und Bausektor können marktbasierte Maßnahmen und die öffentliche Bereitstellung ökosozialer Infrastruktur unterstützen, um soziale Mindeststandards für alle Menschen zu garantieren. „Mission-oriented“ Innovationspolitik ist ein Ansatz, um „wicked problems“ der ökosozialen Krise in kleinere Probleme aufzuteilen, zu denen private und öffentliche Forschungsinstitutionen Lösungen beitragen (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Soziale Akzeptanz dieser Vorschläge kann durch weitreichende gesellschaftliche Veränderungen erzielt werden, die durch die Politik unterstützt und klar kommuniziert werden muss. So stellt zum Beispiel die Entkopplung individueller Freiheitsvorstellungen von der Befriedigung unlimitierter Bedürfnisse („wants“) hin zu einem sozialen Gerechtigkeitsdenken, in dem alle Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, einen tiefgreifenden, aber notwendigen gesellschaftlichen Wandel dar, um ein „gutes“ Leben für alle innerhalb sozial ökologischer Grenzen des Planeten zu ermöglichen (Gough, 2017; O’Neill et al., 2018; Wiedmann et al., 2020) (mittlere Übereinstimmung, hohe Literaturbasis).
Kapitel 18: Sozialstaat und Klimawandel
Soziale Absicherung sowie sozialer Ausgleich wirken als strukturelle Bedingungen der Transformation hin zu einer klimafreundlichen Gesellschaft. Kap. 18 sichtet und bewertet die Literatur, die sozialstaatliche Strukturen und Aktivitäten interdependent mit Klimawandel und Klimapolitik untersucht. Bezüge bestehen auf der sozialstaatlichen Leistungs-, Produktions- und Finanzierungsseite. Sie bilden Ansatzpunkte für die klimafreundliche Gestaltung des Gesundheits- und Sozialsystems, die negative Trade-offs zwischen Klima- und Sozialpolitik vermeiden und Synergien im Sinne einer ökosozialen Politik herstellen.
Sozialstaatlichen Leistungen sind durch den Klimawandel unmittelbar gefordert. Der Klimawandel verursacht gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden, die ungleich verteilt sind (Austrian Panel on Climate Change (APCC), 2018; BMSGPK, 2021; Steininger et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Dabei ist das Schadenspotenzial für Bevölkerungsgruppen größer, die Klimaeinwirkungen stärker ausgesetzt sind und begrenztere Reaktionsmöglichkeiten haben (Austrian Panel on Climate Change (APCC), 2018; BMSGPK, 2021; Papathoma-Köhle & Fuchs, 2020) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Individuelle Vulnerabilitätsmerkmale, die sich teilweise überschneiden, umfassen etwa Vorerkrankungen und gesundheitliche Einschränkungen bei Alltagstätigkeiten, die Betroffenheit von (multidimensionaler) Armut und sozialer Ausgrenzung, ein niedriger Bildungsstand oder der Status alleinerziehend (BMSGPK, 2021; Papathoma-Köhle & Fuchs, 2020) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Die Folge steigender Risiken und Schadensbetroffenheit der österreichischen Bevölkerung durch den Klimawandel sind hohe und weiter steigende Belastungen der Sozial- und Gesundheitssysteme (siehe z. B. Aigner & Lichtenberger, 2021; Schoierer et al., 2020; Steininger et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Die Bekämpfung des Klimawandels, insbesondere der klimaschädigenden Emissionen, kommt daher dem Sozial- und Gesundheitssystem zugute (Steininger et al., 2020). Doch sind negative Nebenwirkungen einzelner klimapolitischer Maßnahmen auf sozialstaatliche Anliegen möglich und zu beobachten. Abhängig vom gewählten Instrument und seiner Ausgestaltung begründet dies zusätzlichen sozialpolitischen Handlungsbedarf (BMSGPK, 2021; Lamb et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Analog kann Sozialpolitik die Klimapolitik generell unterstützen, doch ist das nicht automatisch und für alle Maßnahmen der Fall. Der österreichische Sozialstaat sichert durch die von ihm bereitgestellten Leistungen die Akzeptanz klimapolitischer Maßnahmen ab (siehe z. B. Fritz & Koch, 2019; Koch & Fritz, 2014; Otto & Gugushvili, 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Der Ländervergleich bzw. der Vergleich verschiedener idealtypischer Sozialstaatssysteme belegt, dass potenzielle Synergien zwischen beiden Politikfeldern unterschiedlich gut genutzt werden (Zimmermann & Graziano, 2020). Das bedeutet, dass die institutionellen Gegebenheiten wesentlich dafür sind, Gesellschaften weniger verwundbar gegenüber Klimafolgen zu machen. Die institutionelle Resilienz des österreichischen Sozialstaats gegenüber den Folgen des Klimawandels und sein Beitrag zum klimafreundlichen Leben können insbesondere erhöht werden, indem
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präventive Politik, speziell bezogen auf Gesundheit, auf neue Anforderungen am Arbeitsmarkt sowie auf extreme Naturereignisse und Extremwetterlagen gestärkt wird,
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der CO2-Fußabdruck des Gesundheits- und Sozialsektors lückenlos erfasst und mittels klimafreundlicher Bereitstellungsprozesse konsequent reduziert wird,
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die Schnittstellen zur Klimapolitik systematisch erfasst sowie – darauf aufbauend – Maßnahmen aus beiden Politikfeldern besser zu ökosozialen Programmen gebündelt werden,
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die unterschiedlichen Akteure dazu über föderale Ebenen, regionale Aktionsräume und Politikfelder hinweg evidenzbasiert zusammenarbeiten.
Für Gesundheitsförderung und Gesundheitsprävention ist in Österreich gegenwärtig der budgetäre Rahmen eng gesteckt. Auf Prävention entfallen etwa neun Prozent der laufenden öffentlichen Gesundheitsausgaben, woraus überwiegend präventive Maßnahmen für Personen mit bereits manifesten Gesundheitsproblemen finanziert werden (BMASGK, 2019). Eine Stärkung der Versorgung im niedergelassenen Bereich kann emissions- und kostenintensivere Behandlungen in Krankenhäusern vermeiden (Renner, 2020). Gesundheitsförderung und gesundheitliche Prävention sind insgesamt strukturell mangelfinanziert und es ist klima- und sozialpolitisch zielführend, mehr Mittel für dieses gesundheitspolitische (und ressortübergreifend wirkende) Handlungsfeld bereitzustellen (Haas, 2021; Weisz et al., 2019) (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Die Höhe und Verteilung der ökonomischen und sozialen Folgen von unvermeidbaren, extremen Naturereignissen hängen davon ab, wie der Katastrophenfonds finanziell ausgestattet ist, ob finanzielle Kompensation systematisch sozial differenziert geleistet wird und ob die Mittel nachhaltig, im Sinne der Vermeidung von Folgeschäden, eingesetzt werden (Papathoma-Köhle et al., 2021; Papathoma-Köhle & Fuchs, 2020).
Der Gesundheits- und Sozialsektor ist ein volkswirtschaftlich bedeutsamer Sektor. Wie klimafreundlich die Produktion und die Beschäftigung in diesem Sektor gestaltet sind, kann daher spürbar Einfluss auf den Klimawandel und dessen Bekämpfung nehmen. Bislang ist der CO2-Fußabdruck nur für das Gesundheitswesen, nicht aber für das Sozialwesen bekannt. Demnach ist der Anteil des österreichischen Gesundheitssektors von 6,7 Prozent an den nationalen CO2-Emissionen im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch (Pichler et al., 2019; Weisz et al., 2019). Der österreichische Gesundheitssektor könnte seinen CO2-Fußabdruck verringern, indem die räumliche Versorgungsstruktur, Beschaffungen, der Einsatz von Medikamenten und Gerätschaften und Behandlungsroutinen optimiert werden (Alshqaqeeq et al., 2019; Renner, 2020; Weisz et al., 2019) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Auch der Einsatz digitaler Technologien bietet Chancen zur Vermeidung von klimaschädigenden Emissionen, z. B. Telecare in der mobilen Pflege (AWO Bundesverband e. V., 2022; Care about Care, 2022) (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Eine konsequent ökologisch orientierte Beschaffungspolitik im gesamten Gesundheits- und Sozialsektor kann bei Anbieter_innen der jeweiligen Güter und Dienstleistungen Einsatz und Entwicklung nachhaltiger Produktionsweisen beschleunigen (Peñasco et al., 2021), z. B. durch klimafreundliche und zugleich gesundheitsfördernde Speiseangebote in Kantinen der Jugend-, Alten- und Pflegeheime, Kindertagesstätten oder Sozialadministration (illustriert für Schweden: Lindström et al., 2020) oder Elektrifizierung der Fahrzeugflotten mobiler sozialer Dienste (Bach et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Auch bezogen auf seine Rolle als bedeutender Arbeitgeber kann der Gesundheits- und Sozialsektor ein Schrittmacher sein, um klimafreundliche Arbeitsmodelle zu realisieren (Bohnenberger, 2022) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Hinsichtlich der Schnittstellen zwischen Klima- und Sozialpolitik und des Bedarfs an integrierten, ökosozialen Maßnahmenpaketen werden die CO2-Bepreisung, eine abgeschwächte Erwerbszentrierung der sozialen Sicherung und klimafreundliche Veranlagung von Vorsorgevermögen diskutiert. Zur CO2-Bepreisung liegt eine Reihe rezenter, auf Österreich bezogener Befunde vor (Kirchner et al., 2019; Six & Lechinger, 2021; Mayer et al., 2021). Eine CO2-Steuer kann sowohl auf sozial- als auch auf klimapolitische Ziele positiv wirken (Kirchner et al., 2019; Six & Lechinger, 2021; Mayer et al., 2021) (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Ob und welche konkreten Kompensationsmaßnahmen (Rückvergütungen in Form von pauschalen oder einkommensorientierten Geldleistungen, Ermäßigung anderer Steuern, verminderte Sozialabgaben) sinnvoll und besonders zielwirksam sind, wird abhängig vom Szenario und dem Forschungsansatz unterschiedlich bewertet (Kirchner et al., 2019; Six & Lechinger, 2021; Mayer et al., 2021) (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Die starke Erwerbszentrierung des österreichischen Sozialsystems ist eine strukturelle Barriere für den Übergang in eine klimafreundliche Gesellschaft. Klimapolitik strebt die gleichmäßige Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit (bei insgesamt weniger Erwerbsarbeit), weniger ressourcenintensive Lebensstile (verbunden mit dem Verzicht auf hohe Verdienste und Statuskonsum) und Re-Qualifizierung von Beschäftigten in klimaschädigenden Tätigkeitsfeldern an. Soll dies sozialpolitisch flankiert werden, müsste in einzelnen Zweigen der sozialen Sicherung der Leistungszugang und die Höhe der Leistungen für Personen verbessert werden, die nicht bzw. nicht durchgängig Vollzeit erwerbstätig sind (Bohnenberger, 2022). Ob dazu in Österreich z. B. ein ökologisches Grundeinkommen, ein Maximaleinkommen oder universelle Sachleistungen zielwirksam eingesetzt werden können, lässt sich aufgrund bestehender Forschungslücken aktuell nicht beantworten.
Institutionelle Anleger im österreichischen sozialen Sicherungssystem tragen über ihre Veranlagungen noch immer deutlich zum Klimawandel bei (und verstärken damit ihre klimabezogenen Anlagerisiken) (Semieniuk et al., 2021). Mit knapp 44 Milliarden Euro ist eine substanzielle Summe durch österreichische betriebliche Pensionsfonds und betriebliche Mitarbeitervorsorgekassen veranlagt. Anlagen der überbetrieblichen österreichischen Pensionskassen (25 Milliarden Euro im Jahr 2021) waren 2019 zu mindestens 30 Prozent in fünf Bereichen zu finden, die als besonders THG-intensiv gelten (European Insurance and Occupational Pensions Authority, 2019). Für Europa insgesamt besteht erheblicher Bedarf an zusätzlichen Investitionen, um die ambitionierten Zielwerte für Emissionsminderungen zu erreichen, der alleine aus öffentlichen Mitteln schwer zu decken ist (Brühl, 2021; van der Zwan et al., 2019). Die institutionellen Anleger im österreichischen sozialen Sicherungssystem könnten durch Umschichtung aus emissionsintensiven zugunsten klimafreundlicher Anlagen („divest-invest“) einen Beitrag leisten (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis).
Sollen Sozial- und Klimapolitik aufeinander abgestimmt sein, gilt es, Kooperation zu institutionalisieren bzw. Aufgaben und die entsprechenden Zuständigkeiten neu zu denken (etwa im Katastrophenschutz) (BMSGPK, 2021; Papathoma-Köhle et al., 2021). Es besteht insgesamt großer Forschungsbedarf dazu, wie ökosoziale Politik in Österreich institutionell und hinsichtlich der Instrumente wirksam und effektiv ausgestaltet werden kann. Zwar liegen einige systematische Reviews vor, die die Ergebnisse internationaler wissenschaftlicher Studien zusammenfassend bewerten (Alshqaqeeq et al., 2019; Lamb et al., 2020; MacNeill & Vibert, 2019; Mayrhuber et al., 2018; Peñasco et al., 2021). Doch sind österreichische Interventionen in diesen Reviews häufig nicht oder nur als Teil von Mehr-Länder-Studien erfasst. Dafür kann es drei wesentliche Gründe geben: (1) In den entsprechenden Handlungsfeldern werden entweder noch keine ökosozialen Interventionen gesetzt (politische Handlungslücke), (2) Maßnahmen im Bereich der ökosozialen Politik sind bislang nicht flächendeckend und nach den üblichen wissenschaftlichen Qualitätsstandards beforscht (Forschungslücke) und/oder (3) die vorliegende Evidenz ist nicht öffentlich zugänglich (Transparenzlücke). Soll evidenzbasierte ökosoziale Politik betrieben werden, die rasche Lerneffekte erzielt, gilt es, diese Lücken zu verringern (Evaluierungskultur im politischen und administrativen System, Investition in Dateninfrastruktur, Datenzugang für unabhängige wissenschaftliche Forschung, gezielte Forschungsförderprogramme, öffentliche Zugänglichkeit zu beauftragten und bereits vorliegenden Auftragsstudien).
Kapitel 19: Raumplanung
Dieses Kapitel bewertet, inwiefern Raumplanung und Raumordnung die Transformation zu einer klimafreundlichen Lebensweise in Österreich begünstigen oder behindern. Eine literaturbasierte Einschätzung wird hinsichtlich der Wirksamkeit raumplanerischer Instrumente getroffen und es werden ihre notwendigen Veränderungen analysiert.
Die räumliche Entwicklung steht in Österreich vielerorts einer klimafreundlichen Gestaltung des Lebensalltags entgegen. Der Bodenverbrauch ist im internationalen Vergleich hoch. Die Zersiedelung und Fragmentierung der Landschaft – das Auseinanderdriften von Wohnen, Arbeit, Versorgung, Freizeit und Mobilität – werden zunehmend sichtbar und spürbar. Lückige Siedlungsgebiete, ausfransende Siedlungsränder, Handels- und Gewerbeagglomerationen mit großflächigen Parkplätzen an den Orts- und Stadteinfahrten sowie abgelegene Tourismuseinrichtungen führen zu langen Wegen, die hauptsächlich mit dem Auto zurückgelegt werden. Versiegelung und Überbauung tragen zu Überhitzung bzw. zu vermehrtem Oberflächenabfluss und damit zur Hochwassergefahr bei. Auch wenn die Zuwachsraten in der Flächeninanspruchnahme und im motorisierten Individualverkehr in den letzten Jahren merklich gesunken sind – die bauliche Struktur und die Verkehrssituation in Österreichs verschärfen weiterhin die Klimakrise (Kurzweil et al., 2019; Österreichische Raumordnungskonferenz, 2021; Umweltbundesamt, 2020a, 2021a, 2021b; Zech, 2021c) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Der Praxis der Raumplanung und Raumordnung in Städten und Gemeinden sowie (freiwilligen) übergemeindlichen Zusammenarbeit gelingt es trotz zahlreicher Bemühungen nicht ausreichend, den räumlichen Rahmen für klimafreundliche Verhaltensmuster beim Bauen, in der Wirtschaft, in der Daseinsvorsorge und der Mobilität aufzuspannen. Vielfach fehlen der politische Steuerungswille und das Problembewusstsein der öffentlichen und privaten Bauwerber_innen und Infrastrukturträger_innen, um klimafeindlichen räumlichen Entwicklungen konsequent entgegenzutreten bzw. diese umzukehren. Im Gegensatz zu anderen Staaten (z. B. Schweiz, Deutschland) gibt es in Österreich keine „Rahmenkompetenz“ des Bundes und somit keine entsprechend ausgestatteten Fach- und Förderstellen der Raumplanung und Raumordnung auf nationaler Ebene. Diese Faktoren erschweren die Durchsetzung übergeordneter Klimaziele in der Planung (Dollinger, 2010; Ertl, 2010; Franck et al., 2013; Kanonier & Schindelegger, 2018a; Österreichische Raumordnungskonferenz, 2021) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis). Obschon im (unverbindlichen) Österreichischen Raumentwicklungskonzept (ÖREK) und in den Planungs- und Baugesetzen der Länder die Grundsätze und Ziele der Raumplanung und Raumordnung im Sinne des Klimaschutzes und der Klimawandelanpassung formuliert oder zumindest interpretierbar sind, ist ihre Steuerungswirkung limitiert. Die Länder nehmen ihre Einflussmöglichkeiten und Steuerungsinstrumente für die räumliche Entwicklung (Landes- und Regionalplanung) unterschiedlich und oft nur zögerlich wahr. Die aktuellen Landesentwicklungsprogramme und -konzepte können zwar als durchaus klimabewusste Leitbilder und Absichtserklärungen verstanden werden, enthalten aber kaum verbindliche Festlegungen (Kanonier & Schindelegger, 2018b; Österreichische Raumordnungskonferenz, 2021; Svanda et al., 2020) (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Als Querschnittsmaterie ist Raumplanung und Raumordnung zudem laufend mit Steuerungsproblemen bei der Koordination und Integration divergierender Interessen herausgefordert. So haben auf die Siedlungsentwicklung eine Vielzahl von Sachmaterien Einfluss, beispielsweise Verkehrswesen, Bergbau, Wasserrecht, Gewerberecht und Tourismus. Gegenüber sektoralen Zielen, Interessen und technischen Standards können sich gesamträumliche, integrierte und damit weniger konkrete qualitative Anforderungen der Raumplanung und Raumordnung nur teilweise durchsetzen und damit klimafreundliche Entscheidungen sicherstellen (Dollinger, 2010; Kanonier & Schindelegger, 2018b). Eine koordinierte und integrative Raumentwicklung braucht politischen Steuerungswillen und zugleich Offenheit und Ressourcen für partizipative Planungsprozesse, um das Bewusstsein und die räumlichen Rahmenbedingungen für ein klimafreundliches Verhalten von Bewohner_innen, Unternehmen und Planungsträgern bei der Standortwahl, der Nutzung des Raumes und der Mobilität zu schaffen bzw. zu definieren. Es braucht eine Stärkung der Raumplanung in ihren Kernkompetenzen der Ordnungsplanung, welche klimabewusst den Rahmen für die Situierung, Entwicklung und Gestaltung des Siedlungsraumes, von Wirtschaftsstandorten und von Landschafts- und Grünräumen absteckt, eingebunden in kooperative und partizipative Planungsprozesse (Baasch & Bauriedl, 2012; Dollinger, 2010; Schindegger, 2012; Svanda et al., 2020) (mittlere Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Raumplanung und Raumordnung ermöglichen und fördern klimafreundliche Lebensweisen nachhaltig, wenn
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die Siedlungs- und Gewerbegebiete in Städten und Gemeinden kompakt und durchgrünt angelegt sind (flächensparende Bebauungsdichte, geringe Versiegelung, klimawirksame Bepflanzung);
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Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Freizeitangebote und Grünräume nahe beieinander liegen (funktionale Durchmischung)
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und komfortabel zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Verkehr erreichbar sind (Stadt und Ort der kurzen Wege).
Klimafreundliches Leben in den Regionen ist möglich, wenn
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die Bahn das Rückgrat der Siedlungsentwicklung bildet und mit anderen öffentlichen Verkehrsmitteln attraktiv verknüpft ist,
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Einrichtungen der Wirtschaft, der Kultur, der Bildung, des Konsums und der Verwaltung auf die am besten geeigneten, klimaschonend erreichbaren Standorte verteilt und miteinander vernetzt sind und von den Gemeinden, Bewohner_innen und Unternehmen der Region gemeinsam genutzt werden und
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Landschafts- und Grünräume sowie Gewässer – die grüne und blaue Infrastruktur – für die Naherholung attraktiv sind und zur Biodiversität, zur Produktion gesunder regionaler Lebensmittel, zur Gewinnung erneuerbarer Energien und zur Klimawandelanpassung (Temperaturausgleich, Hochwasserretention) beitragen (Österreichische Raumordnungskonferenz, 2021) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Mittel und Wege für eine dringend erforderliche Trendumkehr von klimaschädigenden zu klimafreundlichen räumlichen Strukturen, die ein klimafreundliches Leben ermöglichen und fördern, sind aufgezeigt. Die wesentlichen Erfolgsfaktoren sind:
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die bestehenden Raumplanungsinstrumente, das heißt die Flächenwidmungs- und Bebauungspläne, die örtlichen und regionalen Entwicklungskonzepte, die räumlichen Konzepte und Planungen der Länder und das Österreichische Raumentwicklungskonzept mit der zugehörigen Bodenstrategie sowie die bodenpolitischen Instrumente ernst nehmen, nutzen und klimagerecht zuspitzen (Kanonier & Schindelegger, 2018b; Österreichische Raumordnungskonferenz, 2021),
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eine kooperative Planungskultur, das heißt vermehrt Governance-Ansätze im Instrumentarium (Leitbilder, Strategien) und in der Prozessgestaltung (Zusammenspiel von Interessengruppen, Bürger_innenbeteiligung) einsetzen (Heinig, 2022; Madner, 2015a; Selle, 2005; Zech, 2015),
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eine integrative Entwicklungsplanung, die mit den unterschiedlichen Sektoren und Fachdisziplinen kommuniziert (Einig, 2011; Österreichische Raumordnungskonferenz, 2021),
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die Verpflichtung der Sektoralplanungen – insbesondere bei Verkehrsplanungen –, zu klimafreundlichen räumlichen Strukturen beizutragen (Danielzyk & Münter, 2018; Stöglehner, 2019; Zech et al., 2016), und
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der zielgerichtete Einsatz fiskalischer Instrumente, um bisher meist „raumblind“ – ohne Berücksichtigung ihrer möglichen positiven (z. B. Nutzung für die Innenentwicklung), aber auch negativen räumlichen Wirkungen (z. B. Zersiedelung) – eingehobene Abgaben (wie Immobilienertragssteuer, Grundsteuer etc.) oder Förderungen (wie Wohnbauförderung, Wirtschaftsförderung, Pendlerpauschale etc.) zu reformieren sowie verständliche und einfach handhabbare Werkzeuge für den interkommunalen Finanzausgleich zur Verfügung zu stellen (Bröthaler, 2020; Mitterer et al., 2016; Mitterer & Pichler, 2020; ÖROK, 2017; Zech et al., 2016) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Kapitel 20: Mediendiskurse und -strukturen
Medien (sowohl klassische Massenmedien als auch soziale Medien) sind zentrale Foren, in denen die Klimakrise inklusive der Transformationsnotwendigkeiten zu einem klimafreundlichen Leben diskursiv konstruiert und verhandelt werden (Reisigl, 2020). Unter anderem durch die Wirkung auf Rezipient_innen, auf welche im vorliegenden Kapitel nur begrenzt eingegangen wird, sind Medien zentral für die Schaffung von Vorstellungsräumen und sich daraus ableitenden Handlungen im Umgang mit der Klimakrise (z. B. Arlt et al., 2010; Gavin, 2018; Kannengießer, 2021; Neverla et al., 2019; Wiest et al., 2015). Für die erfolgreiche Umsetzung vieler Transformationsnotwendigkeiten, die in anderen Kapiteln dieses Berichts herausgearbeitet werden, ist die mediale Konstruktion jener Problemfelder ein wichtiger Faktor. Zwei medienanalytische Teilbereiche werden im Folgenden behandelt: Mediendiskurse (sowohl in Massenmedien als auch auf sozialen Medien) und Medienstrukturen, wobei wir unter zweiterem sowohl Medientechnologien (z. B. Kannengießer, 2020b) als auch die zugrundeliegenden polit-ökonomischen und kulturellen Institutionen verstehen (Fuchs, 2017; Knoche, 2014).
In der wissenschaftlichen Literatur finden sich am Schnittpunkt von Medien und Klimakrise vielfach Studien zu journalistisch produzierten Inhalten, wobei die Rolle der Online- und sozialen Medien immer stärkere Beachtung findet (z. B. Kirilenko & Stepchenkova, 2014; Newman, 2017; Veltri & Atanasova, 2017; Pianta & Sisco, 2020). Für den österreichischen Kontext liegen insgesamt sehr wenige Studien vor. Auf internationaler Ebene zeigt sich, dass die mediale Aufmerksamkeit zu unterschiedlichen Aspekten der Klimakrise in den letzten drei Jahrzehnten eindeutig zugenommen hat, gleichzeitig aber auf niedrigem bis mittlerem Niveau verharrt (eigene Berechnungen basierend auf M. Boykoff et al., 2022; Daly et al., 2022). Etablierte Medienpraktiken wie anlassbezogene Berichterstattung (M. T. Boykoff & Roberts, 2007; Brüggemann et al., 2018; Grundmann & Scott, 2014; M. S. Schäfer et al., 2014) sowie die Konkurrenz mit anderen Themen (Barkemeyer et al., 2017; M. T. Boykoff et al., 2021; Lyytimäki et al., 2020; Pearman et al., 2020) und die ideologische Ausrichtung von Medienhäusern spielen in der Ausgestaltung eine zentrale Rolle (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Barkemeyer et al., 2017; Bohr, 2020; M. T. Boykoff, 2008; M. T. Boykoff & Mansfield, 2008; Brüggemann et al., 2018; Pianta & Sisco, 2020; M. S. Schäfer et al., 2014; Schmidt et al., 2013). Die Klimakrise bietet als langfristiger, globaler, hochkomplexer Prozess mit wenig Personalisierungsmöglichkeiten und über die Sinne individuell nicht unmittelbar wahrnehmbar kein ideales Objekt der journalistischen Berichterstattung. Erst Ereignisse, die einen „Nachrichtenwert“ erfüllen und sich mit der Klimakrise verbinden lassen – seien sie politischer, wissenschaftlicher oder wetterbezogener Natur –, bieten Anlässe der Berichterstattung (Brüggemann & Engesser, 2017; Neverla & Trümper, 2012).
Auf diskursiver Ebene lässt sich in journalistischen Medien ein breiter Konsens für die Existenz der menschengemachten Klimakrise feststellen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Brüggemann & Engesser, 2014; Brüggemann et al., 2018; Grundmann & Scott, 2014). In manchen Kontexten (insbesondere bei ideologischer Nähe von bestimmten Medienhäusern zu rechts-konservativen politischen Eliten oder auch in sozialen Medien) ist die Persistenz klimakrisenskeptischer Positionen durchaus relevant (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Elsasser & Dunlap, 2013; Forchtner et al., 2018; Kaiser & Rhomberg, 2016; McKnight, 2010a, 2010b; Painter & Gavin, 2016; Petersen et al., 2019; Ruiu, 2021; Schmid-Petri & Arlt, 2016; Schmid-Petri, 2017). Eine Analyse für Österreich zeigt, dass der Online-Blog unzensuriert.at sowie die Medien Zur Zeit und Die Aula, welche alle drei der Freiheitlichen Partei Österreichs nahestehen, überwiegend klimakrisenskeptische Positionen verbreiten (Forchtner, 2019).
Die Berichterstattung ist tendenziell von Markt- und Innovationsperspektiven und darin eingebetteten Maßnahmen zur Abwendung der Klimakrise geprägt (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Diprose et al., 2018; Koteyko, 2012; Lewis, 2000; Shanagher, 2020; Yacoumis, 2018). So zeigen bisherige Untersuchungen, dass marktzentrierte Maßnahmen, technokratische Lösungen, die soziale Verantwortung von Unternehmen und nachhaltiger Konsum im Vordergrund der Berichterstattung stehen – auch unabhängig von den ideologischen Ausrichtungen der Zeitungen (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Diprose et al., 2018; Koteyko, 2012; Lewis, 2000; Yacoumis, 2018). Transformative Perspektiven spielen eher eine geringe Rolle (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (Carvalho, 2019; Diprose et al., 2018; Dusyk et al., 2018; Lehotský et al., 2019; Lohs, 2020; Schmidt & Schäfer, 2015; Vu et al., 2019).
Studien zur Rolle von Online- und sozialen Medien im Klimakrisendiskurs nehmen zu. Aufgrund der Datenverfügbarkeit ist bei sozialen Medien ein deutlicher Fokus auf den Mikroblogging-Dienst Twitter zu erkennen (Pearce et al., 2014, 2019). Hier zeigt sich, dass soziale Medien Foren für die Verhandlung von Klimakrisendiskursen insbesondere für wissenschaftliche Detailfragen, (Laien-)Diskussionen und neu-aufkommende Themen sind (Brüggemann et al., 2018; Lörcher & Neverla, 2015). Untersuchungen weisen zudem auf die Relevanz sozialer Medien für das Agenda-Setting und die öffentliche Mobilisierung von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen, wie NGOs und Aktivist_innen hin (Askanius & Uldam, 2011; Greenwalt, 2016; Holmberg & Hellsten, 2016; M. S. Schäfer, 2012). Untersuchungen zur Dynamik von Online-Diskussionen (in sozialen Medien und auf Online-Blogs) legen nahe, dass die Bestätigung der sozialen Gruppenidentität häufig im Vordergrund steht, was zu einer Polarisierung von Positionen, zu Echokammern und zur Fragmentierung von Debatten führt (Brüggemann et al., 2018; Pearce et al., 2019; Treen et al., 2020).
Auf der Ebene der Medieninhalte ergeben sich Transformationserfordernisse insbesondere hinsichtlich der Infragestellung hegemonialer wachstums- und technikoptimistischer sowie marktzentrierter Grundpositionen. Gleichzeitig ist eine stärkere Fokussierung auf Alternativen zur aktuellen Organisation von Ökonomien, positive Szenarien und transformative Lösungsansätze, die den Begriff einer klimafreundlichen Lebensweise in der Vorstellung erfahrbar machen, notwendig (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis) (D. Holmes & Star, 2018; M. S. Schäfer & Painter, 2020).
Auf Ebene der Medienstrukturen stehen die Restrukturierung hemmender Faktoren wie journalistischer Praktiken (Brüggemann & Engesser, 2017; Krüger, 2021; M. S. Schäfer & Painter, 2020), Geschäftsmodelle und Werbemarktabhängigkeit (Beattie, 2020; D. Holmes & Star, 2018; M. S. Schäfer & Painter, 2020) – auch von öffentlichen Insertionen (Kaltenbrunner, 2021), Eigentumsverhältnisse (Lee et al., 2013; McKnight, 2010a) sowie regulative Rahmenbedingungen des Mediensektors im Vordergrund der Transformationsnotwendigkeiten (M. T. Boykoff & Roberts, 2007; Kääpä, 2020) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Gefordert wird, die hohe Abhängigkeit strategischer Kommunikation durch etablierte Quellen („elite sources“) zu reduzieren, da diese dazu tendieren, existierende Machtverhältnisse sowie Produktions- und Konsumbedingungen zu rechtfertigen und damit einer tiefgreifenden Transformation tendenziell entgegenzustehen (Bacon & Nash, 2012; Bohr, 2020; Brüggemann & Engesser, 2017; Schmid-Petri & Arlt, 2016). Da diese Abhängigkeit mit der Krise und Transformation der Medienbranche eher zunimmt, bedarf es auch einer Überprüfung existierender Medienförderungsregimes und -erfordernisse (Friedman, 2015; Gibson, 2017; M. S. Schäfer & Painter, 2020; A. Williams, 2015). Zudem bedarf der Mediensektor als relevanter CO2-Emittent auch aufgrund der wachsenden digitalen Infrastruktur klarer THG-Reduktionspfade, welche bisher nicht ausreichend formuliert sind (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis) (Kannengießer, 2020a; van der Velden, 2018). Die Produktion von Medieninhalten ist in kontextspezifische, institutionelle Strukturbedingungen eingebettet, die hemmend auf eine proaktive Rolle der Medien für eine Transformation zum klimafreundlichen Leben wirken (Fuchs, 2020; Fuchs & Mosco, 2012; Pürer, 2008).
Bezüglich relevanter Akteur_innen ist für den österreichischen Kontext nur wenig gesicherte Forschung vorhanden. Daher ist die Rolle zentraler institutioneller Akteure der österreichischen Medienlandschaft in Bezug auf deren Beiträge zur Herbeiführung einer klimafreundlichen Lebensweise unklar. Einige zentrale Akteur_innen im österreichischen Mediensektor verzeichnen bisher wenig bis keine erkennbaren Aktivitäten zur Klimakrise; andere lassen sich als tendenziell fördernd einstufen (geringe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Unsere Recherche zu möglichen förderlichen Akteur_innen weist darauf hin, dass klimakrisenspezialisierte Recherchenetzwerke und neue Formen des Journalismus hohe Relevanz für die diskursive Konstruktion der Klimakrise, die einer klimafreundlichen Lebensweise zuträglich ist, haben. Gestaltungs- und Handlungsoptionen lassen sich in folgenden Bereichen verorten: alternative Zugänge zu Journalismus (Howarth & Anderson, 2019; Neverla, 2020), die zu Diskursen einer klimafreundlichen Lebensweise beitragen (z. B. transformativer Journalismus (Krüger, 2021)); in einem veränderten Zugang zu Wissenschafts-, Umwelt- und Klimajournalismus in Redaktionen (Drok & Hermans, 2016; Le Masurier, 2016); auf der Ebene der Medienregulierung (Ausrichtung der Medienförderung) (Pickard, 2020); in der Abkehr von fossilistischen Werbemärkten; in der Erarbeitung neuer Finanzierungsmodelle (Kiefer, 2011; Meier, 2012) sowie in der Restrukturierung von Eigentumsverhältnissen (Lee et al., 2013; McKnight, 2010a) (mittlere Übereinstimmung, schwache Literaturbasis).
Kapitel 21: Bildung und Wissenschaft für ein klimafreundliches Leben
Dieses Kapitel baut auf Literatur zu Bildung und Wissenschaft (BUW) für nachhaltige Entwicklung und Klimawandel auf. Dabei wird auf Konzepte fokussiert, die Bildung in den Vordergrund stellen. Wissenschaft wird als Zusammenspiel von Forschung und Lehre gesehen. Insofern werden auch Aspekte von Forschung für ein klimafreundliches Leben aufgegriffen, wobei dies bewusst nicht der Schwerpunkt des Kapitels ist. Auch die Bewertung der Frage, welche Dimension der Rolle der Strukturen von BUW für ein klimafreundliches Leben zugeschrieben werden kann, bleibt ungeklärt. Insbesondere scheinen es die „Strukturen in den Köpfen“ der beteiligten Menschen zu sein, die letztlich Denk- und Handlungsmuster erzeugen, die Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit behindern oder begünstigen.
Bildung und Wissenschaft (BUW) tragen in ihren jetzigen Zielsetzungen und Strukturen nicht im nötigen Umfang zu einer nachhaltigen Entwicklung und damit auch nicht zu einem klimafreundlichen Leben bei (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Der hohen Dringlichkeit, auf systemische Krisen des Anthropozäns – allen voran die Klima- und Biodiversitätskrise – zu reagieren, stehen noch immer die Kräfte der Beharrung entgegen und BUW bleiben in ihren Inhalten (vor allem Lehrinhalten), Zielen, Konzepten und systemischen Grundstrukturen relativ unverändert (Elkana & Klöpper, 2012; Imdorf et al., 2019; Kläy et al., 2015; O’Brien, 2012; WBGU, 2011).
Inter- und Transdisziplinarität (ITD), also disziplinenübergreifende Zusammenarbeit wie auch Kooperation zwischen Wissenschaft und gesellschaftlichen Akteur_innen, sind in BUW unterrepräsentiert. Die Forderung nach einem Ausbau von ITD wird im Kontext nachhaltiger Entwicklung und insbesondere des Klimawandels immer lauter (Future Earth, 2014; ProClim Forum for Climate and Global Change, Swiss Academy of Science, 1997; Scholz & Steiner, 2015; WBGU, 2011, 2014). Der Fokus auf die Reproduktion von bestehendem Wissen im Bildungssystem (Davidson, 2017; R. M. Ryan & Deci, 2016) steht eigenständigem, mündigem, an Werten von Nachhaltigkeit ausgerichtetem Lernen und damit der Koproduktion von neuem Wissen entgegen (Botkin et al., 1979; UNESCO, 2017a) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Wenn BUW auf die Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung sowie eines klimafreundlichen Lebens ausgerichtet werden soll, ist die Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung und ein grundlegender Paradigmenwechsel in Richtung holistischer, integrierter und transformativer Herangehensweisen erforderlich (unter anderem: International Commission on the Futures of Education, 2021; Sachs et al., 2019; Wayne et al., 2006; WBGU, 2011) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Dafür braucht es neue Zielsetzungen (z. B. Orientierung an den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen, Auseinandersetzung mit realweltlichen gesellschaftsrelevanten Problemstellungen, Verbesserung der Lebensqualität für alle) und umfassende Strukturreformen (z. B. Bildungspläne, Curricula, Bildungskonzepte für nachhaltige Entwicklung, Karrieremodelle, Forschungsförderung) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Coelen et al., 2015; Leiringer & Cardellino, 2011; Martens et al., 2010; J. Ryan, 2011; Sachs et al., 2019; Saltmarsh & Hartley, 2011).
Auf Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit ausgerichtete Konzepte in BUW (z. B. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) (UNESCO, 2021), Klimawandelbildung und -forschung, ITD (Future Earth, 2014; ProClim Forum for Climate and Global Change, Swiss Academy of Science, 1997; Scholz & Steiner, 2015; WBGU, 2011), transformative BUW (WBGU, 2011, 2014)) unterstützen den Wissenserwerb und die Entwicklung von Werten und Kompetenzen, um klimafreundliche und nachhaltige Lebensstile zu erreichen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Entsprechende Ansätze existieren, sie müssen aber weiterentwickelt und auf breiter Basis in BUW umgesetzt werden (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Die Handlungsoptionen greifen auf internationale Beispiele und Pilotprojekte in Österreich zurück, die aufzeigen, wie entsprechende Veränderungen in BUW eingeleitet werden können. Die Wirkung der einzelnen Optionen bleibt unklar, da entsprechende Forschung nicht vorhanden ist. Wenn die wissenschaftliche Literaturbasis über die Wirkungen neuartiger Ansätze in BUW erhöht werden soll, sind Begleitforschung für und Evaluation von Klimaforschungs- und -bildungsprogrammen notwendig (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Einige Grundsatzpapiere unterstreichen die Notwendigkeit von Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit im österreichischen BUW-System: z. B. Memorandum of Understanding der Initiative „Mit der Gesellschaft im Dialog“ – Responsible Science (Allianz für Responsible Science, 2015); Grundsatzerlass Umweltbildung für nachhaltige Entwicklung (BMBF, 2014); Unterrichtsprinzip Politische Bildung, Grundsatzerlass 2015 (BMBF, 2015); Systemziel 7 des Gesamtösterreichischen Universitätsentwicklungsplans (BMBWF, 2020); Österreichische Strategie „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BMLFUW et al., 2008); Aktionsplan für einen wettbewerbsfähigen Forschungsraum (BMWFW, 2015); Uniko-Manifest für Nachhaltigkeit (Österreichische Universitätenkonferenz, 2020); weitere Initiativen siehe auch BMBWF (2019). Ihnen stehen gleichzeitig nur punktuelle und in keiner Weise grundlegende und systemische Veränderungen gegenüber. Wenn ein grundlegender Paradigmenwechsel in BUW zur Unterstützung eines klimafreundlichen Lebens und einer nachhaltigen Entwicklung erreicht werden soll, ist die transdisziplinäre Erarbeitung und praktische Umsetzung von umfassenden BUW-Konzepten, welche die oben genannten Veränderungsnotwendigkeiten abbilden, eine vorrangige Handlungsoption (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Wenn Kompetenzen, die für ein klimafreundliches Leben notwendig sind, umfangreich gefördert werden sollen, sind Klimawandelbildung und BNE den Lehr- und Bildungsplänen aller Stufen des formalen Bildungssystems (Schule und Hochschule), insbesondere auch den Lehrplänen der Lehrendenbildung zugrunde zu legen sowie als Aufgabe der Akteur_innen informeller und nonformaler Bildung (wie Kommunen, Museen, Bibliotheken etc.) zu stärken (UNESCO, 2021) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Wenn Wissenschaft für klimafreundliches und nachhaltiges Leben gefördert werden soll, ist neben einer grundlegenden Diskussion vorherrschender Ziele, Inhalte und Strukturen (z. B. Anreizsysteme, Ausschreibungskriterien) und daraus resultierender Macht- und Konkurrenzverhältnisse die Schaffung von kooperativen Strukturen für Inter- und Transdisziplinarität in BUW notwendig (z. B. die Einrichtung entsprechender Professuren, Institute, Forschungszentren, Laufbahnstellen, Studienprogramme, Lehrbücher, Fachzeitschriften, Gesellschaften, Forschungsnetzwerke) (Climate Change Centre Austria – Klimaforschungsnetzwerk Österreich, 2018; Hugé et al., 2016; Kahle et al., 2018; UNESCO, 2017b; Yarime et al., 2012, S. 201) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Wenn Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes (Whole-Institution Approach) an BUW-Einrichtungen umfassend strukturell (UNESCO, 2012, S. 71) in allen Bereichen (z. B. Bormann et al., 2020; Kohl & Hopkins, 2021; UNESCO, 2014) verankert werden sollen, brauchen diese Unterstützung in Form von strategischen Instrumenten (z. B. Rahmenstrategien) sowie entsprechende Leistungsbeurteilungssysteme und -anreize (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Wenn BUW-Einrichtungen auf betrieblicher Ebene Maßnahmen zur Reduktion von THG-Emissionen umsetzen, können sie als Living Labs und Vorreiter einer sozial-ökologischen Transformation dienen (Bassen et al., 2018; Bohunovsky et al., 2020) (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
BUW im Kontext von nachhaltigem und klimafreundlichem Leben zusammen zu bewerten, wurde in diesem Kapitel begonnen. Die daraus resultierenden Diskussion hierzu sollte mit Wissenschaftler_innen und gesellschaftlichen Akteur_innen weitergeführt werden.
Kapitel 22: Netzgebundene Infrastrukturen
Dieses Kapitel bewertet die Literatur zu netzgebundenen Infrastruktursystemen, wie Strom-, Daten-, Straßen- oder Schienennetze, Wasser- oder Gasleitungen, und ihren Beitrag für die Transformation zu einer klimafreundlichen Lebensweise in Österreich. Netzgebundene Infrastrukturen bilden zentrale Grundlagen für alltägliches Leben und Wirtschaften (European Commission, 2021). Sie strukturieren Handlungsweisen langfristig und stellen somit zentrale Weichen für eine klimafreundliche Lebensweise. Aufgrund des Europäischen Rechts hat sich bei netzgebundenen Infrastruktursystemen in Österreich (mit wenigen Ausnahmen wie Wärmenetze und bei kleineren Stadtwerken) eine organisatorische und ökonomische Entflechtung zwischen dem Betrieb der Infrastrukturen (z. B. APG als Stromnetzbetreiber, ÖBB Infrastruktur als Schienennetzbetreiber) und der Bereitstellung konkreter Dienstleistung (z. B. Stromlieferung, öffentlicher Personenverkehr) als marktbezogene Tätigkeiten der Daseinsvorsorge, etabliert. Die europäische Gesetzgebung legt insbesondere fest, dass Energieversorgungs-, Verkehrs- und Telekommunikationsdienste im Interesse der Allgemeinheit von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Infrastruktursysteme sind durch Pfadabhängigkeiten und Beharrungskräfte (z. B. lange Nutzungsdauer, institutionelle Vereinbarungen, komplexe Organisationsstrukturen, hohe Investitionskosten, technische Entwicklungen, Monopolstellungen bestehender Netzwerke) gekennzeichnet, die den Aufbau oder die Veränderung von soziotechnischen Infrastrukturen oft generell erschweren (Ambrosius & Franke, 2015; Tietz & Hühner, 2011; Frantzeskaki & Loorbach, 2010; Bos & Brown, 2012). Solange die Nutzung und Instandhaltung netzgebundener Infrastrukturen mit fossilen Energieträgern in Zusammenhang steht (z. B. Energieaufwand für Fahrzeuge, Verteilung und Nutzung von Erdgas etc.), können auch die dadurch bedingten Handlungen nicht klimafreundlich sein (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Konsens herrscht darüber, dass ohne geeignete Lenkungsmaßnahmen der Ausbau von netzgebundenen Infrastrukturen durch die Nutzung fossiler Energien zu mehr THG-Emissionen führt (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis). Beispielsweise basiert die Energieversorgung derzeit zu zwei Drittel auf fossilen Energieträgern (BMK, 2020), aber auch der Ausbau der straßengebundenen bei gleichzeitigem Rückgang der schienengebundenen Verkehrsinfrastruktur geht in vielen Fällen mit einem negativen Einfluss auf THG-Emissionen einher (Winker et al., 2019; Kropp, 2017; Banko et al., 2022). Regulatorische Rahmenbedingungen haben einen großen Einfluss auf die Gestaltung von Organisationsstrukturen der Infrastruktursysteme. Insbesondere herrscht Konsens darüber, dass die Liberalisierung der Märkte im Rahmen der EU den Status quo prägen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis).
Der Anteil der grauen Energie (indirekte Energie für Herstellungs-, Transport- und Verteil- sowie Vernichtungsprozesse) ist ein substanzieller Faktor bei Infrastruktursystemen, der unmittelbare Auswirkungen darauf hat, wie emissionsintensiv der Ausbau netzgebundener Infrastrukturen ist. Dies belegen Studien, etwa zur Schieneninfrastruktur und zum Wohnbau (Latsch et al., 2013; Kanton Zürich, 2012; Bußwald, 2011). Da insbesondere die Siedlungsdichte einen großen Einfluss auf die Infrastruktur hat, kommen auch raumplanerischen Entscheidungen im Sinne eines klimafreundlichen Lebens eine große Bedeutung zu (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Tiefgreifende Veränderungen der netzgebundenen Infrastruktur, die mit Änderungen in den Akteurslandschaften der Infrastruktursysteme einhergehen, sind notwendig, um klimafreundliches Leben zu fördern und zu ermöglichen (Berggren et al., 2015; Geels, 2014). Sektorenkopplung zwischen unterschiedlichen Infrastruktursystemen (vor allem Power-to-Heat, Power-to-Gas, Power-to-Mobility) spielt eine zunehmend bedeutende Rolle (van Laak, 2020; Büscher et al., 2020). In der Innovationsforschung wird vielfach darauf verwiesen, dass aufbauend auf neuen gesetzlichen Grundlagen (z. B. Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz 2021) neue Organisations- und Akteursmodelle entwickelt und im Rahmen von regulatorischen Experimenten getestet werden sollten (mittlere Übereinstimmung, schwache Literaturbasis).
In Österreich ist auf nationaler und kommunaler Ebene die gestalterische Rolle der öffentlichen Hand als Mehrheitseigentümer zentraler Infrastrukturbereitsteller besonders wichtig. Der Einfluss der öffentlichen Hand auf die Gemeinwohlverpflichtung der Betreiber von Netzinfrastrukturen in den Bereichen Energie und Mobilität besteht eindeutig aufgrund der Verantwortlichkeiten bezüglich der Daseinsvorsorge. Auf dieser Basis und als Mehrheitseigentümerin von zentralen Infrastrukturbetreibern wie ÖBB, ASFINAG, APG, Wiener Netze und vielen weiteren Betreibern in den Bundesländern hat die öffentliche Hand vielfältige gestalterische Möglichkeiten (unter anderem in Bezug auf Investitionsentscheidungen und Vorgaben strategischer Zielsetzungen) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Unabhängige Regulierungsbehörden haben zunehmend den gesetzlichen Auftrag, zusätzlich zu den bisherigen vorwiegend wettbewerbsrechtlichen Aufgaben, zur raschen Verwirklichung der Transformation netzgebundener Infrastruktursysteme beizutragen und eine Balance zwischen den Interessen der Konsument_innen, anderer Marktteilnehmer_innen und Stakeholder aufrechtzuerhalten, während zusätzliche Aufgaben zur Erreichung klimapolitischer Zielsetzungen auf sie zukommen (Bolton & Foxon, 2015). Es bleibt zu beobachten, wie sich die zukünftige Gestaltung der Spielregeln auf die Akteur_innen auswirken wird (beispielsweise im Energiesektor die Möglichkeiten der Bürger_innen, einen aktiven Beitrag zur Energiewende zu leisten) (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
In Hinblick auf die klimafreundliche Transformation netzgebundener Infrastrukturen ergeben sich insbesondere für die öffentliche Hand als Gesetzgeberin, aber auch als Nachfragerin und Beschafferin wesentliche Gestaltungsoptionen. So kann sie durch ihren rahmensetzenden Einfluss die Gestaltung der Netzinfrastrukturen beeinflussen und Investitionen und Finanzierung von Neubau, Umbau oder Stilllegung von Infrastrukturen aktiv lenken. Auch Veränderungen in den Zielsetzungen und Aufgaben von staatlichen Agenturen (zum Beispiel E-Control) können zusätzlichen Spielraum schaffen, um Netzinfrastrukturen im Sinne klimafreundlichen Lebens zu gestalten. Unbestritten ist zudem, dass die öffentliche Hand im Rahmen der privatwirtschaftlichen Verwaltung zu einem Wandel in Richtung klimafreundlicher Lebensweise entscheidende Beiträge leisten kann (hohe Übereinstimmung, mittlere Literaturbasis).
Um der notwendigen Ausrichtung technischer Infrastrukturen auf Klimaneutralität und der zunehmenden Vernetzung Rechnung zu tragen (z. B. Energie-IKT, Verkehr-IKT, Energie-Wasser etc.), hat die öffentlichen Hand die Möglichkeit, das Beschaffungswesen derart zu gestalten, dass innovative Lösungen zur Erreichung von Missionen in den Vordergrund rücken. Im wissenschaftlichen FTI-politischen Diskurs herrscht diesbezüglich breiter Konsens über die Bedeutung funktionaler Ausschreibungen (Directive 2014/24/EU), bei denen der Beschaffer Funktionen definiert und Anbieter geeignete technische oder sonstige Lösungen vorschlagen (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis) (Edquist et al., 2018; Edquist & Zabala-Iturriagagoitia, 2021).
Es herrscht breiter Konsens darüber, dass langfristige Strategien, solide Investitionspläne, verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen, internationale und nationale Abstimmungen, aber auch regionale und lokale Raumordnungsinstrumente sowie missionsorientierte Forschung und Entwicklung notwendig sind, um Netzinfrastrukturen in Richtung Klimafreundlichkeit zu verändern (hohe Übereinstimmung, schwache Literaturbasis). Dabei kommt soziokulturellen Innovationen eine große Rolle zu, die über eine rein technikzentrierte Lösung hinaus auch soziale Bedingungen und ihre architektonischen und infrastrukturellen Entstehungskontexte in den Blick nehmen (Kropp et al., 2021). Damit einher geht ein notwendiger Wandel der Planungskultur (Frantzeskaki & Loorbach, 2010), um nachhaltige Strategien in der räumlichen Planung zu entwickeln, die ein Verständnis über die vielfältigen Zusammenhänge von gebauter Umwelt, menschlichem Handeln und sozialem Leben integrieren (Næss, 2016).
Die mit der Gestaltung netzgebundener Infrastruktursysteme verbundene Komplexität bedingt einen hohen Abstimmungsbedarf zwischen öffentlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Akteur_innen. In der Forschung zu egalitären Governance-Ansätzen werden horizontale und vertikale Mehrebenen-Governance-Mechanismen als wichtige Instrumente betrachtet, um Strategie, Planungsprozesse und Maßnahmen am klimafreundlichen Leben auszurichten und sektorale sowie räumliche Schnittmengen zu nutzen (hohe Übereinstimmung, starke Literaturbasis) (Markard et al., 2020; Thaler et al., 2021).
Teil 4: Pfade zur Transformation
Kapitel 23: Pfade zur Transformation struktureller Bedingungen für ein klimafreundliches Leben
Gestaltungsoptionen im Verhältnis zu Transformationspfaden
Aus einer umfangreichen Literaturanalyse und mit Bezug auf die in Kap. 2 präsentierten Perspektiven wurden vier für Österreich relevante Transformationspfade abgeleitet:
-
1.
Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft (Bepreisung von Emissionen und Ressourcenverbrauch, Abschaffung klimaschädlicher Subventionen, Technologieoffenheit)
-
2.
Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung (staatlich koordinierte technologische Innovationspolitik zur Effizienzsteigerung)
-
3.
Klimaschutz als staatliche Vorsorge (staatlich koordinierte Maßnahmen zur Ermöglichung klimafreundlichen Lebens, z. B. durch Raumordnung, Investition in öffentlichen Verkehr; rechtliche Regelungen zur Einschränkung klimaschädlicher Praktiken)
-
4.
Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation (gesellschaftliche Neuorientierung, regionale Wirtschaftskreisläufe und Suffizienz)
Die Gestaltungsoptionen der Kap. 3 bis 22 wurden hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit den vier Pfaden analysiert und bewertet. Dabei zeigt sich eine sehr hohe Übereinstimmung mit dem Pfad „Staatliche Vorsorge“ und mit dem Pfad „Soziale Innovation“. Die Übereinstimmung mit dem Technologiepfad ist etwas geringer, einige Inkompatibilitäten ergeben sich für den Marktpfad.
Analyse der systemischen Eindringtiefe
Mithilfe einer Ansatzpunkt-Analyse („leverage points“) (Abson et al., 2017) kann eine Einschätzung erfolgen, wie tiefgreifend angestrebte Maßnahmen sind, also ob sie auf kleine inkrementelle Änderungen oder auf einen umfassenden Systemwandel abzielen. Dabei zeigt sich, dass die im vorliegenden Sachstandsbericht enthaltenen Gestaltungsoptionen insgesamt tieferliegende Systemveränderungen bewirken würden als etwa jene Maßnahmen, die im aktuellen Nationalen Klima- und Energieplan (NEKP) angeführt sind.
In der ausgewerteten Literatur wird deutlich dargestellt, dass eine Transformation hin zu einem klimafreundlichen Leben nur dann erfolgreich sein kann, wenn die gesetzten Maßnahmen alle Dimensionen eines Systems ansprechen. Maßnahmen mit geringer Eindringtiefe sind rasch umzusetzen und können den Boden für tiefergehende Systemveränderungen bereiten. Angesichts des Handlungsdrucks wird es notwendig sein, die allermeisten der verfügbaren Gestaltungsoptionen umgehend und gut abgestimmt zu ergreifen, sollen die gesetzten Klimaziele erreicht werden (Kirchengast et al., 2019). In jedem Fall erfordert eine effektive Klimapolitik eine Erweiterung derzeitiger Maßnahmen um solche mit einer größeren systemischen Eindringtiefe.
Synergien und Spannungen zwischen unterschiedlichen Transformationspfaden
Die Gestaltungsoptionen dieses Berichts korrespondieren insbesondere mit dem Pfad „Staatliche Vorsorge“ und, etwas weniger stark ausgeprägt, mit dem Pfad „Soziale Innovation“. Allerdings zeigt sich, dass die Mehrzahl der Gestaltungsoptionen zumindest nicht vollständig inkompatibel zu den anderen Pfaden ist. Das bedeutet, dass unabhängig davon, welcher Pfad favorisiert wird, eine große Zahl an Gestaltungsoptionen, die auch verschiedene Systemdimensionen ansprechen, verwendet werden kann, ohne zu tiefgreifenden Konflikten zwischen grundsätzlich verschiedenen Transformationsparadigmen zu führen. Dies sollte den politischen Entscheidungsprozess erleichtern.
Einige Gestaltungsoptionen erweisen sich im Verhältnis zum Pfad „Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft“ als konflikthaft und spannungsbeladenen. In diesem Fall ist eine klare politische Positionierung erforderlich, will man Friktionen bei der Einrichtung und Umsetzung vermeiden.
Aus der Diskussion der vorgestellten Transformationspfade kann abgeleitet werden, dass die Entwicklung eines neuen „Mischpfades“ ein hohes Maß an Wirksamkeit verspricht, da so Synergien zwischen den Pfaden genutzt und Schwächen einzelner Pfade vermieden werden können. Nur bei spannungsbeladenen Gestaltungsoptionen sind politische Richtungsentscheidungen erforderlich, soll das sozioökonomische System auf die Erreichung der Klimaziele ausgerichtet werden.
Breite Ansprache unterschiedlicher Akteur_innen
Bei den vorgestellten Transformationspfaden nehmen Akteur_innen unterschiedliche Rollen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen ein. Durch den starken Fokus auf institutionelle und materielle Strukturen spielt der Staat als Akteur eine besondere Rolle: Beim Marktpfad und beim Technologiepfad ist die Rolle des Staates jene der rahmensetzenden Institution, die insbesondere die Festlegung von klaren Planungshorizonten vornimmt. Der Staat tritt damit als aktiver Gestalter von innovationsfördernder Forschungs-, Technologie und Innovationspolitik auf. Im Pfad Staatliche Vorsorge übernimmt der Staat eine noch stärker vorsorgende und bereitstellende Rolle, während er im Pfad „Soziale Innovation“ Freiräume und Nischen für soziale Innovationen anbietet und deren Upscaling und Verbreiterung auf der Regimeebene unterstützt.
Gleichzeitig wird deutlich, dass alle vier Pfade neben dem Staat in seiner jeweils besonderen Rolle maßgeblich von unterschiedlichen Akteur_innen in unterschiedlichen Rollen und in einem unterschiedlichen Zusammenspiel mitgestaltet werden: Angesichts der Notwendigkeit, möglichst alle zur Verfügung stehenden Gestaltungsoptionen aufeinander abgestimmt an allen vier Systemdimensionen anzusetzen, ist es unerlässlich, eine Vielzahl an unterschiedlichen Akteur_innen (z. B. Sozialpartner, Unternehmen, NGOs, zivilgesellschaftliche Bewegungen etc.) ins Boot zu holen, deren mögliche Beiträge einzufordern und gleichzeitig auch wertschätzend zu integrieren. Bei der Entwicklung eines Transformationspfades zur Erreichung der Klimaziele muss nicht nur die Wirksamkeit von strukturellen Änderungen des sozioökonomischen Systems bedacht werden, sondern auch die Akzeptanz von Gestaltungsoptionen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Die verschiedenen politischen Parteien haben verständlicherweise eine Nähe zu jenen Transformationspfaden, die ihrer politischen Grundorientierung am besten entsprechen. Die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs erfordert es, Transformationspfade zu finden, die einerseits nach wissenschaftlicher Einschätzung die angestrebten Klimaziele erreichen und denen andererseits eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteur_innen zustimmen kann, um das Momentum zu erzeugen, das die anstehende tiefgreifende Transformation erfordert.
Notes
- 1.
Untersuchungen zu Deutschland zeigen, dass dies kein österreichisches Spezifikum darstellt (Bohnenberger et al., 2021).
Literatur
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