Zusammenfassung
Die Bereitstellungsperspektive untersucht geeignete Strukturen klimafreundlichen Lebens ausgehend von Bereitstellungssystemen, die suffiziente und resiliente Praktiken und Lebensformen erleichtern und damit selbstverständlich machen. Sie ermöglicht eine ganzheitliche Sichtweise, um langfristige Klimawandelmitigation und -anpassung mit der kurzfristigen Sicherung der Grundversorgung und dem Schutz vor Naturgefahren zu verbinden. Die wichtigsten Theorien desWandels, die von der Bereitstellungsperspektive ausgehen und im Folgenden ausführlicher behandelt werden, sind Bereitstellungssysteme und Alltagsökonomie, praxistheoretische Ansätze, Lebensformen, umfassendes Klimarisikomanagement, Suffizienz und Resilienz.
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Michael Jonas und Andreas Novy
FormalPara Leitautor_innenRichard Bärnthaler, Veronica Karabaczek, Leonhard Plank und Thomas Schinko.
FormalPara Beitragende Autor_innenUlrich Brand, Andrea*s Exner, Mathias Krams, Julia Fankhauser, Margarete Haderer und Klaus Kubeczko.
FormalPara RevieweditorinNora Räthzel
FormalPara ZitierhinweisJonas, M., A. Novy, R. Bärnthaler, V. Karabaczek, L. Plank und T. Schinko (2023): Theorien des Wandels und der Gestaltung von Strukturen: Bereitstellungsperspektive. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben) [Görg, C., V. Madner, A. Muhar, A. Novy, A. Posch, K. W. Steininger und E. Aigner (Hrsg.)]. Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg.
27.1 Einleitung
Die Bereitstellungsperspektive untersucht geeignete Strukturen klimafreundlichen Lebens ausgehend von Bereitstellungssystemen, die suffiziente und resiliente Praktiken und Lebensformen erleichtern und damit selbstverständlich machen. Sie ermöglicht eine ganzheitliche Sichtweise, um langfristige Klimawandelmitigation und -anpassung mit der kurzfristigen Sicherung der Grundversorgung und dem Schutz vor Naturgefahren zu verbinden.
Suffizienz, die Mindeststandards eines Genug definiert, und reflexive Resilienz, die mit Einfallsreichtum Vulnerabilitäten und Alltagspraktiken krisensicherer macht, definieren in dieser Perspektive das „gute Leben“. Lebensformen bündeln mehrere Praktiken und sind daher soziale Praktiken zweiter Ordnung, die durch Normen und Infrastrukturen – sowohl klimaschädlichen als auch sozial-ökologischen – strukturiert werden. Dieser Perspektive folgend wird klimafreundliches Leben möglich, wenn klimafreundliche soziale Praktiken „normal“ und selbstverständlich werden. Dazu braucht es klimafreundliche Rahmenbedingungen, damit neue Gewohnheiten entstehen können. Bereitstellungssysteme umfassen rechtliche Regelungen (Verfassung, Gesetze, Verordnungen), Infrastrukturen (materielle und sozial-ökologische wie Begegnungszonen und Energiegemeinschaften) und Institutionen (Raumordnung, Raumplanung, kulturelle Normen, [z. B. Auto als Statussymbol oder „der Traum vom Eigenheim“]).
Die wichtigsten Theorien des Wandels, die von der Bereitstellungsperspektive ausgehen und im Folgenden ausführlicher behandelt werden, sind Bereitstellungssysteme und Alltagsökonomie, praxistheoretische Ansätze, Lebensformen, umfassendes Klimarisikomanagement, Suffizienz und Resilienz.
27.2 Bereitstellungssysteme und Alltagsökonomie
Lead Autor_innen
Richard Bärnthaler, Andreas Novy, Leonhard Plank
Kernaussagen
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Unter den Gegebenheiten gegenwärtiger Formen der Bereitstellung befriedigt kein Land der Welt Bedürfnisse in zureichender Weise und unter der Bedingung eines nachhaltigen Energie- und Ressourcenverbrauchs.
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Wenn jene Bereitstellungssysteme, die menschliche Bedürfnisse mit verhältnismäßig geringem Ressourcen- und Energieverbrauch befriedigen, z. B. Pflege, Bildung, Gesundheit, möglichst klimaeffizient ausgeweitet werden, dann wird klimafreundliches Leben erleichtert.
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Wenn jene Bereitstellungssysteme, die menschliche Bedürfnisse mit einem nicht nachhaltigen Ressourcen- und Energieverbrauch befriedigen, z. B. Wohnen, Ernährung, Mobilität, klimafreundlich umgestaltet werden, dann wird klimafreundliches Leben erleichtert.
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Wenn jene Bereitstellungssysteme, die primär nicht der menschlichen Bedürfnisbefriedigung dienen, sondern andere Ziele verfolgen, z. B. geplante Obsoleszenz oder Rentenextraktion, schrumpfen, dann wird klimafreundliches Leben erleichtert.
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Die Privatisierung und Finanzialisierung alltagsökonomischer Bereitstellung sowie Extraktivismus und Wirtschaftswachstum jenseits eines moderaten Wohlstandsniveaus erschweren klimafreundliches Leben.
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Wenn alltägliche Güter und Leistungen öffentlich, dekommodifiziert, inklusiv und in hoher Qualität bereitgestellt werden, Einkommensungleichheit gering ist und demokratische Institutionen gestärkt werden, dann wird klimafreundliches Leben erleichtert.
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Wenn für alle leistbare (Stichwort: „Universal Basic Services“) sozial-ökologische Infrastrukturen, z. B. Naherholungsräume, dezentrale Pflegeeinrichtungen, Nahversorgung und öffentliche Mobilität, zulasten nicht nachhaltiger Infrastrukturen, z. B. für motorisierten Individualverkehr, ausgebaut werden, dann wird klimafreundliches Leben erleichtert.
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Wenn sozialinnovative Formen der Bereitstellung umgesetzt werden, z. B. durch intermediäre Organisationen, Genossenschaften oder mittels gesellschaftlicher Betriebslizenzen, die den Anbietern der Alltagsökonomie sozial-ökologische Verpflichtungen auferlegen, dann wird klimafreundliches Leben erleichtert.
Das Konzept der Bereitstellung, welches Verteilung, Produktion und Konsum (Gruchy, 1987) integriert, entstammt verschiedenen, vor allem heterodoxen sozialwissenschaftlichen und ökonomischen Denkschulen (Fine, 2002; Todorova & Jo, 2019). Besonders von der politischen Ökologie inspirierte Denkschulen nutzen dieses Konzept, um soziometabolische und politökonomische Zugänge, Fragen der Ressourcennutzung und deren sozioökonomische Folgen zu verbinden (Schaffartzik et al., 2021). Bereitstellungsysteme, wie diejenigen für Energie, Ernährung oder Mobilität, bezeichnen eine Reihe von Elementen (z. B. Infrastrukturen, Technologien, Akteur_innen, rechtliche und soziale Institutionen, Kapital), die bei der Umwandlung von Ressourcen zusammenspielen, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen (Bayliss & Fine, 2020; Fanning, O’Neill, & Büchs, 2020; Plank et al., 2021; Schaffartzik et al., 2021). Damit eröffnet diese Analyse einen systemischen und multidimensionalen Zugang zu Bedürfnisbefriedigung: Konsum und die einhergehenden sozial-ökologischen Konsequenzen können nicht alleine durch individuelle Konsumentscheidungen verstanden werden, sondern hängen von soziokulturellen und politökonomischen Bereitstellungssystemen ab, welche sich historisch und geografisch sowie hinsichtlich der bereitgestellten Güter und Dienstleistungen unterscheiden (Schafran, Smith, & Hall, 2020). Bereitstellungssysteme sind kollektiv geschaffen, wobei sich „kollektiv“ weder auf eine bestimmte Institution bezieht, z. B. staatlich, gemeinnützig, gewinnorientiert, noch auf eine bestimmte räumliche Ebene, z. B. lokal, regional, national (Schafran, Smith, & Hall, 2020). Es bedeutet bloß, dass sich Individuen nicht als autonome Wesen alleine und selbständig mit diesen Gütern und Diensten versorgen können.
Da gemäß des von Kate Raworth (2012) inspirierten Frameworks „safe and just space“ (SJS) gegenwärtig kein Land der Welt Bedürfnisse in zureichender Weise und unter der Bedingung eines nachhaltigen Energie- und Ressourcenverbrauchs befriedigt (O’Neill et al., 2018; Vogel et al., 2021), besteht die klimapolitische Herausforderung darin, die Bedingungen eines guten Lebens für alle innerhalb planetarischer Grenzen auszuloten (vgl. „Living Well Within Limits [LiLi] project“ an der University of Leeds, Brand-Correa & Steinberger, 2017; Millward-Hopkins et al., 2020; Raworth, 2017). Bereitstellungssysteme zu analysieren ist hierbei besonders wichtig, da sie als Vermittler zwischen menschlichem Wohlbefinden und biophysischen Prozessen fungieren (O’Neill et al., 2018).
Um eine klimafreundliche Lebensweisen zu ermöglichen, bedarf es dreierlei: (1) einer Stärkung und klimaeffizienten Ausweitung jener Bereitstellungssysteme, die menschliche Bedürfnisse mit verhältnismäßig geringem Ressourcen- und Energieverbrauch befriedigen, z. B. Pflege, Bildung, Gesundheit (Aigner & Lichtenberger, 2021; Calafati et al., 2021; Hardt et al., 2020); (2) einer Umwandlung jener Bereitstellungssysteme, die menschliche Bedürfnisse mit einem nicht nachhaltigen Ressourcen- und Energieverbrauch befriedigen, z. B. Wohnen, Ernährung, Mobilität (Calafati et al., 2021; Mattioli et al., 2020; Plank et al., 2021); sowie (3) eines Rückbaus jener Bereitstellungssysteme, die primär nicht der menschlichen Bedürfnisbefriedigung dienen, sondern andere Ziele verfolgen (Gough, 2017; O’Neill et al., 2018), z. B. Luxuskonsum (Oswald, Owen, & Steinberger, 2020; UNEP, 2020), Überproduktion und Überkonsumption (Pirgmaier, 2020), Gewinnstreben (Hinton, 2020), geplante Obsoleszenz (Guiltinan, 2009) und Rentenextraktion (Bärnthaler, Novy, & Plank, 2021; Fanning et al., 2020; Mazzucato, 2019; Stratford, 2020). Dies ermöglicht die Etablierung sogenannter „Konsumkorridore“ (Brand-Correa et al., 2020; Fuchs et al., 2021; Gough, 2020; Pirgmaier, 2020), welche einerseits ein Mindestniveau an Konsum garantieren, um ein gutes Leben zu ermöglichen, und andererseits ein Maximum festlegen, um planetarische Grenzen nicht zu überschreiten. Hier ergeben sich konkrete Synergien mit dem Ansatz der Alltagsökonomie („Foundational Economy“), welcher eine Abkehr vom derzeit dominanten wirtschaftspolitischen Fokus auf exportorientierte Industrien und eine Zuwendung, Priorisierung und Aufwertung der auf die Grundversorgung ausgerichteten Alltagsökonomie fordert (FEC, 2018). Diese umfasst de facto die Daseinsvorsorge und grundlegende Nahversorgung (in Erweiterungen alltagsökonomischen Denkens zählt auch der unbezahlte Bereich der Haus- und Sorgearbeit dazu; vgl. Bärnthaler, Novy, & Plank, 2021). In Österreich sind 44 Prozent aller Beschäftigten in den Kernbereichen der Alltagsökonomie tätig (Krisch et al., 2020).
Ein wesentliches Hindernis für diese wirtschaftspolitische Neuausrichtung sind jene gegenwärtigen politökonomischen Bedingungen, die Bedürfnisbefriedigung primär über die Bereitstellung privater Güter und Dienste über Märkte strukturieren. Daher kritisiert der Ansatz der Alltagsökonomie, in Einklang mit Theorien der politischen Ökonomik (Aglietta, 2000), polanyischen Theorien (vgl. Abschn. 28.6) und Ansätzen der Public Economics (Unger, Linde, & Getzner, 2017), dass sich gegenwärtig ein Geschäftsmodell durchgesetzt hat, dass alle Wirtschaftsbereiche – und damit auch diejenigen der Alltagsökonomie, die für ein zivilisiertes Alltagsleben notwendig sind – derselben Logik unterwirft: der Kommodifizierung und Finanzialisierung der Bereitstellung. Der Eintritt privater Anbieter mit finanzialisierten Geschäftsmodellen – von Strom, Wasser und Gas über Wohnen, Gesundheit und Pflege – untergräbt eine effiziente Bereitstellung der Grundversorgung und führte oftmals zu einer unterinvestierten sowie operational überlasteten Alltagsökonomie mit ungleichheitsfördernden Implikationen (Bowman et al., 2015; Burns et al., 2016). Die Kommodifizierung und Finanzialisierung alltagsökonomischer Bereitstellung wirkt darüber hinaus der Möglichkeit eines klimafreundlichen Lebens entgegen, da diese Formen der Bereitstellung vermehrt andere Ziele als Bedürfnisbefriedigung verfolgen und öffentliche Leistungen tendenziell eine höhere Bedürfnisbefriedigung (vor allem hinsichtlich des Zugangs zu grundlegenden Leistungen) mit geringeren Energiebedarf ermöglichen (Vogel et al., 2021). Weitere hemmende Faktoren sind Extraktivismus und Wirtschaftswachstum jenseits eines moderaten Wohlstandsniveaus, da sie mit einer geringeren Bedürfnisbefriedigung und einem höheren Energiebedarf verbunden sind (Vogel et al., 2021). Dementgegen sind Faktoren wie die Qualität öffentlicher Leistungen, geringe Einkommensungleichheit, Demokratie und inklusiver Zugang zu Elektrizität mit einer höheren Bedürfnisbefriedigung und einem geringeren Energiebedarf verbunden (Vogel et al., 2021).
Je nach Entwicklungsphase, in der sich die jeweiligen Bereitstellungssysteme (oder Teile derselben) befinden, ergeben sich unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten, etwa während der Grundlegung (z. B. Konflikte rund um Landnutzungsrechte), des Baus (z. B. Blockaden von Baustellen, Regelung von Eigentumsrechten), der Nutzung (z. B. Konsumboykott), möglicher Folgeinvestition (z. B. Divestment) oder dem Ab- bzw. Rückbau (z. B. Industriebrachen) (Schaffartzik et al., 2021). Zentral für die Erreichung sozialer und klimarelevanter Zielsetzungen sind der Aus- und Aufbau sozial-ökologischer Infrastrukturen (z. B. Naherholungsräume, sozialer Wohnbau, dezentrale Pflegeeinrichtungen, funktionierende Nahversorgung, öffentliche Mobilität), die nachhaltig, klimafreundlich für alle leistbar sind (Bärnthaler, Novy, & Plank, 2021; Großer et al., 2020). Sie stellen für das alltägliche Leben grundlegende Güter und Leistungen als „Universal Basic Services“ (Coote, 2021) ressourceneffizient bereit, fördern „kollektiven Konsum“ (Castells, 1983; Saunders & Williams, 1988) und wirken sozialräumlichen und geschlechtlichen Ungleichheiten entgegen, da sie allen in gleicher Weise zugutekommen (Dabrowski et al., 2020). Bereitstellung lässt sich hierbei nicht auf eine Öffentlich-privat-Dichotomie reduzieren, sondern integriert sozialinnovative Bereitstellungsformen, z. B. durch intermediäre Organisationen, Genossenschaften oder mittels sogenannter gesellschaftlicher Betriebslizenzen (FEC, 2020; Froud & Williams, 2019), die den Anbietern der Alltagsökonomie für deren Privileg, in geschützten Bereichen operieren zu dürfen, im Gegenzug sozial-ökologische Verpflichtungen (inklusive Arbeitsbedingungen) auferlegen.
Bereitstellungssysteme sind somit zentrale Strukturen eines klimafreundlichen Lebens. Sie legen wesentliche langfristige Rahmenbedingungen für die Art der Produktion, des Konsums und der Verteilung von Ressourcen fest. Diese sind nicht nur unterschiedlich wirksam zur Befriedigung von Bedürfnissen, sondern gehen auch mit bestimmten unterschiedlichen Umwelt- und Klimaimplikationen einher.
27.3 Praxeologische (praxistheoretische) Ansätze
Lead Autor_innen
Michael Jonas
Kernaussagen
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Ursachen und Folgen der aktuellen Klimakrise werden aus praxistheoretischer Perspektive als Konsequenzen primär menschlichen Agierens betrachtet, die sich in den modernen und nachmodernen Gesellschaften in der hegemonialen Stellung nichtnachhaltiger und ressourcenvernutzender Produktions- und Konsumtionsweisen und entsprechender milieuspezifischer Lebensformen niederschlagen.
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Auch wenn Akteur_innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären (Wirtschaft, private Lebenswelt, Wissenschaft usw.) zu den negativen Folgen der Klimakrise beitragen oder mitunter klimafreundliche Alternativen zu etablieren suchen, hat vor allem die Politik die Gestaltungsmacht, Voraussetzungen für die Entwicklung eines klimafreundlichen Lebens zu schaffen.
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Als Voraussetzungen eines klimafreundlichen Lebens gelten auf Dauer angelegte erneuerte oder neuartige Infrastrukturen und Lebensformen, in denen Agieren in nachhaltigen, etwa suffizienzorientierten Praktiken (vor allem Gewohnheiten) zentral ist und in denen Akteur_innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus teilhaben können.
Praxistheoretische (oder praxeologische) Ansätze liegen inzwischen in großer Vielzahl vor. Zentral ist der Blick auf die Entstehung, Beschaffenheit und Reproduktion gesellschaftlicher Praxis. In der neueren Diskussion wird der Fokus auf Praktiken (Reckwitz, 2002) gelegt, die als strukturelle Momente gefasst (Giddens, 1979) die Dichotomie zwischen (gesellschaftlichen) Strukturen und (individuellen) Handlungen aufheben. Die Orte sozialer Praxis konstituieren sich so aus den performativen Inszenierungen unterschiedlicher Praktikenbündel und mit ihnen verbundenen soziomateriellen Ordnungen (Schatzki, 2002). Als eine Praktik gilt ein Nexus des Tuns und Sprechens, der durch Fertigkeiten, Regeln und Leitmotiven strukturiert wird. Soziomaterielle Ordnungen bestehen aus Vernetzungen menschlicher und nicht menschlicher Entitäten. Praxeologische Forschungen weisen einen relationalen Charakter auf, demzufolge gesellschaftliche Phänomene ihre Bedeutungen aus ihren sich beständig verändernden wechselseitigen Verhältnissen bekommen. Diese Forschungen verzichten zudem auf dichotome Unterscheidungen wie etwa unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen (Mikro/Makro) (Marston, Jones, & Woodward, 2005), um hervorzuheben, dass gesellschaftlicher Wandel nicht durch andersartige Prozesse (wie Up- und Down-Scaling), sondern durch den kontextspezifischen Wandel von Praktiken und Ordnungen stattfindet (Jonas, 2016; Schmid & Smith, 2021; Warde, 2005). Praxeologische Forschung trifft selten Diagnosen unilinearer gesellschaftlicher Entwicklungspfade. Die Entstehung unterschiedlicher Pfade wird als permanent zu reproduzierendes Ergebnis kontingenter Prozesse angesehen, die sich durch Stabilität und Wandel auszeichnen. Praxistheoretische Ansätze werden in der Regel mit Ansätzen aus anderen Disziplinen angereichert – bezogen auf das Konzept der klimafreundlichen Lebensweise etwa durch Aspekte, die sich beispielsweise aus der Care-Debatte oder den Diskussionen über Suffizienz übernehmen lassen.
Nicht jede praxeologische Forschung hebt gesellschaftlichen Wandel (Schatzki, 2019) hervor und nur ein Teil dieser Studien fokussiert auf Ursachen und Folgen der aktuellen Klimakrise sowie auf Fragen nach sozial-ökologischen Transformationen und Nachhaltigkeitsaspekten (Jonas & Littig, 2015). In den hier relevanten Analysen werden Ursachen und Folgen der Klimakrise als direkte und indirekte Konsequenzen vornehmlich menschlicher Aktivitäten gedeutet, die sich in ressourcenvernutzenden Produktions-, Distributions- und Konsumtionsweisen manifestieren und auf globaler Ebene unterschiedlich ausgeprägt sind. Es werden die Ursachen nicht nachhaltiger beziehungsweise nachhaltiger Konfigurationen von Praktiken und Ordnungen analysiert, um deren nachhaltigkeitsorientierte Veränderung beziehungsweise deren stärkere gesellschaftliche Verbreitung zu fokussieren. Außer der Kritik an Nachhaltigkeitspolitiken, die Wandel als Veränderungen individueller Wahlentscheidungen thematisieren (Shove, 2010), geht es um die Analyse nicht nachhaltiger produktions- und konsumtionsrelevanter Problematiken etwa im Energiesektor (Shove & Walker, 2014), im Mobilitätsbereich (Barr & Prillwitz, 2014), im Ernährungsbereich (Exner & Strüver, 2020) oder in weiteren Praktiken des Alltags und deren Umwandlung im Kontext der Entwicklung und Verbreitung nachhaltiger Lebensstile und Gemeinschaften. Oder es geht um die Analyse von nachhaltigkeitsorientierten Fallbeispielen und Projekten (Smith, 2019; Zapata Campos, Zapata, & Ordoñez, 2020) und die Frage ihrer weiteren gesellschaftlichen Verbreitung sowie zuletzt um die Entfaltung nachhaltiger Infrastrukturen (Cass, Schwanen, & Shove, 2018) und Lebensformen (Jaeggi, 2014; Novy, 2018).
Reichweite und Komplexität der Ziele und Herausforderungen vorgeschlagener Veränderungsprozesse variieren. Unterscheiden lassen sich einerseits jene Vorschläge, die sich auf eingegrenzte Phänomene beziehen (etwa auf das Ausschalten von WLAN-Routern, wenn sie nicht gebraucht werden; Spinney et al., 2012), von solchen, die unterschiedliche gesellschaftliche Sphären betreffen. Andererseits können diese Vorschläge danach voneinander abgegrenzt werden, ob sie eher nur auf inkrementelle Veränderungen ausgerichtet sind, die wie in den Fällen von Green-Economy- oder Circular-Economy-Strategien keinen grundsätzlichen gesamtgesellschaftlichen Wandel voraussetzen, oder ob sie auf radikale Transformationen (Brand & Wissen, 2017b) ausgerichtet sind, die außer der Implementierung veränderter oder neuer Herstellungs-, Distributions- und Konsumtionsweisen und -praktiken auch einen grundlegenden Wandel der jeweils betreffenden gesellschaftlichen Sphären selbst verlangen (Sayer, 2013).
Grundsätzlich werden diejenigen hegemonialen Praktiken und ihre soziomateriellen Kontexte als hemmende strukturelle Momente identifiziert, die (etwa durch hohen Ressourcenverbrauch) mitverantwortlich für die Klimakrise sind. Das schließt auch entsprechende Akteur_innen ein, die von klimaschädlichen Praktiken rekrutiert, also zur Teilnahme animiert werden. Als notwendig gilt, die hegemoniale Stellung solcher Praktiken/Ordnungs-Konfigurationen etwa in den Bereichen der Mobilität, des Wohnens, der Produktion, der Konsumtion und anderen aufzuweichen, indem diese Konfigurationen entweder verändert oder durch neuartige, klimafreundliche Alternativen ersetzt werden. Solche Wandlungsprozesse können dabei eher kommunikativ und kooperativ verhandelbar oder/und eher konflikt- und konfrontationsbehaftet sein. Es werden auch spezifische Akteur_innen hervorgehoben, deren Engagement in nicht nachhaltigen Praktiken als problematisch eingeschätzt wird. Dies sind vor allem Akteur_innen aus der Politik und der Wirtschaft, aber auch Bürger_innen etwa in ihrer Rolle als Konsument_innen oder als Mitglieder bildungs- und einkommensstarker Milieus, deren nicht nachhaltige Aktivitäten weitaus stärker ausgeprägt sind als das jener von bildungs- und einkommensschwächeren Milieus (Kleinhückelkotten, Neitzke, & Moser, 2016; Moser & Kleinhückelkotten, 2018). Umgekehrt gelten jene Praktiken als positiv, deren Fertigkeiten, Regeln und Leitmotive zu klimafreundlichen Aktivitäten anregen, indem sie etwa konsequent an Suffizienz-Kriterien ausgerichtet sind.
Da Sozialität als Ergebnis einer permanent ablaufenden Reproduktion sozialer Praxis aufgefasst wird, können prinzipiell alle notwendigen Veränderungen für eine klimafreundlichere Lebensweise angegangen und umgesetzt werden. Dies schließt auch die grundsätzliche Veränderbarkeit etwa hegemonialer Machtverhältnisse, Verhaltenspfade oder materieller Infrastrukturen ein. Eine Reihe von empirischen Studien arbeitet heraus, dass Veränderungen unterschiedliche Auswirkungen auf gesellschaftliche Milieus haben und dass sich deren Mitglieder unterschiedlich stark mobilisieren lassen. Grundlegend gilt, dass Anrufungen zwecks individueller Verhaltensänderungen ebenso zu kurz greifen wie nicht partizipative Änderungsversuche gesellschaftlicher Strukturmomente, die auf die Akzeptanz in der Gesellschaft angewiesen sind, diese aber nicht erzielen. Neben der Ausarbeitung thematisch eingeschränkter Maßnahmenbündel und Forderungen nach gesellschaftlichen Wandlungsprozessen erweisen sich verstärkt Diskussionen über die Veränderung und Erschaffung von Infrastrukturen als hilfreich (Cass et al., 2018). Weitreichend sind Konzeptionen, die Infrastrukturen als soziotechnische Assemblagen (Amin, 2013) fassen, zu denen und zu deren Entfaltung sowie Regeneration nicht nur Materialitäten und Technologien zählen und beitragen, sondern auch entsprechende Bündel von Praktiken sowie involvierte Akteur_innen (Jonas, 2022).
Als Strukturbedingungen für die Entfaltung und auch die Weiterverbreitung von klimafreundlichen Praktiken/Ordnungs-Komplexen (vor allem in Form von Infrastrukturen und Lebensformen) gelten mehr oder minder weitreichende gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die entweder die bislang hegemonialen und nicht nachhaltigen Praktiken/Ordnungs-Komplexe verändern oder diese durch klimagerechtere Alternativen ersetzen (Blühdorn et al., 2020; Hausknost et al., 2017). Exemplarisch kann hier auf den Aufbau fahrrad- und klimagerechter Mobilitätsinfrastrukturen oder auf klimafreundliche Infrastrukturen im Energiebereich hingewiesen werden (Shove & Walker, 2014; Watson, 2013). Auch wenn grundsätzlich Akteur_innen aus ganz unterschiedlichen Sphären wie der Wirtschaft, der privaten Lebensführung oder der Öffentlichkeit sich in derartigen Wandlungsprozessen engagieren (können), können die Grundvoraussetzungen der als notwendig betrachteten sozial-ökologischen Transformationen aus praxeologischer Perspektive vornehmlich durch die Politik implementiert werden.
27.4 Lebensformen
Lead Autor_innen
Andreas Novy, Michael Jonas
Kernaussagen
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Klimafreundliche und klimaunfreundliche Aktivitäten von Individuen sind Bestandteile spezifischer Lebensformen, die aus kollektiv geteilten Bündeln von Praktiken, Gewohnheiten und Kapitalausstattungen (Bildung, Einkommen usw.) bestehen.
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Die Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus (strukturiert unter anderem nach Einkommen, Bildungsstand, Alter) führt zu bestimmten gemeinsamen Praktiken und Gewohnheiten, was klimafreundliches Leben stärker beeinflusst als Konflikte, die sich aus unterschiedlichen Haltungen und Werteinstellungen ergeben (etwa in Bezug auf den Stellenwert von Klimapolitik).
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Wenn klimafreundliches Leben in allen Milieus selbstverständlicher werden soll, dann braucht es keine einheitliche klimafreundliche Lebensform, sondern Allianzen unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus mit jeweils milieuspezifischen klimafreundlichen Lebensformen.
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Die Lebensformen der Milieus mit hohem Einkommen und höherem Bildungskapital führen im Vergleich zu anderen milieuspezifischen Lebensformen tendenziell zu nicht klimafreundlichem Handeln. Wenn klimafreundliches Leben bei klimapolitisch aufgeschlossenen Milieus (insbesondere die neue, akademisch gebildete Mittelklasse) umgesetzt werden soll, dann braucht es sozial-ökologische Infrastrukturen, die die Abkehr vom emissionsintensiven privaten Konsum erleichtern.
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Wenn klimafreundliches Leben bei klimapolitisch skeptischen Milieus (insbesondere die traditionelle Mittelklasse und Unterschicht) umgesetzt werden soll, dann braucht es die Förderung von Praktiken und Gewohnheiten, die ausdrücklich auch wegen nicht klimabezogener Zielsetzungen übernommen werden (z. B. weil Pendeln mit öffentlichen Verkehrsmitteln billiger wird als mit dem Auto).
Konzepte wie Lebensformen, Lebensweise, Lebensführung und Lebensstil (Jaeggi, 2014) beschäftigen sich mit alltäglichem Leben und daher auch mit klimafreundlichem Handeln. Während „Lebensstil“ und „Lebensführung“ stärker das Moment der individuellen Wahl betonen (Diezinger, 2008; Rössel & Otte, 2011), zielt „Lebensweise“ umfassend auf die Reproduktion von Gesellschaft, wie z. B. der „Amercian way of life“ oder die „imperiale Lebensweise“ (Brand & Wissen, 2017a). Wandel erfassen diese drei Konzepte nur eingeschränkt. „Lebensformen“ (Jaeggi, 2014) verbinden hingegen Konfigurationen spezifischer Gewohnheiten, Praktikenbündel und unterschiedlicher Kapitalformen (Bourdieu, 1982), die das Leben der Menschen jenseits individueller Wahlentscheidungen soziokulturell und materiell prägen. Damit kann die Verankerung des Alltagshandelns in nicht nachhaltigen und klimaschädlichen Produktions- und Konsummustern untersucht werden (Blühdorn et al., 2020; Lessenich, 2016). Die nach 1945 voll einsetzende „große Beschleunigung“ verallgemeinerte fordistische Massenproduktions- und Massenkonsumtionsweisen (Aglietta, 2015), was das Überschreiten planetarischer Grenzen beschleunigte (Brunner, Jonas, & Littig, 2022). Diese Lebensweise führt dazu, dass Massenkonsumgesellschaften strukturell „auf Kosten anderer“ (ILA Kollektiv et al., 2017), nämlich den Bevölkerungsgruppen vor allem aus der südlichen Hemisphäre, leben.
In nachmodernen Gegenwartsgesellschaften kommt es zu sozialräumlicher Fragmentierung, Individualisierung und Singularisierung und in der Folge zu kulturalisierten Klassenbeziehungen und politischen Polarisierungen. Reckwitz (2017) etwa stellt eine Kulturalisierung von Klassenbeziehungen und damit einhergehenden politischen Polarisierungen fest: Sieht man von einer kleinen gesellschaftlichen Oberklasse (mit ihren exzessiven Ressourcenverbräuchen) ab, steht ihm zufolge eine neue, akademisch gebildete Mittelklasse in konfliktären Beziehungen bzw. Machtkämpfen mit einer schrumpfenden traditionellen, die fordistischen Gesellschaften prägenden Mittelklasse sowie einer Unterklasse, denen jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Milieus mit ihren jeweils spezifischen Lebensformen zugeordnet werden können (Reckwitz, 2019). So sehen sich die überwiegend kosmopolitisch orientierten und einstellungsbezogen klimaschutzaffinen Milieus der neuen akademisch geprägten Mittelklasse den Milieus einer traditionellen Mittelschicht und einer Unterklasse gegenüber, die sowohl soziokulturelle Veränderungen (z. B. Geschlechterverhältnisse) als auch Klimaschutz (z. B. Ernährungsstiländerungen) skeptischer betrachten (Blühdorn et al., 2020; Reckwitz, 2017).
Einer repräsentativen Studie im Auftrag des deutschen Umweltbundesamtes (Kleinhückelkotten et al., 2016; Moser & Kleinhückelkotten, 2018) folgend steht der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch primär im Zusammenhang mit der Höhe des verfügbaren Einkommens und des Bildungskapitals: Der personenbezogene Gesamtenergieverbrauch steigt mit höherem Einkommen und höherem formalen Bildungsstand – auch bei Menschen mit positiver Umwelteinstellung. Dies lässt vermuten, dass klimaschädliches Verhalten eher wenig mit Einstellungsaspekten, dafür aber umso mehr mit sozialer Positionierung, entsprechenden Praktiken und der Ausstattung mit Kapitalien zu tun hat. Gleichzeitig zeigt sich, dass eher klimafreundliche Alltagspraktiken vor allem auch in Milieus vorzufinden sind, denen exzessive Ressourcenverbräuche gar nicht möglich sind. Für alle Milieus gilt, dass sie Vor- und Nachteile aus dieser nicht klimafreundlichen Lebensweise erzielen – wenn auch in unterschiedlichem und ungleichem Ausmaß (Bärnthaler, Novy, & Stadelmann, 2020; Novy, 2019).
Für die Klimapolitik folgt daraus, gesellschaftliche Strukturdynamiken umfassend und kontext- sowie milieuspezifisch umzubauen (Bärnthaler et al., 2020; Novy, 2019). Klimaschädliche milieuspezifische Lebensformen sollten in suffizientere Varianten transformiert werden, während weniger klimaschädlichen milieuspezifischen Lebensformanteile genügsamer ausgerichtet und ihre Verbreitung und Durchsetzung unterstützt werden sollten. Gestaltungsoptionen ergeben sich daraus, Praktiken, Gewohnheiten, Ressourcenausstattungen und Infrastrukturen suffizienter, gerechter und sorgsamer auszurichten (Jonas, 2022).
Dies erfordert die Gestaltung von Rahmenbedingungen, um nachhaltig klimafreundliches Verhalten zu ermöglichen (vgl. Abschn. 1.3). Als Leitorientierung rückt damit eine variantenreiche sozial-ökologische Transformation der Lebensmöglichkeiten und Alltagsgewohnheiten in den Vordergrund, die für verschiedene Allianzen unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus offen ist, weil sie keinem „best way of living“ verpflichtet ist. Solche Projekte einer sozial-ökologische Transformation sind als gesellschaftliche Gestaltungsaufgaben im Sinne zu verändernder politischer Rahmenbedingungen, soziokultureller und sozioökonomischer Logiken – insbesondere jener der Wachstums- und Profitorientierung – und sich verändernder Kräfteverhältnisse einzuschätzen, die den unterschiedlichen Kontextbedingungen gesellschaftlicher Milieus im Hinblick auf deren Ausstattung mit unterschiedlichen Kapitalsorten, Einstellungsmustern und Alltagsgewohnheiten Genüge tun (Novy, 2019). Es geht darum, alltägliches Leben und Wirtschaften zu verändern (vgl. Abschn. 27.2). Sozial-ökologische Infrastrukturen haben inklusive Verteilungswirkungen (Bärnthaler, Novy, & Stadelmann, 2021) und erleichtern „solidarische Lebensweisen“ (vgl. Ausführungen zur imperialen Lebens- und Produktionsweise in Abschn. 28.4).
27.5 Umfassendes Klimarisikomanagement und transformative Anpassung
Lead Autor_innen
Thomas Schinko, Veronica Karabaczek
Kernaussagen
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Eine engere Abstimmung der Governance-Strukturen im Naturgefahrenmanagement sowie in der Klimawandelanpassung ermöglicht eine ganzheitlichere Herangehensweise an das Management von Klimarisiken und eine integrierte Betrachtungsweise der drei Risikodimensionen „Hazard“, „Exposition“ und „Vulnerabilität“.
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Wenn sich die Auswirkungen des Klimawandels in Zukunft intensivieren und Anpassungsgrenzen schlagend werden, reichen gegenwärtige inkrementelle Risikomanagementmaßnahmen möglicherweise nicht mehr aus, um gesellschaftliche Ziele und Werte zu erhalten.
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Die Wahl eines transformativen Risikomanagementansatzes gibt Entscheidungsträger_innen die Möglichkeit, ihren Fokus auf grundlegende strukturelle Ursachen von klimabedingten Risiken, einschließlich sozialer Verhaltensweisen, zu verlagern, anstatt nur deren unmittelbare Ursachen durch inkrementelle Ansätze zu betrachten.
Das Naturgefahrenmanagement und die Klimawandelanpassung – international, aber auch in Österreich – beschäftigen sich derzeit noch weitgehend unabgestimmt mit teils den gleichen klimabedingten Risiken (Leitner et al., 2020; Schinko, Mechler, & Hochrainer-Stigler, 2017). Naturgefahrenmanagement fokussiert in der Risikoanalyse und Entscheidungsfindung stark auf Erfahrungen aus der Vergangenheit, die Klimawandelanpassung auf mögliche zukünftige Entwicklungen. Beide Bereiche weisen nach wie vor einen starken Fokus auf das „Hazard“, sprich die Naturgefahr selbst, auf, ohne die zentrale Rolle der beiden anderen Risikokomponenten „Exposition“ und „Vulnerabilität“ umfassend mit zu betrachten (IPCC, 2012). Überdies erschweren die statische und starre Natur der derzeitigen Risikomanagementzyklen ihre rasche Anpassung an die Gegebenheiten, die sich durch den Klimawandel und sozioökonomische Entwicklungen verändern (Lavell et al., 2012).
Gegenwärtige inkrementelle Anpassungs- bzw. Risikomanagementmaßnahmen reichen möglicherweise nicht mehr aus, um gesellschaftliche Ziele und Werte zu erhalten, wenn sich die Auswirkungen des Klimawandels in Zukunft intensivieren (Preston, Dow, & Berkhout, 2013). Der Punkt, an dem Ziele von Akteur_innen oder eines sozioökologischen Systems „intolerablen Risiken“ ausgesetzt sind, wird als Anpassungsgrenze bezeichnet (IPCC, 2018b). Als intolerabel werden Risiken definiert, wenn sie eine sozial ausgehandelte Norm (z. B. die Verfügbarkeit sauberen Trinkwassers) oder einen sozial ausgehandelten Wert (z. B. eine gewisse Lebensweise) überschreiten, obwohl adaptive Maßnahmen gesetzt werden oder wenn die verfügbaren Maßnahmen das Risiko nicht ausreichend reduzieren. Während sogenannte „weiche“ Grenzen der Anpassung durch fehlende Ressourcen (z. B. finanzieller Natur) erreicht werden, theoretisch aber mit derzeitig verfügbaren Technologien verschoben werden könnten (z. B. Bereitstellung finanzieller Mittel für den Bau eines Damms), können sogenannte „harte“ Grenzen in absehbarer Zeit nicht aufgelöst werden, da es dafür derzeit keine bekannten Prozesse oder Maßnahmen gibt, um die Situation zu ändern (z. B. der Verlust von Siedlungsraum durch den Meeresspiegelanstieg) (Klein et al., 2014).
Eine weitere Herausforderung besteht in der Identifikation von weichen und harten Anpassungsgrenzen, die durch die voranschreitende Klimakrise schlagend werden können (Dow et al., 2013). Hierbei stellt sich die zentrale Frage der Risikotoleranz – „Wo ist in welchem Kontext die Anpassungsgrenze?“ –, aber auch die Frage nach der Priorisierung der Werte unterschiedlicher Akteur_innen (Preston et al., 2013) und der darauf aufbauenden Maßnahmen. Die Identifikation von transformativen Anpassungsmaßnahmen, welche diese Grenzen entweder verschieben oder es erlauben, mit dem Restrisiko umzugehen, erweist sich als komplexe Aufgabe. Transformative Anpassung verändert die fundamentalen Attribute eines sozioökologischen Systems, um negativen Auswirkungen des Klimawandels zu begegnen (IPCC, 2018b). Ein tieferes Verständnis der fundamentalen Bestandteile des sozioökologischen Systems, ihrer Ausprägung und Veränderung wird daher notwendig, um gezielt transformative Maßnahmen identifizieren und setzen zu können. Sollte zum Beispiel die Erhaltung alpiner Siedlungsräume als fundamentaler Wert innerhalb einer Gesellschaft angesehen werden, so kann die Absiedelung alpiner Regionen, um Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren, als transformative Anpassungsmaßnahme gesehen werden. Transformative Anpassungsmaßnahmen können sowohl vorbeugend als auch nachträglich gesetzt werden, um mit zukünftigen sowie bereits eingetretenen Folgen des Klimawandels umzugehen, welche unzureichendem Klimaschutz zugeordnet werden können (IPCC, 2018a).
Um die Effektivität und Effizienz des Managements klimabezogener Risiken zu verbessern, müssen die beiden derzeit noch weitgehend unabhängig agierenden Ansätze (das Naturgefahrenmanagement und die Klimawandelanpassung) in einem ganzheitlichen Ansatz enger miteinander verbunden werden – ein Konzept, das als „Klimarisikomanagement“ bezeichnet wird (Jones et al., 2014; Mechler & Aerts, 2014; Schinko et al., 2017). Watkiss et al. (2014) identifizierten das Klimarisikomanagement als geeigneten Ansatz, um proaktiv Maßnahmen gegen derzeitige klimabedingte Extreme umzusetzen – und somit das derzeitige Anpassungsdefizit kurzfristig zu bewältigen –, jedoch vor allem um mittelfristig die Klimaanpassung und das Naturgefahrenmanagement enger miteinander zu verknüpfen. Um diese Integration zu erreichen, ist es entscheidend, zunächst die aktuellen, oftmals voneinander isolierten Governance-Strukturen in bestimmten Ländern oder Regionen zu verstehen und somit die potenziellen Synergien, aber auch Konflikte an der Schnittstelle dieser beiden Politikfelder zu identifizieren (Leitner et al., 2020).
Um die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen im Klimarisikomanagement proaktiv miteinzubeziehen, schlagen Lavell et al. (2012) vor, auf Theorien des Lernens aufzubauen. Dementsprechend wären für einfache Risiken – charakterisiert durch relativ geringe Unsicherheiten in Bezug auf das Auftreten und die Auswirkungen sowie durch lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge – standardmäßig analytische, expert_innenzentrierte Methoden (wie z. B. Risikomodellierung) für die Abschätzung und die weitere Kommunikation zukünftiger Risiken geeignet. Komplizierte Risiken, die durch Ungewissheit in Bezug auf die möglichen Auswirkungen und die Eintrittswahrscheinlichkeit definiert sind, würden eine stärkere kollaborative und iterative Interaktion mit betroffenen Stakeholdern erfordern. Schließlich bedürfen komplexe Risiken, die durch große Unsicherheiten gekennzeichnet sind, umfassende deliberative und adaptive Entscheidungsprozesse, um ein gemeinsames Verständnis und Verantwortungsbewusstsein zu fördern.
Eine inkrementelle Adaptierung der gegenwärtigen Maßnahmen ist unzureichend, sollten Anpassungsgrenzen erreicht werden; neuartige, transformative Maßnahmen werden hiermit notwendig (Dow et al., 2013; Kates, Travis, & Wilbanks, 2012). Das IPCC (2018a) definiert transformative Anpassung als „Anpassung, die die grundlegenden Eigenschaften eines sozio-ökologischen Systems in Erwartung des Klimawandels und seiner Auswirkungen verändert“. Auch zur Umsetzung transformativer Maßnahmen im Rahmen eines umfassenden Klimarisikomanagements, wie z. B. die freiwillige Absiedelung aus von Hochwasser gefährdeten Hochrisikogebieten, bedarf es partizipativer Entscheidungsprozesse, um schlussendlich auch die davon betroffenen Menschen nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen und somit potenzielle Konflikte möglichst schon im Entscheidungsprozess auszuverhandeln (Seebauer & Winkler, 2020).
Derzeit herrscht noch ein gewisses Silodenken (Naturgefahrenmanagement vs. Klimawandelanpassung) im Umgang mit klimabedingten Risiken. Den jeweiligen Akteur_innen müssten die potenziellen Synergieeffekte und damit einhergehende Effizienzgewinne einer orchestrierten Herangehensweise bewusst werden. Auf institutioneller Ebene wäre etwa die Etablierung eines ressortübergreifenden Klimarisikorates wichtig. Wie Leitner et al. (2020) zeigen, bestehen trotz der Bereitschaft einzelner Akteur_innen in Österreich noch strukturimmanente Hindernisse zur tatsächlichen Umsetzung eines umfassenden Klimarisikomanagements.
Vor allem im Hinblick auf nicht inkrementelle Anpassungsmaßnahmen erscheint eine Koppelung der Domänen der Klimaanpassung (mit Fokus auf vergangene Ereignisse und Praktiken) und des Naturgefahrenmanagements (mit Fokus auf zukünftige klimatische und sozioökonomische Veränderungsprozesse) als zielführend. Die österreichischen KLAR! Regionen könnten treibende Kräfte in der Etablierung eines umfassenden Klimarisikomanagements sein.
Ein adaptives umfassendes Klimarisikomanagement ermöglicht eine ganzheitliche, proaktive und reflexive Herangehensweise an das Management von klimabedingten Risiken wie Hochwasser, Trockenheit und Dürre. Dow, Berkhout und Preston (2013) argumentieren, dass der Anpassungsprozess nicht endet, wenn eine Anpassungsgrenze erreicht ist. Stattdessen kann transformative Anpassung, die auf der Neudefinition gesellschaftlicher Ziele basiert, etablierte Risikomanagementansätze erweitern. Die Wahl eines transformativen statt eines inkrementellen Ansatzes gibt Entscheidungsträger_innen die Möglichkeit, ihren Fokus auf grundlegende strukturelle Ursachen von klimabedingten Risiken, wie z. B. soziale Verhaltensweisen, ökonomische Strukturen und Landnutzung, zu verlagern, anstatt nur deren unmittelbare Ursachen zu betrachten (Pelling, O’Brien, & Matyas, 2015).
Transformative Anpassungsmaßnahmen müssen vorrausschauend und in Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen Sektor, dem privaten Sektor und der Zivilgesellschaft über alle Governance-Ebenen hinweg etabliert werden. Um die Wahrscheinlichkeit des Erreichens von Anpassungsgrenzen und somit die Notwendigkeit für transformative Anpassung zu reduzieren, bedarf es zuallererst einer ambitionierten Klimaschutzpolitik im Einklang mit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens. Dabei ist zu beachten, dass selbst bei Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels bis zum Ende des Jahrhunderts gewisse natürliche Systeme, wie etwa Korallenriffe, sowie sozio-ökologische Systeme, z. B. dicht besiedelte, niedriggelegene Küstengebiete, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an ihre Anpassungsgrenzen stoßen werden bzw. mit intolerablen Risiken konfrontiert sein werden (IPCC, 2018b). Solch ein umfassender Ansatz, angewandt auf alle Governance-Ebenen, ermöglicht eine faire und inklusive Herangehensweise an die Auswirkungen der Klimakrise, welche in Zukunft möglicherweise zu einem Überschreiten weicher und harter Anpassungsgrenzen führen werden.
In der Klimawandelforschung selbst bedarf es eines verstärkten Umdenkens hin zu einem integrativen, interdisziplinären und transformativen Forschungsansatz, da sich Klimawandelanpassung nicht als eigenständiges Forschungsfeld definieren lässt. Vielmehr gilt es Anpassung unter dem Begriff der gesellschaftlichen Transformation zu fassen und nicht nur einzelne Anpassungsprozesse zu beleuchten und zu optimieren (Beck et al., 2013; Brunnengräber & Dietz, 2013).
27.6 Suffizienz
Lead Autor_innen
Michael Jonas
Kernaussagen
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Aus der Perspektive der Forschung zu Suffizienz gelten Ursachen und Folgen der aktuellen Klimakrise als vornehmlich durch den Menschen verursacht. Sie ergeben sich aus den Wachstumszwängen moderner und nachmoderner Gesellschaften, ihrer primären Fixierung auf Effizienz und der nur marginal entfalteten Kompetenz, Praktiken der Selbstbegrenzung und Genügsamkeit zu entwickeln und durchzusetzen.
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Ein differenzierter Suffizienz-Begriff fasst Genügsamkeit einerseits als einen Mindeststandard, der für alle Gesellschaftsmitglieder erfüllt sein muss, damit diese sich adäquat entfalten können. Andererseits weist er auf die vorherrschenden nicht nachhaltigen Produktions- und Konsumtionsweisen und ihre negativen Auswirkungen hin, die es umzuwandeln und durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen gilt.
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Zur Bekämpfung der Ursachen und Folgen ressourcenvernutzender und nicht nachhaltiger Produktions-, Distributions- und Konsumtionsweisen bedarf es gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die je nach eingenommener Perspektive inkrementelle Veränderungen bis hin zu einer grundlegenden sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft erfordern.
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Vor allem Akteur_innen aus der Politik und aus der öffentlichen Sphäre (starke soziale Bewegungen) wird die Kompetenz zugewiesen, in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären (Wirtschaft, Recht, Politik, Öffentlichkeit usw.) die infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen, damit umfangreiche suffizienzorientierte Wandlungsprozesse angestoßen und verwirklicht werden können.
Das Suffizienz-Konzept hat seit einigen Jahren in unterschiedlichen Bereichen an Bedeutung gewonnen (Paech, 2013) und tritt im Sinne von Genügsamkeit vornehmlich im Nachhaltigkeitsdiskurs und im Zusammenhang mit der Klimakrise auf. Die konzeptionellen Ursprünge des Suffizienz-Begriffs gehen auf den Konvivialitäts- bzw. Selbstbegrenzungs-Ansatz von Ivan Illich (1973) zurück. Später wurde das Konzept vor allem im Umfeld des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie in Deutschland aufgegriffen. Inzwischen gilt Suffizienz als eine (Weiter-)Entwicklung des Nachhaltigkeitsbegriffs. Einerseits stellt sie eine komplementäre Nachhaltigkeitsstrategie vor allem zur Effizienz dar, die ohne der Suffizienz „richtungsblind“ sei (Sachs, 1993), aber auch zur Konsistenz (Sachs, 1993; von Winterfeld, 2007). Andererseits ist die Suffizienz eine Nachhaltigkeitsstrategie, die dezidiert nicht von der Möglichkeit einer absoluten Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch ausgeht (von Winterfeld, 2007). Neben Akteur_innen aus dem akademischen Bereich nutzen es vornehmlich Akteur_innen aus der Politik und aus NGOs.
Suffizienz wird oftmals im Sinne eines maßvollen Umgangs „mit natürlichen Ressourcen durch einen genügsamen, weniger materialistisch orientierten Lebensstil“ (Kühl, 2019, S. 70) definiert. Sie wird als eine wesentliche Voraussetzung sozial-ökologischer Transformationen sowie als Chiffre für das „gute Leben“ (Schneidewind, 2017) bezeichnet. Hierbei lassen sich individualistische (auf einzelne Menschen bzw. private Haushalte) und sozietäre Konzeptualisierungen sowie ein eng gefasster Suffizienz-Begriff, der auf Minderverbrauch abzielt, und ein weit gefasster Begriff, der Genügsamkeit als neuen Indikator für Wohlstand sieht, voneinander unterscheiden. Zusätzlich bewegen sich die Perspektiven in einer Spanne, die von der Fokussierung auf Aspekte individueller Lebensstile bis hin zur Betrachtung weiter gefasster Produktions- und Konsumtionsweisen reicht. Das Konzept der Öko-Suffizienz etwa schließt „die Frage nach dem gelingenden Leben ein“ (Linz, 2004, S. 10). Es bezieht sich dabei sowohl auf individuelle Selbstbeschränkung (als Verzicht oder Reduzierung ressourcenintensiver Güterarten, freiwillige Mäßigung, Eigenproduktion, Erhaltung und Reparatur, gemeinsame Nutzung) als auch auf gesellschaftliche Umverteilung.
Zentral für weitreichende Konzeptionen ist die Bedeutung von „genug“. „Having enough“ (Frankfurt, 2015) markiert dabei einerseits eine Qualität oder einen Standard, der für alle Gesellschaftsmitglieder gegeben sein muss, damit diese sich adäquat entfalten können. Andererseits weist „having enough“ darauf hin, dass es angesichts der vorherrschenden klimaschädigenden Produktions- und Konsumtionsweisen sowohl um gesellschaftliche Umverteilungen (Casal, 2007) als auch darum geht, dass die Gesellschaftsmitglieder grundsätzlich ihre Konsumtionsaktivitäten limitieren sollten „in order to remain below a level that would be ‚too much‘ in terms of harmful emissions and resource extraction“ (vgl. auch Brand et al., 2021; Spengler, 2016, S. 925). In den Fällen, in denen suffiziente Projekte und Aktivitäten nicht nur entwickelt und gefordert, sondern auch in der gesellschaftlichen Praxis umgesetzt werden, haben diese Umsetzungen mitunter den Charakter sozialer Innovationen (Jonas, 2018; Novy, 2019). Als solche tragen sie Keime gesellschaftlicher Transformationsprozesse hin zu klimafreundlichen Lebensweisen in sich. Oftmals bedarf es zur Umsetzung suffizienter Projekte aber zuerst einmal Exnovationen, also Abwicklungen ökologisch und sozial schädlicher Praktiken und Technologien, die suffizienten Projekten im Weg stehen.
Es wird von tiefgreifenden sozialen, politischen, ökologischen und ökonomischen Umbrüchen ausgegangen, die als Krisen wahrgenommen werden. Trotz Effizienzgewinnen in der Produktion steigen die globalen Umweltbelastungen mitbedingt durch Rebound-Effekte (also Effekte, in denen effizienzsteigerungsbedingte Ressourceneinsparungspotenziale aufgrund etwa von Nachfragesteigerungen nicht oder nur teilweise erzielt werden) und durch nachholende Modernisierungsprozesse etwa in asiatischen Ländern weiter an, sodass die Klimakrise weiter verschärft wird. Das Suffizienz-Konzept lenkt wie der Resilienz-Begriff den Fokus auf Problemlösungen, im Gegensatz zu diesem verortet es die Problemerzeugung aber grundlegend in den Wachstumszwängen moderner und nachmoderner Gesellschaften.
Je nach Bedeutungsinhalten variieren die Antworten, ob die Gesellschaften einem fundamentalen Wandel unterzogen werden müssen, um den Folgen der Klimakrise begegnen zu können, oder ob sie dazu nur ihre bestehenden gesellschaftlichen Strukturen anpassen oder individuelle Verhaltensänderungen hervorrufen müssen. In weiter gefassten Konzeptionen gilt es als gesichert, dass Lebensqualität und Wohlstand von Wirtschaftswachstum abgekoppelt werden müssen (Postwachstumsdebatte) und es geht um den grundlegenden Wandel gesellschaftlicher Infrastrukturen, um suffizienten Praktiken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären zum Durchbruch zu verhelfen (Brunner, 2021). Aufgrund fehlender gesellschaftlicher Voraussetzungen und Infrastrukturen kann sich Suffizienz demnach gesellschaftlich nur dann durchsetzen, wenn die sozialen, rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen dies ermöglichen (Jonas, 2022). Erforderlich ist folglich eine noch zu schaffende Suffizienz-Politik (Linz, 2015; Schneidewind & Zahrnt, 2013), die auf unterschiedlichen Ebenen Maßnahmen implementiert, um überhaupt die Voraussetzungen für die Erschaffung einer klimafreundlichen Verantwortungsarchitektur zu schaffen (WBGU, 2014). Gemeint sind etwa ressourcenschonende Politiken (Zell-Ziegler et al., 2021), Tempolimit, Einführung von Ökosteuern, Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), nachhaltige Stadtentwicklung mit entsprechenden Siedlungsstrukturen, Förderung nachhaltiger Naherholung, Aufwertung ehrenamtlicher Tätigkeiten und Veränderung gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Notwendig sind auch entsprechende Aktivitäten privatwirtschaftlicher Unternehmen wie Transformation der Wertschöpfungsketten zugunsten Unschädlichkeit, Haltbarkeit, Reparierbarkeit und Gemeinwohlorientierung sowie der einzelnen Gesellschaftsmitglieder im Verfolgen resilienter und suffizienter Alltagspraktiken und Lebensweisen.
Suffizienz-Konzepte sind auf diskursiver Ebene allgemein mit Gegner_innen konfrontiert, die entsprechende Maßnahmen, etwa der Einschränkung, als „Bevormundung“ thematisieren. Aus der Perspektive weitreichender Suffizienz-Konzepte lassen sich auf der Ebene gesellschaftlicher Praxis alle Kräfte und Akteur_innen benennen, die die etablierten Interaktionslogiken und Praktiken der ressourcenvernutzenden Produktions-, Konsumtions- und Reproduktionsweisen und -praktiken stützen. Als positive Bezugsreferenzen gelten hingegen alle Projekte, Initiativen und Akteur_innen aus der Zivilgesellschaft und anderen gesellschaftlichen Sphären, deren Praktiken sich zentral durch Suffizienz-Kriterien auszeichnen.
Wie auch im Fall des Resilienz-Begriffs (oder dem Konzept sozialer Innovationen) unterscheiden sich die Benennungen struktureller Bedingungen erheblich. Auch wenn in manchen Fällen vor allem auf individuelle Verhaltensänderungen gesetzt wird, geht es zumeist darum, dass entsprechende rahmenbedingungenschaffende Politiken und starke soziale Bewegungen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären (Wirtschaft, Recht, Politik, Öffentlichkeit usw.) erst die infrastrukturellen Voraussetzungen schaffen müssen, damit umfangreiche suffizienzorientierte Wandlungsprozesse in unterschiedlichen Praktiken und von unterschiedlichen Akteur_innen angestoßen und verwirklicht werden können (Kalt & Lage, 2019). Im Erfolgsfall kann Suffizienzpolitik erheblich dazu beitragen, nicht nachhaltige Alltagspraktiken zu deprivilegieren sowie vorhandene Ressourcen gerechter zu verteilen (Böcker et al., 2021; Christ & Lage, 2020). Suffizientes Agieren fußt dann nicht auf individuellen Lebensstilentscheidungen, sondern gilt als kollektiv getragener Bestandteil sozial-ökologisch ausgerichteter milieuspezifischer Lebensformen.
27.7 Resilienz
Lead Autor_innen
Michael Jonas
Kernaussagen
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Aus der Perspektive der Forschung zu Resilienz gilt es, gesellschaftliche Strukturen robuster gegen die negativen Folgen der Klimakrise zu machen. Gemeinsame Merkmale dieser Forschungen sind, dass sie von Bedrohung(en) ausgehen und auf gesellschaftsbezogene Problemlösungen fokussieren, um bestehende gesellschaftliche Strukturen widerstandsfähiger zu machen oder neue widerstandsfähige Strukturen zu schaffen.
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Es bedarf gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die je nach eingenommener Perspektive inkrementelle Veränderungen bis hin zu einer grundlegenden sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft erfordern.
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Die Benennung der mit Resilienz verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten und -optionen hängt erheblich von den jeweils genutzten Konzepten ab. Grundsätzlich bewegt sie sich in der Spanne individueller Verantwortungszuschreibungen bis hin zu infrastrukturbezogenen Strategien.
Resilienz ist ein Konzept, das seit einigen Jahren an Bedeutung gewonnen hat und im Sinne von Widerstandsfähigkeit in unterschiedlichen Themenfeldern und im Kontext der Klimakrise genutzt wird. Resilienz weist dabei nicht nur auf die bedrohliche Gegenwart hin, sondern verspricht zugleich, eine adäquate Problemlösungsstrategie an die Hand zu geben (Meyen et al., 2017). Das Resilienz-Konzept hat seine Ursprünge in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen, aus denen es in sozial-ökologische, psychologische und später auch sozialwissenschaftliche Ansätze (Adger, 2000) eingeflossen ist. Resilienz meint in der Physik die Kapazität, einen Gleichgewichtszustand wiederherzustellen und in der Ökologie die Fähigkeit, Veränderungen und Störungen zu absorbieren (Holling, 1973). Ausgangspunkt sind Bedrohungen, Störungen, externer Stress, Schocks, abrupter Wandel, Krisen usw. (Schneider & Vogt, 2017). Vor allem in sozialwissenschaftlichen Diskursen wird Resilienz verstärkt aus seiner Verankerung in gleichgewichtsorientierten „closed-systems theories“ (Davoudi, 2018:3) herausgelöst.
Seine Prominenz gewinnt das Konzept durch die Relevanz, die ihm von der Politik (in der EU etwa über die „Aufbau- und Resilienzfazilität“ mit dazugehörigen nationalen „Aufbau- und Resilienzplänen“, auf nationaler Ebene beispielsweise im österreichischen Förderprogramm „Stadt der Zukunft“) sowie von privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur_innen zugemessen wird. In diesem Zusammenhang wird von tiefgreifenden sozialen, politischen, ökologischen und ökonomischen Umbrüchen ausgegangen, die als Krisen eingeschätzt werden. Das Resilienz-Konzept wird generell mit der Beobachtung verknüpft, dass trotz Effizienzgewinnen in der Produktion die globalen Umweltbelastungen weiter ansteigen und die schon bestehenden negativen Effekte der Klimakrise weiter verstärkt werden. Das Konzept dient als Marker für bestimmte Ideen, Inhalte und Strategien, wie ein klimafreundliches Leben vor dem Hintergrund der als gegeben angesehenen Klimakrise erreicht werden kann.
Gemeinsames Merkmal aller Resilienz-Konzepte ist, dass sie von Bedrohung(en) ausgehen und auf gesellschaftsbezogene Problemlösungen fokussieren. Sie lassen sich somit potenziell mit Verfahren des Klimarisikomanagements kombinieren. Hervorgehobene Ziele, Herausforderungen und Konflikte aufgrund der Klimakrise variieren stark, und zwar abhängig von den jeweils genutzten Begriffsdefinitionen und weiter gehenden theoretischen Ansätzen. Eng gefasste Resilienz-Konzepte gehen beispielsweise ausschließlich von externen Belastungen und Schocks aus (MacKinnon & Derickson, 2013). Abgeleitete Ziele und Herausforderungen fokussieren auf Systemerhalt der vorhandenen nationalen oder globalen etwa kapitalistischen Produktionsweisen in einer Weltwirtschaft. Aus der Perspektive reflexiver, evolutionärer und gerechtigkeitsbezogener Resilienz-Konzepte betrachtet, erfordern die als Bedrohungen thematisierten Veränderungen der Klimakrise hingegen gerade keine systemerhaltenden Reaktionen, sondern Strategien, die die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst grundlegend umwandeln.
Wird Systemresilienz auf gesellschaftliche Phänomene übertragen, ist dies mit der Kritik konfrontiert, bestehende Strukturen zu bevorzugen und Machtungleichgewichte sowie Fragen nach gesellschaftlichen Transformationen auszublenden. Dieser Kritik begegnet das Konzept der „evolutionären Resilienz“, das diese Engführungen „with its rejection of equilibrium, emphasis on inherent uncertainty and discontinuities, and insight into the dynamic interplay of persistence, adaptability and transformability“ (Davoudi et al., 2012:306) nicht aufweist.
Im Unterschied zu einfachen Resilienz-Begriffen rechnen reflexive Resilienz-Konzepte nicht nur mit Unsicherheiten, „für sie sind Krisen und Umbrüche keineswegs (immer) schlecht. Vielmehr wird die ‚aneignende‘ Verarbeitung dieser Krisen und Umbrüche als entscheidendes Merkmal komplexer lebender oder sozialer Systeme angesehen“ (Schneider & Vogt, 2017, S. 175 f.; Schwanen, 2016). Aus der Perspektive weiter gefasster Resilienz-Konzepte sind hemmende Kräfte vor allem dort lokalisierbar, wo Forderungen nach gesellschaftlichem Wandel negiert werden oder wo Akteur_innen Resilienz-Strategien verfolgen, die systemerhaltend und (etwa von der Politik) top-down organisiert werden. Resilienz ist dann nicht mehr als ein Schlagwort oder ein „empty signifier which can be filled to justify almost any ends“ (Davoudi et al., 2012, S. 329).
Enger gefasste Resilienz-Konzepte fokussieren auf Systemanpassungen (etwa: Begrünung des urbanen Raumes, Gebäudedämmung, Digitalisierung), enthalten oftmals auch Anrufungen an die individuelle Eigenverantwortung und Selbstoptimierung der Gesellschaftsmitglieder (Graefe, 2019) und grenzen damit die Frage nach einem klimafreundlichen Leben stark ein. Für die weiter gefassten Resilienz-Konzepte hingegen ist die Ermöglichung eines klimafreundlichen Lebens verknüpft mit grundlegenden Wandlungsprozessen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (Barr & Devine-Wright, 2012). Versteht man Resilienz als Einfallsreichtum, dann thematisiert sie soziale Ungleichheit und Fehlallokationen, fokussiert auf einen breit gefassten Ressourcenbegriff, der organisationale Kapazitäten und Sozialkapital (MacKinnon & Derickson, 2013) genauso umfasst wie Ressourcen aus dem öffentlichen Sektor sowie Skills und technisches Wissen, das Alltagswissen der Menschen und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Anerkennungspraktiken. Hervorgehoben wird im Diskurs mitunter, dass sich resiliente Projekte, Verfahren oder Maßnahmen erst dann im umfassenden Sinn sozial-ökologisch gerecht verwirklichen lassen (Connolly, 2018), wenn Resilienz nicht nur wie bislang fester Bestandteil etwa in vielen Stadt- und Raumplanungsprozessen ist, sondern die damit verbundenen Aspekte grundlegend an Vulnerabilitätskriterien (Moss, 2020) und an die Alltagspraktiken der betroffenen Menschen rückgebunden werden (Brantz & Sharma, 2020). Die Benennung der mit Resilienz verbundenen Möglichkeiten und Gestaltungsoptionen hängt erheblich von den jeweils genutzten Konzepten ab. Grundsätzlich bewegt sie sich in der Spanne individueller Verantwortungszurechnung und infrastrukturbezogenen Politiken, die in den gesellschaftlichen Sphären (Wirtschaft, Recht, Politik, Öffentlichkeit usw.) erst die Bedingungen schaffen müssen, damit umfangreiche Wandlungsprozesse in unterschiedlichen Praktiken und von unterschiedlichen Akteur_innen angestoßen und verwirklicht werden können. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass spezifische Klimapolitikmaßnahmen auch negative Effekte auf die Resilienz spezifischer Systeme haben können (Adger et al., 2011).
Wenig ambitionierte Konzepte basieren auf der Annahme, dass die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen ausreichen, um notwendige Anpassungsprozesse angehen zu können, während ambitioniert ausgerichtete Konzepte einen grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Strukturmomente in den Fokus nehmen, in dem sowohl staatliches Umsteuern als auch eine Transformation der vorherrschenden Politik selbst unumgänglich sind.
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