Zusammenfassung
Die Gesellschaft-Natur-Perspektive beschäftigt sich mit historisch entstandenen, tiefenwirksamen Treibern der Klimakrise. Ihr Fokus liegt auf klimaschädlichen Merkmalen von Natur-Mensch-Beziehungen, die für die westliche Moderne typisch und auch in Österreich wirksam sind. Dazu zählen Wachstumszwang, Kapitalakkumulation, dualistische Verständnisse von Natur und Mensch, Vorstellungen und Praktiken der Naturbeherrschung, sozial-ökologische Ungleichheit und disziplinäre Wissensproduktion.
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Margaret Haderer
FormalPara Lead Autor_innenUlrich Brand, Antje Daniel, Andreas Exner, Julia Fankhauser, Christoph Görg, Andreas Novy, Thomas Schinko, Nicolas Schlitz, Anke Strüver
FormalPara Beitragende Autor_innenAlina Brad, Klaus Kubeczko, Joanne Linnerooth-Bayer
FormalPara RevieweditorinNora Räthzel
FormalPara ZitierhinweisM. Haderer, U. Brand, A. Daniel, A. Exner, J. Fankhauser, C. Görg, A. Novy, T. Schinko, N. Schlitz, A. Strüver (2022): Perspektiven zur Analyse und Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben) [Görg C., V. Madner, A. Muhar, A. Novy, A. Posch, K. W. Steininger, E. Aigner (Hrsg.)]. Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg.
28.1 Einleitung
Die Gesellschaft-Natur-Perspektive beschäftigt sich mit historisch entstandenen, tiefenwirksamen Treibern der Klimakrise. Ihr Fokus liegt auf klimaschädlichen Merkmalen von Natur-Mensch-Beziehungen, die für die westliche Moderne typisch und auch in Österreich wirksam sind. Dazu zählen Wachstumszwang, Kapitalakkumulation, dualistische Verständnisse von Natur und Mensch, Vorstellungen und Praktiken der Naturbeherrschung, sozial-ökologische Ungleichheit und disziplinäre Wissensproduktion.
Um Merkmale moderner Gesellschaften sichtbar machen zu können, braucht es eine gewisse Distanz zu unmittelbaren Gegebenheiten und ihren Notwendigkeiten. Obwohl diese Merkmale oft nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, wirken sie konkret als Rahmenbedingungen für alltägliches Handeln. In diesem Sinne sind sie Strukturen.
Kapitalakkumulation, beispielsweise, drückt sich in der Bewertung von Arbeit aus. Obwohl Sorgearbeit relativ ressourcenextensiv und daher klimafreundlich ist, findet sie – obwohl sie Voraussetzung für die Reproduktion allen Lebens ist – nur wenig Anerkennung – weder gesellschaftlich noch monetär. Ein Grund dafür ist, dass Sorgearbeit nur bedingt gewinnorientiert zu organisieren ist. Das Beispiel Arbeit zeigt: Für ein klimafreundliches Leben wäre Arbeit stärker nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz und ihren biophysischen Implikationen zu bewerten als nach Gewinnspannen.
Aus einer Gesellschaft-Natur-Perspektive ist klimafreundliches Leben eine Lebensweise, die mit einigen Merkmalen der westlichen Moderne bricht, allen voran Natur-Mensch-Dualismen, Kapitalakkumulation als ökonomisches Leitprinzip und damit verbunden historisch weit zurückreichenden sozial-ökologischen Ungleichheiten. Diese Perspektive operiert tendenziell auf Distanz zu unmittelbaren Lösungen: Sie analysiert, diagnostiziert und abstrahiert begrifflich, um tiefenwirksame Treiber der Klimakrise zu benennen und dadurch sichtbar zu machen. Ihre Distanz zu unmittelbaren Lösungen ist eine Schwäche der Gesellschaft-Natur-Perspektive, denn über das, was unmittelbar in einem konkreten Kontext zu tun wäre, gibt sie wenig Auskunft. Doch die Distanz zu unmittelbaren Lösungen ist zugleich eine Stärke: Sie erlaubt es, die sozialen Implikationen und die Tiefenwirksamkeit von vorgeschlagenen Lösungen differenziert zu beurteilen, indem sie vorgeschlagene Maßnahmen (z. B. CO2-Bepreisung) kritisch auf ihre tatsächlichen biophysischen und sozialen Implikationen hinterfragt.
Zentrale Akteure der Gesellschaft-Natur-Perspektive sind vor allem die Wissenschaft, NGOs und die Zivilgesellschaft (z. B. Umweltbewegungen). Wissensproduktion und Protest sind ihre zentralen Instrumente. Regulierung spielt ebenfalls eine Rolle.
Die positiven Seiten von Wirtschaftswachstum in Ländern wie Österreich – hoher Lebensstandard, öffentliche Daseinsvorsorge, vielfältige Konsummöglichkeiten – sind eine Barriere für grundlegende Veränderungen in Richtung ressourcen- und vor allem CO2-extensiverer gesellschaftlicher Organisation. Der Wunsch, am Status quo festzuhalten, ist weit verbreitet.
Dem Staat wird aus der Gesellschaft-Natur-Perspektive eine Doppelrolle zugeschrieben: Er stellt sowohl eine Barriere für klimafreundliches Leben dar (z. B. indem er Wegbereiter von Extraktivismus, dem höchstmöglichen Abbau von Rohstoffen, ist und damit auch Wegbereiter von globaler, oft rassifizierender Ungleichheit). Der Staat ist zugleich ein Beschleuniger klimafreundlichen Lebens, z. B. dann, wenn er den Ausstieg aus der fossilen Energie fördert.
Die wichtigsten Theorien des Wandels aus einer Gesellschaft-Natur-Perspektive stellen wir im Folgenden dar: Soziale und die Politische Ökologie, Anthropozän- und Planetare-Grenzen-Ansatz, öko-feministische Gerechtigkeitsdebatten, Polanyische Transformationstheorien, Postwachstumsansätze, Staatstheorien, Ökotopie- und Cultural-Theory-Ansätze.
28.2 Soziale und politische Ökologie
Lead Autor
Christoph Görg
Kernaussagen
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Wenn Strukturen für ein klimafreundliches Leben geschaffen werden sollen, dann müssen die Wechselbeziehungen zwischen Natur und Gesellschaft besser verstanden und berücksichtigt werden. Dafür braucht es inter- und transdisziplinäre Forschung, allen voran Forschung, die Sozial- und Naturwissenschaften besser miteinander verknüpft.
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Wenn das Transformationspotenzial von Innovationsangeboten (wie Kreislaufwirtschaft, E-Mobilität, energetischer Nutzung von Biomasse) plausibel eingeschätzt werden soll, dann braucht es umfassende Studien zu den Energie- und Materialströmen („soziale Metabolismus“), die/der diesen Innovationsangeboten zugrunde liegen, analysiert werden.
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Wenn eine Transformation hin zu klimafreundlichen Strukturen auf bisherige Innovationsgebote (wie grünes Wachstum, E-Mobilität, Kreislaufwirtschaft, energetische Nutzung von Biomasse) beschränkt bleibt, dann ist es unwahrscheinlich, dass Strukturen für ein klimafreundliches Leben geschaffen werden. Bisherige sozialmetabolische Studien zeigen, dass keines der bisherigen Innovationsangebote den Ressourcenverbrauch und die damit verbundenen CO2-Emissionen ausreichend reduziert.
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Der globale Kapitalismus beruht auf dem industriellen Metabolismus, der auf fossile und damit endliche Ressourcen angewiesen ist und damit keine nachhaltige Produktions- und Lebensweise darstellt.
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Eine gesellschaftliche Selbstbegrenzung der Ressourcennutzung ist notwendig.
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Eine Transformation hin zu klimafreundlichen Strukturen ist mit schwerwiegenden Interessen- und Zielkonflikten verbunden. Diese zu verstehen und darzulegen sowie Möglichkeiten der Überwindung zu skizzieren, ist eine Kernaufgabe der politischen Ökologie.
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Wenn vor allem soziale Bewegungen (Degrowth, Klimagerechtigkeit) bestehende, klimaunfreundliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse problematisieren und verschieben, dann ist eine Transformation hin zu klimafreundlichen Strukturen wahrscheinlicher.
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Wenn gesellschaftliche Selbstbeschränkung stattfindet, dann sind klimafreundliche Strukturen wahrscheinlicher.
Die Soziale Ökologie (Becker & Jahn, 2006; Haberl et al., 2016; Pichler et al., 2017) setzt den Fokus auf die Interaktionen zwischen Gesellschaft und Natur bzw. auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Sie analysiert Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaft und Natur, die für die Abschätzung der Notwendigkeit, der Machbarkeit und der Nachhaltigkeit von gesellschaftlichen Transformationen zentral sind, aber bei rein sozialwissenschaftlichen Analysen oft übersehen werden. Die politische Ökologie ergänzt diese Perspektive durch eine Analyse der Konflikte sowie der gesellschaftlichen Interessenlagen und Machtverhältnisse, die mit der Aneignung und Nutzung der Natur notwendig verbunden sind und die viele der Barrieren verstehbar machen, die einer klimafreundlichen Lebensweise entgegenstehen.
Mit den verschiedenen Ansätzen der Sozialen und Politischen Ökologie hat sich in den letzten 25 Jahren ein dynamisches Forschungsfeld etabliert, dass verschiedene analytische Zugänge und Methoden entwickelt hat und in engem Austausch steht mit Ansätzen aus der „environmental economics“, der Industrial Ecology, der Politischen Ökonomie, der feministischen und postkolonialen Kritik wie auch der Umweltgeschichte (Fischer-Kowalski & Weisz, 2016; Görg et al., 2017; Hummel et al., 2017; Kramm et al., 2017). Die Interaktionen zwischen Gesellschaft und Natur werden auf verschiedenen Feldern analysiert. Für das Thema Klimawandel besonders wichtig ist die Analyse des „gesellschaftlichen Stoffwechsels/Metabolismus“: Mit der Methode des Material and Energy Flow Accounting (MEFA – Material- und Energieflussberechnung) werden die materiellen und energetischen Grundlagen von Gesellschaften erfasst (Krausmann et al., 2016; Schaffartzik et al., 2014). Damit können gesellschaftliche Abhängigkeiten von bestimmten Ausgangsmaterialien erfasst und die Notwendigkeit wie auch die Trade-offs und Grenzen einer Dekarbonisierung (also des Ausstiegs aus der Nutzung fossiler Stoffe und Energien) analysiert werden, die schon seit Jahren als zentrales Element einer Transformation zur Nachhaltigkeit benannt wird (siehe dazu z. B. WBGU, 2011).
Eine zentrale und übergreifende Einsicht der Sozialen Ökologie lautet, dass der industrielle Metabolismus seit der industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts (der fossile Kapitalismus: Malm, 2016) auf der systematischen Nutzung fossiler und damit endlicher Energien beruht. Er ist somit eine grundsätzlich nichtnachhaltige Produktions- und Lebensweise, weil er auf der Nutzung des „unterirdischen Waldes“ (Sieferle, 1982) beruht. Daher muss der industrielle Metabolismus in eine nachhaltige Form der Ressourcennutzung transformiert werden – oder er wird kollabieren. Insofern kommt es darauf an, Grenzen in der Ressourcennutzung anzuerkennen und eine gesellschaftliche Selbstbegrenzung zu erreichen, wie von vielen Autor_innen und sozialen Bewegungen gefordert wird (Brand et al., 2021; Kallis, 2019). Eine solche „metabolic transition“, die Parallelen aufweist zur neolithischen oder industriellen Revolution, sehen Beobachter_innen bereits am Weg (Fischer-Kowalski & Haberl, 2007; McNeill, 2000; WBGU, 2011). Doch der Übergang müsste heute sehr viel schneller und geplanter verlaufen als die historischen Vorgänger.
Das Beispiel der Bioökonomie, in welcher die fossile Stoff- und Energiebasis durch Biomasse ersetzt wird, macht deutlich, dass grundsätzliche Grenzen und Ziel- und Interessenkonflikte berücksichtigt werden müssen, die mit einer solchen Transition verbunden sind. Grenzen ergeben sich im Hinblick auf das Ausmaß der Energiebasis, das von Biomasse nicht auf dem gleichen Niveau wie bei fossilen Ressourcen gewährleistet werden kann. Selbst wenn es physisch möglich wäre, fossile Energie zu substituieren, hätte das erhebliche negative Konsequenzen für die Biodiversität (Haberl, 2015; Haberl & Erb, 2017). Neben einer Reduktion des Gesamtenergieverbrauchs müssen vor allem vielfältige Trade-offs in der Landnutzung (z. B. zwischen energetischer Verwertung von Biomasse und ihrer Verwendung als Nahrungsmittel bzw. dem Ausweis von Schutzgebieten zur Erhaltung der Biodiversität) berücksichtigt werden. Zur Analyse dieser Trade-offs kann auf den Human-Appropriation-of-Net-Primary-Production (HANPP)-Indikator zurückgegriffen werden, der die Intensität der Landnutzung erfasst. Er gibt an, wie viel Biomasse, konkret welcher Anteil der Netto-Primärproduktion (des in einer bestimmten Region insgesamt durch Pflanzenwachstum verfügbaren organischen Materials) von Menschen genutzt wird.
Dass solche Transformationsstrategien nicht nur vielfältige Zielkonflikte aufweisen, sondern auch mit vielfältigen Interessenkonflikten verbunden sind, ergibt sich zwangsläufig daraus, dass die Nutzung der Natur nach den Einsichten der Politischen Ökologie grundsätzlich mit Machtverhältnissen verbunden ist. Diese Machtverhältnisse bestimmen seit dem Kolonialismus die Naturverhältnisse (z. B. die Landnutzung) und werden heute als „landgrabbing“ problematisiert, auf internationaler Ebene wie im regionalen und lokalen Rahmen (Bryant & Bailey, 1997; Görg, 2003; Pichler et al., 2017, 2018).
Von der Politischen Ökologie werden solche Konflikte in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und mit Blick auf die sehr unterschiedlichen Akteur_innen analysiert (Dietz & Engels, 2018). Forschungsschwerpunkte sind Fragen der Umweltgerechtigkeit in Konflikten zu Bergbau, Extraktivismus, „landgrabbing“ (siehe Atlas der Umweltgerechtigkeitskonflikte: ejolt.org), aber auch Arbeitskonflikte und Geschlechterverhältnisse (Daggett, 2018) in Industrieländern. Solche Konflikte spiegeln tiefe Interessengegensätze des globalen Kapitalismus auf internationaler, nationaler und regionaler Ebene wider und artikulieren sich nach den Einsichten der Politischen Ökologie als Konflikte um hegemoniale Strategien (Brand et al., 2020).
Hindernis für eine Transformation zu klimafreundlichen Gesellschaften ist weniger der fehlende politische Wille, als vielmehr die in sozioökonomische Strukturen eingelassenen Konflikte zwischen hegemonialen Strategien. Die deutsche Energiewende lässt sich beispielsweise als ein solcher Konflikt zwischen einem „grünen“ und einem „grauen“ Projekt verstehen: Unterschiedliche Gruppen aus der Wirtschaft und Zivilgesellschaft wollten in einem grünen Projekt ein auf nachwachsenden Rohstoffen und grünen Technologien beruhendes Wachstumsmodell („grüne Ökonomie“) gegen solche Wirtschaftszweige durchsetzen, die auf Extraktion fossiler Energien und eng damit verbundenen Industrien wie der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer beruhen (Sander, 2016). Aufgrund der Machtverhältnisse ist es nicht überraschend, dass trotz Regierungsbeschluss die Konflikte um den Ausstieg aus der Kohleförderung und andere Aspekte der Energiewende anhalten (Moss et al., 2015).
Viele Innovationen, die derzeit als Strategien für eine Transformation zur Nachhaltigkeit popagiert werden, sind nach den Einsichten der Sozialen und Politischen Ökologie mit Skepsis zu betrachten, weil (1) die materiell-stofflichen Implikationen unterschätzt werden, wie bei der „circular economy“ (Haas et al., 2015), bei der energetischen Nutzung von Biomasse (Pichler et al., 2018) oder bei der E-Mobilität; weil (2) ignoriert wird, dass die Hoffnungen auf eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum nicht ausreichend wissenschaftlich belegt sind (Haberl et al., 2020; Wiedenhofer et al., 2020); und weil (3) die tatsächlich beobachtbare Ressourcenentwicklung ähnlich wie in der „Great Acceleration“, der großen Beschleunigung des Ressourcenverbrauchs in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wieder exponentiell ansteigt (Görg et al., 2020; Krausmann et al., 2018).
Der Übergang zu einer klimafreundlichen Gesellschaft erfordert gemäß der Sozialen Ökologie eine Dekarbonisierung als Teil einer metabolischen Transition, das heißt eines systemischen Übergangs (Fischer-Kowalski, 2011). Dieser Übergang ist schwer zu gestalten – in der systemischen Perspektive gibt es eine Nähe zum Multi-Level-Ansatz (Fischer-Kowalski & Rotmans, 2009). Eine systemische Perspektive ist für die Analyse unverzichtbar, damit z. B. die Stoffströme korrekt erfasst werden können, aber auch ein Veränderungsbedarf historisch abgeschätzt werden kann, auch in langfristiger Perspektive (Pichler et al., 2017).
Um konkrete Gestaltungsoptionen aufzeigen zu können, muss die Rolle von Akteur_innen und Institutionen in der Gestaltung von Transformationsprozessen berücksichtigt werden. Das Frankfurter Institut für Sozialökologische Forschung (ISOE) hat dazu das Konzept der Versorgungssysteme entwickelt (Hummel et al., 2017). Zur Analyse der gesellschaftlichen Versorgung mit Stoffen zieht dieses Konzept als intervenierende Variablen explizit Akteur_innen, Praktiken, Institutionen und Technologien heran. Diese analytische Perspektive kann durch die Politische Ökologie hinsichtlich des Gestaltungspotenzials kollektiver Akteur_innen und der betreffenden Konflikte und Machtverhältnissen erweitert werden (Görg et al., 2017; Plank et al., 2021). Optionen für tiefgehende Transformationen ergeben sich erst durch eine Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse (Brand et al., 2020). Diese Veränderung kann am ehesten von sozialen Bewegungen, die schon frühzeitig auf die Notwendigkeit eines schnellen Ausstiegs aus der Förderung und Nutzung fossiler Brennstoffe aufmerksam gemacht haben (wie Degrowth oder der Klimagerechtigkeitsbewegung) vorangetrieben werden (Burkhart et al., 2017; Kothari et al., 2019; Temper et al., 2018). Erst ein Aufbrechen hegemonialer Strukturen dürfte die mit einer „metabolic transition“ notwendig verbundene gesellschaftliche Selbstbegrenzung als Gestaltungsoption denkbar machen (Brand et al., 2021).
Darüber hinaus hat die Soziale Ökologie insbesondere in der Frankfurter Variante von Beginn an betont, dass in der Organisation der Wissenschaften in der Gesellschaft und der wissenschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Natur und Sozialwissenschaften hemmende Strukturen angelegt sind, die durch inter- und transdisziplinäre Ansätze überwunden werden müssen (Becker & Jahn, 2006). Eine zentrale Rolle spielt in beiden Varianten, dass gesellschaftliche Transformationen durch Veränderungen und den Wissenschaften begleitet bzw. ermöglich werden müssen. Gestaltungsoptionen ergeben sich vor allem in inter- und transdisziplinärer Perspektive (Jahn et al., 2012).
28.3 Anthropozän- und Planetare-Grenzen-Ansätze
Lead Autorin
Margaret Haderer
Kernaussagen
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Der menschliche Einfluss auf Erdsysteme – unter anderem das Klimasystem – ist wissenschaftlich bewiesen.
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Wenn sich der menschliche Einfluss auf Erdsysteme generell und – spezifisch – auf das Klimasystem in der Gegenwart und nahen Zukunft nicht grundlegend ändert, dann ist die langfristige Bewohnbarkeit des Planeten in Gefahr.
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Dass biophysische und soziale Systeme eng miteinander verknüpft sind, gilt als gesichert. Wie biophysische Grenzen (für z. B. Klimawandel) sowie deren Bedeutung für menschliches Wohlergehen definiert werden – und wer biophysische Grenzen und menschliches Wohlergehen definiert – ist hingegen Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Debatten. Gegenstand von Debatten ist auch, ob es – vor dem Hintergrund der Dominanz individueller Freiheiten in spätmodernen Gesellschaften – überhaupt möglich ist, solche Grenzen zu definieren.
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Wenn allgemein von „der Menschheit“ als Treiber des Klimawandels gesprochen wird, dann rückt in den Hintergrund, dass Klimawandel eng mit der Geschichte des Kapitalismus verbunden ist und damit auch mit der europäischen Moderne und (einigen) ihrer Ideale, wie Natur(be)herrschung, individueller Freiheit, sowie mit geschlechterspezifischen, rassistischen und kolonialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen.
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Wenn planetare Grenzen – wie auch immer sie definiert sein mögen – eingehalten werden sollen, dann gilt es als gesichert, dass eine Abkehr von quantitativem Wirtschaftswachstum zugunsten qualitativer Bewertungskriterien für eine Ökonomie notwendig ist. Forderungen nach qualitativem Wachstum haben aber oft primär normativen Charakter.
Die Anthropozän-Debatte hatte ihren Ursprung in den Erdwissenschaften (Crutzen, 2002; Crutzen & Stoermer, 2000). Ihr ging es ursprünglich darum, den menschlichen Einfluss auf die Erde zu erfassen. Sie stellte fest, dass aufgrund massiver „anthropogener Emissionen von Treibhausgas“ (Crutzen, 2002) ein grundlegender Wandel des „globalen Klimas“ (Crutzen, 2002) gegeben ist. Nach Crutzen und Stoermer (2000) ist dieser Wandel so grundlegend – er demarkiert einen irreversiblen Einfluss des Menschen auf das Erdsystem –, dass er Anlass dazu gibt, eine neue Erdepoche zu deklarieren: das Anthropozän (Crutzen, 2002; Crutzen & Stoermer, 2000). Der Beginn des Anthropozäns wird mittlerweile mit der „Großen Beschleunigung“ („Great Acceleration“) in der Mitte des 20. Jahrhunderts datiert (Görg et al., 2020; Steffen et al., 2015; Zalasiewicz et al., 2015, 2019). Zentrale Merkmale der „Großen Beschleunigung“ sind Bevölkerungswachstum, rapid gestiegene Energie-, Wasser- und Land-Vernutzung sowie der Ausbau von Mobilität und Kommunikationssystemen. Diese Phänomene haben das Erdsystem (wie z. B. die Oberflächentemperatur, den Zustand der Ozeane, des Bodens, der Wälder, der Biodiversität) so stark verändert, dass man annehmen muss, dass eine Regeneration nicht mehr möglich ist und die (langfristige) Bewohnbarkeit des Planeten in Gefahr ist (Crutzen, 2006). Görg et. al. (2020), Malm und Hornborg (2014) und Malm (2016) betten die „Große Beschleunigung“ in politisch-ökonomische Entwicklungen ein, allen voran den Entwicklungen des Kapitalismus und dessen Tendenz zu wachsen und sowohl den Naturverbrauch als auch dessen Effekte ungleich zu verteilen. Jason Moore (2017) schlägt deswegen vor, nicht vom Anthropozän zu sprechen – denn der Begriff suggeriert, dass die Menschheit an sich der Treiber grundlegender Veränderungen des Erdsystems sei –, sondern vom „Kapitalozän“, ein Begriff, der historisch präziser demarkiert, dass die grundlegenden Veränderungen des Erdsystems aufs Engste mit der spezifischen Geschichte des Kapitalismus verbunden sind (siehe unter anderem Moore, 2017). Die Geschichte des Kapitalismus ist wiederum mit der Geschichte des Kolonialismus, des Rassismus, der Maskulinität und ungleicher Geschlechterverhältnisse verbunden (Haraway, 2015; Davis & Todd, 2017; Di Chiro, 2017; Vergès 2017; Hultman & Pulé, 2019; Saldanha, 2020; Yusoff, 2018).
Planetare-Grenzen-Ansätze knüpfen an die Anthropozän-Ansätze an. Sie benennen konkrete Gefahren und Risiken im „Erdzeitalter des Menschen“ näher und erstellen Leitplanken für einen „sicheren Handlungsraum für die Menschheit“ (Rockström et al., 2009). Diese Leitplanken verdeutlichen, was eine Überschreitung einer bzw. mehrerer planetarischer Grenzen (wahrscheinlich) impliziert. Sie umfassen messbare Schwellenwerte für Klimawandel, aber auch Süßwassernutzung, Stickstoff- und Phosphorkreisläufe, Ozeanversäuerung, Verschmutzung durch Schadstoffe, atmosphärische Aerosolbelastung, Biodiversitätsverlust, Landnutzungsänderungen, Ozonabbau. Ihre Implikationen werden nicht nur biophysisch gefasst, sondern auch mit Blick auf menschliches Wohlergehen („human well-being“) (Steffen & Stafford Smith, 2013). Diese Leitplanken verstehen sich somit nicht nur als „matters of facts“, sondern auch als „matters of concern“ (Latour, 2007). Dass biophysische und soziale Veränderungen eng miteinander verknüpft sind, steht außer Streit. Wie biophysische Grenzen (für z. B. Klimawandel) sowie menschliches Wohlergehen definiert werden – und wer biophysische Grenzen und Wohlergehen definiert – ist hingegen Gegenstand von teils konfliktiven wissenschaftlichen Debatten (z. B. Biermann et al., 2012; Bonneuil & Fressoz, 2006; Chakrabarty, 2021; Gupta & Lebel, 2020; McGregor, 2017). Zur Debatte steht ebenso die Frage, inwiefern nicht nur kapitalistische, sondern auch (neo-)liberale Gesellschaften – und ihre Bürger_innen – überhaupt zu Selbstbeschränkung (z. B. Suffizienz), die es vor dem Hintergrund planetarer Grenzen und der Dringlichkeit der Klimakrise zweifelsohne bräuchte, fähig sind (für einander widerstreitende Positionen siehe Brand et al., 2021; Kallis, 2019).
Während sich die Planetare-Grenzen-Ansätze zum Teil sehr konkret mit der Frage beschäftigen, was vor dem Hintergrund der Erderwärmung (eine der planetaren Grenzen) zu tun wäre, löste die Anthropozän-Debatte vor allem auch außerhalb ihres Entstehungskontextes, der Erdwissenschaften, wissenschaftliche Grundsatzdebatten mit Blick auf die Umwelt-, Sozial-, Wirtschafts- und Ideen-Geschichte moderner Gesellschaften aus, inklusive ihrer ökologischen und sozialen Implikationen (Bonneuil & Fressoz, 2006; Chakrabarty, 2021; Gabrys et al., 2020; McGregor, 2017; Yusoff, 2018). In diesen Debatten geht es mitunter darum, nach der genaueren Bedeutung das „Anthropos“ im Anthropozän-Diskurs zu fragen. (Naturwissenschaftliche) Darstellungen der Menschheit (verstanden als Gesamtheit) als treibende Kraft von grundlegenden Veränderungen des Erdsystems, inklusive der Erderwärmung, wird sozial-, wirtschafts-, aber auch humanwissenschaftlich in Frage gestellt. Es wird argumentiert, dass weder der Industriekapitalismus noch die „Große Beschleunigung“ „Menschheitsereignisse“ waren, sondern Ereignisse, die von Macht- und Herrschaftsverhältnissen bestimmt sind. Das nicht zu sehen bzw. nicht zu benennen, würde dazu führen, dass strukturelle Ungleichheiten (global, lokal, geschlechterspezifisch, mit Blick auf „color-lines“ und Klasse) sowohl in der Verursachung sozial-ökologischer Krisen als auch in ihrer Bearbeitung übersehen werden. Es gilt somit nicht nur normativ, sondern auch empirisch als fragwürdig, dass eine aussichtsreiche Bearbeitung des Klimawandels ohne eine Bearbeitung von sozialer Ungleichheit möglich ist (Gupta et al., 2020; Klinsky et al., 2017).
Aus den naturwissenschaftlichen Anthropozän- und Planetare-Grenzen-Ansätzen selbst folgen keine unmittelbaren Gestaltungsoptionen. Sie liefern primär „matters of facts“, die – an der Schnittstelle von Natur- und Sozial-, Wirtschafts- sowie Geisteswissenschaften – in „matters of concern“ (Latour, 2007) übersetzt wurden bzw. werden.
Planetare-Grenzen-Ansätze fanden Eingang in bestehende Forschung zu Earth System Governance (Biermann et al., 2012), also zu Entscheidungs- und Steuerungsmechanismen sowie Akteursnetzwerken, die dem Leitbild der Nachhaltigkeit verpflichtet sind. In diesem Kontext werden der Planetare-Grenzen-Ansatz auch kritisiert, vor allem mit Blick auf die Frage, wie und von wem Grenzen festgelegt wurden (Biermann et al., 2012).
Der Planetare-Grenzen-Ansatz wurde auch in die Wirtschaftswissenschaften aufgenommen. Dort wurde er vor allem von Kate Raworth (2017) rezipiert, die in ihrem Ansatz einer „Donut-Economy“ (Dürbeck, 2018; Raworth, 2017) der Frage nachgeht, wie „soziale Fundamente“ (wie Gesundheit, Bildung, Mitbestimmung, Energie, Arbeit, Wohnen, Geschlechterverhältnisse) so gestaltet werden können, dass sie innerhalb planetarischer Grenzen bleiben. Der Ansatz von Raworth (2017) impliziert eine Kritik an neoklassischer Ökonomie, vor allem der Bewertung der Leistung einer Volkswirtschaft anhand des erwirtschaften BIPs. Sie betrachtet neoklassische Ökonomie wegen ihres Fokus auf quantitatives Wachstum als Treiber sozial-ökologischer Krisen und der Ungleichverteilung ihrer Effekte, ohne dabei Wachstum per se in Frage zu stellen. Angelehnt an die Arbeiten von Amartya Sen (1985, 2007, 2009) und Martha Nussbaum (2000) entwickelte Raworth ein ökonomisches Modell, in dessen Zentrum „qualitatives Wachstum“ steht, das vor allem der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse sowie die Förderung menschlicher Fähigkeiten („capabilities“) innerhalb planetarischer Grenzen dient. Raworths Ansatz sowie der Capabilities-Ansatz generell ist ein stark normativer Ansatz. Er hat seine Stärke in der Darstellung des prinzipiell Möglichen, aber weniger in der Analyse von real existierenden Barrieren für eine Abkehr vom quantitativen Wachstumsparadigma.
Die Anthropozän-Debatte und die Planetarische-Grenzen-Debatte schlugen sich auch in den Geschichts-, Sozial- und Geisteswissenschaften nieder. Sozial-ökologische Krisen werden (auch) als Krisen moderner Grundannahmen und Praktiken diskutiert. Dazu zählt die moderne Norm der Naturbeherrschung, die sowohl (Natur-)Wissenschaften als auch Technik(-entwicklung) und Techniknutzung maßgeblich geprägt hat (von Winterfeld et al., 2020). Das Wissen um implizite gesellschaftliche Normen sowie die kritische Reflexion darauf, inklusive ihrer sozial-ökologischer Implikationen, gilt nicht nur für das Verstehen sozial-ökologischer Krisen, sondern vor allem auch deren Bearbeitung als wichtig. Diese Einsicht führt aber nicht unbedingt zu Antworten auf sozial-ökologische Herausforderungen, da sich in der Wissensproduktion bestehende Deutungshoheiten – trotz gegebenen Wissens um ihre Grenzen – auch nach wie vor verstetigen (Gupta et al., 2020; Klinsky et al., 2017).
28.4 Imperiale Lebensweise
Lead Autor
Ulrich Brand
Beitragender Autor
Mathias Krams
Kernaussagen
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Der Begriff der Lebensweise ist eng mit praxeologischen Ansätzen und solchen der Alltagsökonomie und der „Systems of Provision“ verbunden und grenzt sich vom Begriff des Lebensstils ab.
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Mit dem Begriff der imperialen Lebensweise geraten die ausbeuterischen und zerstörerischen Strukturen und Prozesse in den Blick, die sozial-ökologischen Transformationen entgegenstehen. Das betrifft insbesondere die globalen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen globalem Norden und globalem Süden (inklusive der Ressourcenflüsse), aber auch die innergesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Klassen, Geschlechtern und „race“.
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Die imperiale Lebensweise ist für viele Menschen in den Ländern des globalen Nordens attraktiv, weil durch sie die Beschäftigungs- und Konsummöglichkeiten sowie Handlungsreichweiten erweitert werden. Dazu kommt, dass die sozioökonomischen und ökologischen Voraussetzungen der imperialen Lebensweise oft unsichtbar gemacht werden.
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Eine Veränderung der imperialen Lebensweise ist weniger eine Frage des individuell anderen Handelns, sondern der Veränderung der materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen des Produzierens und Konsumierens. Die Stärke dieser Perspektive liegt in ihrem umfassenden, globalen Blick.
Der Begriff der Lebensweise(n) betont, dass der Alltag der Menschen eng verbunden ist mit gesellschaftlichen Strukturen. Diese bestehen aus hegemonialen Produktions- und Konsumnormen, die gesellschaftlich breit akzeptiert und durch Herrschaftsverhältnisse abgesichert sind. Der Begriff „Lebensstil“ betont das Moment der aktiven Gestaltung und Stilisierung geteilter Vorlieben innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Milieus, das heißt der Art und Weise zu wohnen, sich fortzubewegen, sich zu ernähren etc. und das als sinnvoll zu empfinden (Reusswig, 1994; Richter, 2005). Auch der Begriff „Lebensweise“ beinhaltet geteilte Vorlieben spezifischer Gruppen, jedoch werden diese nur im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext verständlich, der bestimmte Handlungen eher ermöglicht als andere und in dem Handlungen habituell verinnerlicht werden. Insofern geht der Begriff der Lebensweise über den des Lebensstils hinaus, da er nicht nur die Formen des Konsums, sondern auch die Art und Weise, wie Güter hergestellt werden, beinhaltet. Damit problematisiert er auch Fragen von Arbeit wie Arbeitszeit und Arbeitsteilung. Hier ist der Begriff eng verbunden mit praxeologischen Ansätzen, Theorien zu Bereitstellungssystemen und Alltagsökonomie. Umgekehrt kann die Lebensstilforschung dazu beitragen, aufgrund der Differenzierungen zwischen den Lebensstilen innere Dynamiken der Lebensweisen zu erfassen.
Wie vor allem eine repräsentative Studie im Auftrag des deutschen Umweltbundesamtes (Kleinhückelkotten et al., 2016; Moser & Kleinhückelkotten, 2018) belegt, steht der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch im Zusammenhang mit der Höhe des verfügbaren Einkommens und des Bildungskapitals. In der betreffenden Studie wurden die Energieverbräuche von etwa 1000 Teilnehmer_innen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, unterschiedlichen formalen Bildungsstands und zur Verfügung stehenden Einkommens sowie aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands untersucht. Sie wurden bezogen auf verschiedene Konsumbereiche etwa im Haushalt (Heizen, Kochen, Nutzung technischer Geräte usw.) oder der Mobilität (Alltagsmobilität und Urlaubsreisen). Auch wenn es alters-, geschlechts-, haushaltsgrößen- und regionalspezifische Einflüsse gibt, belegt die Studie, dass der personenbezogene Gesamtenergieverbrauch bei Menschen mit höherem Einkommen und mit höherem formalem Bildungsstand ansteigt – und zwar auch bei Menschen mit solchen milieuspezifischen Lebensformen, die sich durch eine positive Umwelteinstellung auszeichnen.
„Lebensweise“ bezieht sich umfassend auf die Reproduktion von Gesellschaft, es kann aber auch die Koexistenz dominanter oder sogar breit akzeptierter (hegemonialer) Lebensweisen sowie subalterner oder alternativer Lebensweisen ausdifferenziert werden. Wandel wird damit jedoch kaum erfasst. Mit dem Begriff „imperiale Lebensweise“ wird eine bestimmte Lebensweise in den Blick genommen und damit vor allem die Problematik der (Nicht-)Nachhaltigkeit um Dimensionen der Nord-Süd-Verhältnisse und innergesellschaftlicher Zentrum-Peripherie-Verhältnisse ergänzt. Diese werden weiters entlang der Ungleichheitsmuster von Klasse, Geschlecht und „race“ betrachtet. Beim Begriff der imperialen Lebensweise handelt es sich nicht um eine konsistente Theorie, sondern um einen Begriff, der auf unterschiedliche Theorien zurückgreift, wie die Regulationstheorie, die gramscianische Hegemonietheorie, die kritische Staatstheorie, die Praxistheorie sowie kritische Theorien der Nord-Süd-Verhältnisse (Brand & Wissen, 2017; Kap. 3; Lessenich, 2016). Es handelt sich um eine öffnende Perspektive, die bestimmte Strukturmuster und Dynamiken in ihren Verschränkungen erfasst (ähnlich Blühdorn et al., 2020).
Für klimafreundliches Leben ist der Begriff der imperialen Lebensweise wichtig, weil er auf die gleichzeitig strukturelle und subjektive Verankerung der nichtnachhaltigen Wirtschaftsweise hinweist. Die imperiale Lebensweise ist gekennzeichnet durch den überproportionalen Zugriff auf Arbeitskraft, Senken und Ressourcen von „andernorts“, die in den Vorprodukten oder Konsumgütern enthalten sind. Diese Inanspruchnahme kann innerhalb von regionalen und nationalen Räumen stattfinden (etwa über ungleiche Stadt-Land-Verhältnisse), aber auch global. Die imperiale Lebensweise beruht also auf der Externalisierung von sozial-ökologischen Kosten im Raum und in der Zeit. In den Gesellschaften des globalen Nordens wurde diese Externalisierung ab Mitte des 20. Jahrhunderts besonders ausgeprägt, etwa durch die ressourcenintensive Zunahme der Automobilität. In jüngerer Zeit breitet sich die imperiale Lebensweise zunehmend innerhalb der Mittel- und Oberklassen der aufstrebenden Länder des globalen Südens aus.
Gerade in Zeiten der ökonomischen Krise wirkt die Externalisierung stabilisierend: Die Reproduktionskosten von Arbeitskraft werden durch billige Ressourcen- und Arbeits-Inputs von andernorts gesenkt; CO2-Emissionen des globalen Nordens werden von den Senken im globalen Süden absorbiert oder konzentrieren sich in der Atmosphäre und beeinträchtigen vermittelt über den Klimawandel vulnerable Gruppen vor allem im globalen Süden oder künftige Generationen.
Indem sich die imperiale Lebensweise ausbreitet, also von immer mehr Menschen gelebt wird, schwinden die Möglichkeiten zur räumlichen Externalisierung sozial-ökologischer Kosten. Die Konkurrenz um Ressourcen, Senken und Arbeitskraft zwischen Ländern und Ländergruppen nimmt zu. Öko-imperiale Spannungen zwischen den Ländern des globalen Nordens sowie zwischen diesen und den aufstrebenden Mächten des globalen Südens verschärfen sich; die imperiale Lebensweise – Voraussetzung für die Bearbeitbarkeit der sozial-ökologischen Widersprüche des Kapitalismus – erweist sich im Moment ihrer tendenziellen Verallgemeinerung als krisenverschärfend. Hierin liegt eine wichtige ökologische Dimension der gegenwärtigen weltweiten Vervielfältigung von Konflikten, die folglich nicht nur zeitlich mit ökologischen Krisenphänomenen korreliert.
Gleichzeitig zeigt die imperiale Lebensweise auch im globalen Norden zunehmend ihren Klassencharakter (Wissen & Brand, 2019). Mit der zunehmenden öko-imperialen Konkurrenz werden die Verfügbarkeit von billigem Öl und anderen Rohstoffen sowie die davon abhängigen Konsummuster in Bereichen wie Ernährung, Mobilität oder Wohnen als Muster des Massenkonsums zunehmend prekär. Lange Zeit die Bedingung für soziale Teilhabe und Wohlstandszuwachs, werden sie im Moment ihrer globalen Verallgemeinerung umkämpft und zum Gegenstand von Konflikten; ihr Erfolg, im Sinne ihrer globalen Attraktivität (insbesondere in Form des Zugriffs auf individuelle und kollektive Konsumgüter, die unter ökologisch und sozial schlechten Bedingungen produziert wurden) und Verallgemeinerung, untergräbt tendenziell ihre eigenen Existenzbedingungen, und zwar auch dort, wo sie bislang am erfolgreichsten war: in den Ländern des globalen Nordens. Dies ist ein Bruch mit der seit Mitte des 20. Jahrhunderts bekannten Konstellation.
Die zentrale Herausforderung liegt in einer grundlegenden sozial-ökologischen Transformation hin zu einer solidarischen Lebensweise, die auch im globalen Maßstab ein gutes Leben für alle ermöglicht. Dies ist deshalb so schwierig, da den attraktiven, naturvernutzenden Seiten dieser „westlichen Lebensweise“ (Novy, 2019) oftmals wenig Rechnung getragen wird: neben dem weltweit hohen Lebensstandard, der Befreiung aus der Mühsal physischer Arbeit, dem Schaffen von sozialen Sicherungssystemen, sozialer Teilhabe (auch) durch Konsum auch die historisch und geografisch einzigartigen individuellen Freiheitsmöglichkeiten westlicher Gesellschaften – kurzum den Erfolgsgeschichten der westlichen Lebensweise. Die Diagnose der imperialen Lebensweise konzentriert sich demgegenüber auf die Verankerung klimaunfreundlicher Produktions- und Konsummuster im Alltag.
Mit dem Konzept der imperialen Lebensweise lässt sich die Normalisierung und hegemoniale Verfestigung von Konsum- und Produktionsmustern in Alltagswahrnehmungen und -praktiken erklären, die ökologisch destruktiv sind und soziale Ungleichheit hervorbringend. Gesellschaftliche und internationale Macht- und Herrschaftsverhältnisse konstituieren und stabilisieren sich nicht zuletzt über die imperiale Lebensweise. So dringen etwa die kapitalistische Produktionsweise und ihr Imperativ der Konkurrenz auch über die ölbasierte, automobile Form der Fortbewegung in die Kapillaren des Alltags ein und werden eben deshalb nicht mehr als Macht- und Herrschaftsform wahrgenommen (vgl. Brand & Wissen, 2017; Kap. 6).
Aus Perspektive der (imperialen) Lebensweise sind es die dominanten wirtschaftlichen und politischen Akteur_innen, die sich gegen Veränderungen stellen. Doch auch die politisch und wirtschaftlich schwächeren Gruppen haben ein unmittelbares Interesse an der Aufrechterhaltung der imperialen Lebensweise, weil damit ihre materiellen Lebensbedingungen erhalten bleiben und – auf der gesellschaftlichen Ebene – der Sozialstaat (Gould et al., 2004). Wobei es nicht die einzelnen Akteur_innen sind, welche die Lebensweise verursachen und reproduzieren. Sie unterliegen vielmehr strukturellen Zwängen, die sie durch die Verankerung der imperialen Lebensweise auf subjektiver Ebene unhinterfragt reproduzieren. Insofern handelt es sich um einen Strukturbegriff.
Normativer Fluchtpunkt für Alternativen zur imperialen Lebensweise und entsprechender Gestaltung ist eine solidarische Lebensweise. Es gibt nicht den einen Hebel für Veränderung, sondern gesellschaftliche Strukturmuster müssen umfassend umgebaut werden. Empirische Untersuchungen mit der Folie des Begriffs „imperiale Lebensweise“ erfolgten etwa zu den Bereichen Digitalisierung, Sorge, Geld und Finanzen, Bildung und Wissen sowie Ernährung und Landwirtschaft (I.L.A. Kollektiv, 2017), zum Thema Mobilität (I.L.A. Kollektiv, 2017; Brand & Wissen, 2017; Kap. 6; Wissen & Brand, 2019) oder zum Thema Arbeit und Gewerkschaften, insbesondere in Österreich (Periskop & I.L.A. Kollektiv, 2019). Auch die Bedingungen für eine solidarische Lebensweise wurden in verschiedenen Bedarfsfeldern untersucht (I.L.A. Kollektiv, 2019). Das I.L.A.-Kollektiv (2019) macht den Vorschlag, Transformation als das Zusammenspiel von Zurückdrängung der imperialen Lebensweise sowie Aufbau und Absicherung solidarischer Lebensweisen zu fassen. Notwendige sozial-ökologische Transformationen werden auf den Ebenen der politischen Institutionen, der materiellen Infrastrukturen sowie von Alltagswissen und -praktiken verortet. Besonderes Augenmerk wird auf soziale Bewegungen gelegt und darauf, wie diese in vielfältigen Konflikten die imperiale Lebensweise infrage stellen, solidarische Alternativen aufzeigen und darum ringen, sie zurückzudrängen. Für eine Überwindung der imperialen Lebensweise reichen Alternativen auf lokaler Ebene nicht aus. Vielmehr bedarf es auch Veränderungen auf dem Terrain des Staates als der zentralen Steuerungsinstanz kapitalistischer Gesellschaften, um beispielsweise ungleiche Handelsbeziehungen und Externalisierungsdynamiken zu überwinden.
Der strukturtheoretisch angelegte Begriff der imperialen Lebensweise sieht das normative Projekt einer sozial-ökologischen Transformation als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe im Sinne zu verändernder politischer Rahmenbedingungen, sozioökonomischer Logiken – insbesondere jener der Wachstums- und Profitorientierung – und sich verändernder Kräfteverhältnisse. Zu verändern ist auch der Alltag der Menschen und durch die Menschen in Hinblick auf (Erwerbs-)Arbeit, Konsummuster, Subjektivitäten und – allgemein – Formen des Zusammenlebens (z. B. Bookchin, 1991). Die Bedingungen für sozial-ökologische Formen des Wohnens und der Mobilität, der Ernährung und des Sichkleidens, der Kommunikation und des Lernens etc. sind zu verändern.
28.5 Gerechtigkeitsperspektiven auf sozioökologische Sorgebeziehungen
Lead Autor_innen
Anke Strüver, Nicolas Schlitz
Kernaussagen
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Es gibt keine wirtschaftliche Produktion ohne soziale und ökologische Reproduktion. Gegenwärtige wirtschaftliche Produktion findet auf Kosten sozialer und ökologischer Reproduktion statt.
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Weder menschliche Regeneration noch planetarische Regeneration lassen sich gänzlich in Markttransaktionen übersetzen. Weil dies nicht gelingt, werden beide Formen der Regeneration im Kapitalismus abgewertet.
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Eine Folge von kapitalistischer Abwertung ist Ausbeutung entlang von Differenzkategorien, wie Geschlecht, ethnischer und nationaler Herkunft oder Klasse bzw. – gegenüber nichtmenschlicher Natur – basierend auf Vorstellungen von Naturbeherrschung.
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Wenn die Klimakrise – eine sozial-ökologische Krise – überwunden werden soll, dann gilt es aus ökofeministischer Sicht als wahrscheinlich, dass dies die politische Anerkennung und die ökonomische Aufwertung der Grundlagen menschlichen und nichtmenschlichen Lebens bedingt.
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Wenn Strukturen für ein klimafreundliches Leben für alle geschaffen werden sollen, dann bedingt dies ein Hinterfragen von kapitalistischen Ökonomien, die sich durch eine Trennung von Ökonomie und Ökologie auszeichnen, sowie das Sichtbarmachen und Fördern von tatsächlich existierenden alternativen ökonomischen Strukturen, die beispielsweise auf Solidarität beruhen.
Es besteht breiter Konsens, dass die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Produktionstätigkeit ohne die Absicherung sozialer Reproduktion – der Arbeiten des Sorgens, Versorgens und Vorsorgens – nicht möglich ist. Feministisch-ökologische Ansätze des Sorgens und Vorsorgens bringen die menschliche mit der planetarischen Regeneration – und die soziale mit der ökologischen Reproduktion – zusammen. Sie verbinden gesellschaftliche Natur- und Machtverhältnisse mit Alltagspraktiken und hinterfragen dominante Markt- und Wachstumslogiken, imperiale Lebensweise und Green Growth. Dabei koppeln sie soziale Gerechtigkeit an ökologische Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit. Soziale Gerechtigkeit wird in diesem Kontext als Resultat der (oft verborgenen) Verbindungen zwischen ökonomischer Verteilungs- und kultureller Anerkennungsgerechtigkeit verstanden (Fraser, 2013).
Die derzeitige multiple Krise umfasst die Verschränkung der sozialen und ökologischen Krisen der Reproduktion mit den wirtschaftlichen Krisendynamiken seit 2007 sowie der politischen Krise der Repräsentation (Fraser, 2014a, 2016; Fraser & Jaeggi, 2018). Aus Sicht feministisch-ökologischer Ansätze ist diese multiple Krise soziomaterieller Ausdruck der kapitalistischen Wachstumslogik und der erfolgreichen diskursiven wie praktischen Trennung von Ökonomie und Ökologie durch die neoklassischen Wirtschaftsordnung (Gibson-Graham et al., 2016; Oksala, 2018; Winker, 2021). Ein Überwinden dieser Trennung muss an der Auflösung des Natur-Kultur-Dualismus der Aufklärung ansetzen, der eng mit binären, hierarchischen Geschlechterverhältnissen, den rassistischen Ordnungen des Kolonialismus und aktueller Migrationsregime verbunden ist: „Die ökofeministische Perspektive analysiert kapitalistische, patriarchale und rassistische Ausbeutung von Menschen und der Natur als herrschaftsförmige Unterwerfung und Aneignung lebendiger ReProduktivität“ (Bauhardt, 2019, S. 468; Biesecker & Hofmeister, 2010). Das „Konzept der ReProduktivität“ verweist dabei auf die Untrennbarkeit von Produktions- und Reproduktionsarbeit.
Reproduktionsarbeiten sind die traditionell feminisierten, unbezahlten und unsichtbaren häuslichen Arbeiten, die die Lohnarbeit im Kapitalismus ermöglichen. Sorgearbeiten sind hingegen die konkreten Tätigkeiten (bezahlt oder unbezahlt) wie Einkaufen, Kochen und Putzen, Erziehen, Betreuen und Pflegen. Als Sorgekrise gilt der Zustand, wenn die Nachfrage an bezahlter wie unbezahlter Sorgearbeit regional oder national höher ist als das Angebot. Der Begriff zielt damit nicht auf Versorgungsdefizite in einzelnen Haushalten ab, sondern auf die gesellschaftliche Ebene der Sorge und Vorsorge (Winker, 2021).
Angesichts der Klimakrise erfährt derzeit der Ökofeminismus der 1970er Jahre (Mies et al., 2014) eine Renaissance bzw. eine konstruktive „radikale Reevaluierung“ (Oksala, 2018; MacGregor, 2021), die Folgendes aufgreift: Aufgrund der Verknüpfung von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen kann die Überwindung der Klimakrise nur durch politische Anerkennung und ökonomische Aufwertung der Grundlagen allen Lebens erfolgen, der Sorgearbeiten an menschlichen Körpern und an Ökosystemen. Die unhinterfragte Ausbeutung von beidem wiederum ist Funktionsgrundlage des wachstumszentrierten Kapitalismus (Fraser, 2014a; Fraser & Jaeggi, 2018; Mies, 1983). Durch die neoliberale Restrukturierung von Wohlfahrtstaatlichkeit kam es zu einem Anstieg bezahlter Sorgearbeiten und somit wurden sowohl Sorge- als auch Ökosysteme zunehmend vermarktlicht. Doch beide sind nur eingeschränkt rationalisierbar und lassen sich nicht vollständig in Markttransaktionen übersetzen – die Steigerung der Arbeitsproduktivität von Sorgearbeiten ist limitiert, weshalb es zu einer langfristigen Abwertung von Sorgearbeiten unter kapitalistischen Bedingungen kommt (Soiland, 2019). Sorge- und Ökosysteme bleiben damit herausragende Beispiele für Akkumulation durch Ausbeutung. Aufgrund der anhaltenden Vergeschlechtlichung von Sorgearbeiten einerseits und ihrer Vermarktlichung andererseits muss zudem die traditionelle Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft um eine neue Klassendimension sowie die Ausbeutung von Migrant_innen erweitert werden. Dies macht eine Betrachtung verschiedener Ungleichheitsachsen und somit eine intersektionale Perspektive notwendig, um sie systematisch in die Analyse und Kritik der strukturierenden Wachstumslogik des Kapitalismus einzubetten (Fraser & Jaeggi, 2018).
Die für ein klimafreundliches Leben notwendigen Veränderungen der Lebensweisen müssen an der Hinterfragung der vorherrschenden Vorstellungen über kapitalistische Ökonomien und Gesellschaftsordnungen ansetzen. Für einige Autor_innen erfolgt dies primär aus der Berücksichtigung und Stärkung „diverser Ökonomien“, das heißt aus alltagsrelevanten, oft bereits existierenden ökonomischen Verflechtungen und Transaktionen wie Teilen und Tauschen, Sorgebeziehungen und Kooperativen jenseits der Wachstums- und Profitlogiken des Kapitalismus (Gibson-Graham, 2008; Gibson-Graham et al., 2013, 2016). Für andere Vertreter_innen der Sorge- bzw. Vorsorge-Perspektive steht eine radikale Transformation des gesamten kapitalistischen Wirtschaftssystems als solchem im Fokus, z. B. im Sinne von Degrowth und Solidarischer Ökonomie (Bauhardt, 2014; Dengler & Strunk, 2018; Winker, 2021). Aufgrund der bislang beständigen Marginalisierung bzw. Unsichtbarmachung von Sorgearbeiten an menschlicher wie nichtmenschlicher Natur stellt die Anerkennung der wechselseitigen Abhängigkeiten von Ökonomien und Ökologien gleichermaßen die zentrale Herausforderung wie das Ziel intersektional gerechter Perspektiven dar.
Um die Wiedereinbettung von Ökonomien in Ökologien zu erreichen, ist aus Sicht einiger Autor_innen das Upscaling von bereits existierenden vielfältigen Experimenten solidarischer Ökonomien (Winker, 2021) und sogenannter „Community Economies“ (Gibson-Graham, 2006, 2008) notwendig, in denen verschiedenste soziale Bedürfnisse und sozial-ökologische Interdependenzen demokratisch ausgehandelt werden. Solche kollektiven Experimente in alternativen ökonomischen Räumen und Netzwerken bilden jene Strukturen, in denen sich die treibenden Akteur_innen der Veränderungen für ein klimafreundliches Leben konstituieren und konkrete Transformationsprojekte entwerfen (Gibson-Graham et al., 2016). Aus Sicht feministisch-ökologischer Sorge-Ansätze ist das Ziel des Sorgens und Vorsorgens weniger die Adaptionsfähigkeit der bestehenden kapitalistischen Wachstumsökonomie an Klimaveränderungen als die grundlegende Transformation bestehender sozioökonomischer und sozioökologischer Logiken und Verhältnisse.
28.6 Vermarktlichung und Kommodifizierung (Polanyische Transformationstheorien)
Lead Autor_innen
Andreas Novy, Julia Fankhauser
Kernaussagen
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Wenn die aktuellen metabolischen Transformationen zu ähnlich weitreichenden Veränderungen wie in der neolithischen und industriellen Revolution führen, dann werden sich nicht nur Technologien ändern. Klimafreundliches Leben, seine Institutionen und Infrastrukturen werden sich im 21. Jahrhundert grundlegend von Leben und Arbeiten im 20. Jahrhundert unterscheiden (hohe Zustimmung, mittlere Evidenz).
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Wenn Bedürfnisse vor allem individuell, über Geld und Waren und den Weltmarkt befriedigt werden, dann erschwert dies emissionsarme Konsumformen (hohe Zustimmung, mittlere Evidenz).
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Wenn (Markt-)Wirtschaft wieder in Gesellschaft und Natur eingebettet wird, dann wird klimafreundliches Leben einfacher (hohe Zustimmung, mittlere Evidenz).
In seinem 1944 erstmals erschienen Hauptwerk „Die Große Transformation“ analysiert Karl Polanyi (2001) die Umbrüche des 19. Jahrhunderts und erarbeitet eine Heuristik, die in der sozialökologischen Transformationsforschung aufgegriffen und zur Deutung der anstehenden Veränderungen des 21. Jahrhunderts benutzt wird. Polanyi beschreibt die Industrielle Revolution als eine Metamorphose, eine grundlegende Veränderung (Formwandel) von Gesellschaft, Wirtschaft und Metabolismen. Industrialisierung, Modernisierung und Urbanisierung wurden geprägt durch die gleichzeitige Errichtung einer Marktgesellschaft, in der ökonomische Prinzipien dominieren. Es bildete sich „ein großer Markt“, ein Weltmarkt, heraus, auf dem alles getauscht wurde – nicht nur Waren, sondern auch die Produktionsfaktoren Arbeit und Land sowie Geld. Diese „Vermarktlichung“ immer weiterer Lebensbereiche und der Natur war verantwortlich für materielle Verbesserungen basierend auf der Utopie von sich selbst regulierenden Märkten. Da dies jedoch gleichzeitig die menschlichen und natürlichen Grundlagen einer Gesellschaft zu zerstören begann, bildeten sich Gegenbewegung zu deren Schutz.
Polanyis Analysemuster verbindet langfristige mit kurzfristigen Dynamiken. Mit der neoliberalen Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts erlangte seine Analyse erneute Brisanz. Im Vordergrund stand die Analyse der Doppelbewegung aus Vermarktlichung und Gegenbewegungen des sozialen Schutzes vor den damit verbundenen Problemen (Arbeitslosigkeit, Abbau und Ökonomisierung des Sozialstaats) (Block & Somers, 2014; Dale, 2021; Lacher, 1999; Markantonatou, 2014; Pettifor, 2019; Polanyi Levitt, 2020). Erst in den letzten Jahren gewannen weitere aktuelle Problemfelder Eingang in dieses Analysemuster, insbesondere autoritäre, populistische Bewegungen (Bohle, 2014; Dörre et al., 2019; Hann, 2019; Holmes, 2018), das Thema „Care“ (Aulenbacher et al., 2021; Tronto, 2017) sowie die Umwelt- und Klimakrise. Polanyische Transformationstheorien wurden vom deutschen Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU, 2011) auf sozialökologische Problematiken angewandt, um die Dramatik der stattfindenden Transformation, die eine Nachhaltigkeitsrevolution sein sollte, zu beschreiben. Der stattfindende Wandel ist multidimensional, anstehende Veränderungen beschränken sich dem WBGU folgend nicht auf technologische Innovationen, sondern verändern Leben und Produktion grundlegend.
Polanyische Transformationstheorien sehen die Klimakrise als Teil multipler Krisen, deren gemeinsamen Wurzeln in den Logiken von Akkumulation (Marx) und Kommodifizierung, des Zur-Ware-Machens von Natur und Gesellschaft, liegen (Brand et al., 2020; Görg et al., 2017). Natur ist jedoch bloß eine „fiktive“ Ware. Sie wurde nicht für den Verkauf produziert (anschaulich z. B. beim CO2 als Ware), wird aber so behandelt, als wäre sie eine Ware (Wissen & Brand, 2019). Eine Krisenursache ist die Dominanz marktwirtschaftlicher Prinzipien gegenüber anderen Prinzipien wie Redistribution (Verteilung durch Zentralinstanz) und Reziprozität (Gegenseitigkeit in gemeinschaftlichen Verbünden). Demnach gilt es, solche Gegenbewegungen zu stärken, die (markt-)wirtschaftliche Dynamiken erneut in Gesellschaft und biophysische Prozesse einzubetten, also die Motive von Gewinnstreben und Nutzenmaximierung anderen gesellschaftlichen Logiken (z. B. Vorsorge, Vorsicht, Vertrauen etc.) unterzuordnen. Die Doppelbewegung von fortgesetzter Vermarktlichung und Gegenbewegung ist konfliktträchtig. Je mehr der Klimadiskurs die Notwendigkeit von geänderten Produktions- und Konsumnormen fordert, desto stärker wird der Status quo kapitalistischer Marktwirtschaften und Massenkonsumgesellschaft verteidigt.
Eine klimafreundliche Lebensweise erfordert (1) eine Abkehr von emissionsintensiver Befriedigung von Bedürfnissen durch individuellen Konsum (Waren und Dienste) und vorwiegend über den Weltmarkt hin zur emissionsreduzierender kollektiver Bereitstellung mit stärker regionalen Wirtschaftskreisläufen (Cahen-Fourot, 2020) und (2) eine Balance verschiedener Wirtschaftsprinzipien. Dies inkludiert die Problematisierung der aktuellen europäischen Wirtschaftsverfassung mit ihrer Priorisierung von Marktlösungen (z. B. Emissionshandel, Wettbewerbsrecht) (Brie & Thomasberger, 2018; Clark, 2013). Gleichermaßen umstritten ist, ob es eine Reglobalisierung oder selektive wirtschaftliche Deglobalisierung braucht für Strukturen klimafreundlichen Handelns (z. B. insbesondere im Bereich Geld, Finanz, Versicherung und Immobilien, von CO2-emissionsintensiven auf Luft- und Schifffahrt beruhenden Güterketten sowie stärker territorial verankerten Bereitstellungssystemen (Bello, 2013; Block, 2019; Novy et al., 2020; Patomäki, 2014; Rodrik, 2019)).
Der Slogan „The World is not for sale“ inspirierte diverse soziale und Umweltbewegungen, inklusive der Klimabewegung. Zivilgesellschaftliche Organisationen, wie die Solidarökonomie, Commonsbewegung etc., fordern die erneute Einbettung der Wirtschaft, um klimafreundliches Leben zu ermöglichen. Die Bedeutung der Polanyi-Heuristik zum Verständnis der Strukturbedingungen klimafreundlichen Lebens liegt darin, diverse gesellschaftliche Dynamiken, die in eigenen Forschungsfeldern detailliert aufgearbeitet werden, gemeinsam in den Blick zu nehmen und diese für die Klimaforschung nutzbar zu machen. Zwei Beispiele: (1) Polanyi verbindet die Analyse von Politik, Wirtschaft und Kultur. Neoliberale, konservative und reaktionäre Institutionen (von Foxnews, Thinktanks wie Cato Institut bis zu den US-amerikanischen Republikanern, AfD und FPÖ) sind heute Knotenpunkte der Klimawandelskepsis (Bärnthaler et al., 2020; Blühdorn & Butzlaff, 2019; Holmes, 2018). Sie sind Gegenbewegungen gegen die Hyperglobalisierung (Rodrik, 2011), eine liberale Weltordnung und die damit verbundenen soziokulturellen Veränderungen (steigende soziale Unsicherheit ebenso wie Diversitätspolitik). Heute sind sich diese Institutionen zumeist bewusst, dass es Klimawandel gibt. Sie wehren sich jedoch gegen Maßnahmen, die klimaschädliche Lebensweisen einschränken. Eine Folge sind die bekannten identitätspolitischen Auseinandersetzungen um klimarelevante Politikfelder (Veganismus, Autofahren etc.), die mit wissenschaftlichen Argumenten alleine nicht gewonnen werden können. (2) Polanyi ist Vertreter einer gemischtwirtschaftlichen Ordnung. Für ihn ist Wirtschaft nicht nur Marktwirtschaft, sondern allgemein die Organisation der Lebensgrundlagen, das heißt auch Hausarbeit. Gegen Vermarktlichung formiert sich historisch immer wieder Widerstand; aktuell in Auseinandersetzungen gegen die Privatisierung, Kommodifizierung und Finanzialisierung von Land, Wasser- und Energieversorgung. Gegenbewegungen umfassen auch den Widerstand gegen Agrarhandel (z. B. EU-Mercosur-Vertrag), die Patentierung von Natur und „land grabbing“ (Goodwin, 2018). Da warenförmiger Konsum eine wesentliche Ursache von Nicht-Nachhaltigkeit ist (z. B. Städtetourismus statt Freizeitgestaltung in der Nachbarschaft), gilt es auszuloten, ob und wie Bedürfnisse mit weniger warenförmigen Bereitstellungssystemen befriedigt werden können (z. B. öffentlicher Verkehr, öffentliche Naherholung).
Der Polanyi-Ansatz verbindet Bemühungen um inkrementelle Verbesserungen mit radikalen Transformationen. Diese Strategie doppelter Transformation erlaubt es, konkrete klimapolitische Maßnahmen (ökosoziale Steuerreform, Green New Deal etc.) mit Alternativen zu verbinden, in denen nichtmarktliche Wirtschaftsprinzipien vorherrschen (Commons, Solidarökonomie) (Klein et al., 2014; Novy et al., 2020).
28.7 Postwachstum (Degrowth) und Politische Ökonomik des Wachstumszwangs
Lead Autoren
Andreas Novy, Ulrich Brand
Kernaussagen
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Das aktuell zu beobachtende Überschreiten planetarer Grenzen (z. B. beim Klimawandel) hängt eng mit der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise zusammen. Der bestehende industrielle Metabolismus ist strukturell auf Expansion angelegt und daher nicht zukunftsfähig (mittlere Zustimmung, hohe Evidenz).
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Wenn mächtige Interessengruppen, die am Imperativ des Wirtschaftswachstums festhalten, einflussreich bleiben, stabilisiert dies Strukturen klimaunfreundlichen Lebens (imperiale Lebensweise). Damit Strukturen klimafreundlichen Lebens gestärkt werden, braucht es die Problematisierung von klimaunfreundlichen Strukturen und den Widerstand dagegen sowie das Schaffen grundlegend anderer Rahmenbedingungen (mittlere Zustimmung, mittlere Evidenz).
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Wenn Postwachstums-Theorien und -Bewegungen zu Strukturen klimafreundlichen Lebens beitragen wollen, dann braucht es Strategien zu deren demokratischer Durchsetzung (hohe Zustimmung, geringe Evidenz).
Die Politische Ökonomik an sich untersucht den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Politik. Für Klimapolitik von besonderem Interesse sind jene Strömungen der Politischen Ökonomik, die sich mit der expansiven Dynamik modernen Wirtschaftens auseinandersetzen. Während Marktwirtschaft als Kreislaufwirtschaft mit der Tendenz zu Gleichgewichten verstanden wird, konzipiert die im Folgenden als Politische Ökonomik des Wachstumszwangs bezeichnete Forschungsrichtung das moderne Wirtschaftssystem als Kapitalismus mit Dynamiken „kreativer Zerstörung“ (Schumpeter, 1911). Kapitalismus ist wesenhaft widersprüchlich (Belamy Foster, 2019; Fraser, 2014b). In der kritischen Politischen Ökonomik ist Kapital nicht wie in der Neoklassik eine (statische) Ressource, sondern eine Beziehung (Produktionsmittelbesitzer zu Arbeitskraft innerhalb bestimmter biophysischer Prozesse) und damit ein (dynamischer) Prozess fortgesetzter In-Wert-Setzung, das heißt der Wertschaffung.
Die kapitalistische Produktions- und Lebensweise hat sich über Jahrhunderte in Europa und der Welt etabliert und zu grundlegenden Veränderungen geführt – mit positiven und negativen Aspekten wie Emanzipationsprozessen und Raubbau an Menschen und Natur. Ihr transformatorisches Potenzial ist derart wirkmächtig, dass sie wesentlich verantwortlich ist für den Übergang in ein neues Erdzeitalter (Anthropozän) sowie die „große Beschleunigung“, beides zentrale Ursachen der aktuellen Klimakrise (Brand et al., 2021).
Die zentral notwendige Veränderung betrifft den Akkumulationsimperativ, das heißt den systemischen Zwang zu wachsen (grundlegend Schnaiberg, 1980). Doch wenn Unternehmen unter den gegebenen Rahmenbedingungen aufhören, Produktionsprozess und Produkte effizienter zu gestalten (billiger und/oder mit höherer Qualität), droht ihnen, vom Markt verdrängt zu werden. Dies zwingt sie zu ständigem Wachstum und Innovation, denn „Stillstand ist Untergang“. Wirtschaftswachstum (mit dem damit verbundenen Ressourcenverbrauch) ist unter diesen Bedingungen für Unternehmen notwendig, um profitabel zu bleiben. Wirtschaftswachstum („ein wachsender Kuchen“) erleichtert, Verteilungskonflikte mittels Win-win-Konstellationen zu lösen. Nicht nur Kapitalvertreter_innen, auch die Arbeitnehmer_innen und ihre Vertreter_innen setzen bislang meistens auf Wachstum als Lösungsstrategie. Und es ist im Wohlfahrtskapitalismus Grundlage des Sozialstaats, der sich wesentlich aus Steuereinnahmen finanziert. Der Staat bezieht seine Legitimität und qua Steuern seine materiellen Ressourcen aus wachsenden Steuereinnahmen, weshalb staatliche Institutionen, aber auch die Empfänger_innen staatlicher Leistungen ein Interesse an funktionierender Akkumulation (Wirtschaftswachstum) haben. Daher wird oft versucht, die anfallenden Kosten dieser Win-win-Strategien zu externalisieren, das heißt auszulagern und auf andere Gruppen oder die Umwelt abzuwälzen. All dies erklärt, warum Krisen im Kapitalismus im Rückblick am einfachsten durch Wachstumsprozesse gelöst wurden (Brand et al., 2020; Forrester, 1971; Kolleg Postwachstumsgesellschaften, 2022; Meadows, 1999).
Die imperiale Produktions- und Lebensweise (Brand & Wissen, 2017) geht mit ungleichem Tausch (Hornborg, 2017) und global sehr ungleichen Lebensbedingungen einher. Sie ist aber als westliche Lebensweise (Novy, 2019) aufgrund von Emanzipations- und Wohlfahrtsversprechen weiterhin populär, vermutlich sogar hegemonial. Es besteht jedoch ein breiter Konsens, dass es für ein klimafreundliches Leben notwendig ist, die Interessen von Gruppen, die weiter an dieser expansiven Logik festhalten, zurückzudrängen. Gruppen, die kurzfristig überdurchschnittlich betroffen sind, sollen jedoch unterstützt, teilweise auch materiell kompensiert werden (z. B. durch einen Klimabonus).
In den letzten Jahren hat sich die Suche nach einer „systemischen Wachstumsunabhängigkeit der Wirtschaft“ (Kallis, 2019; Schmelzer & Vetter, 2019; Seidl & Zahrnt, 2019) intensiviert. In dieser Debatte um Postwachstum (Degrowth) geht es nicht darum, sich an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen zu erfreuen, etwa den Rückgang des BIP per se zu begrüßen. Unzählige historische Erfahrungen zeigen nämlich, dass ein ungeplanter „change by desaster“ meist auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird. Die mit der aktuellen COVID-19-Pandemie verbundene Wirtschaftskrise hat dramatische soziale Auswirkungen, führte jedoch 2020 kurzfristig zu sinkenden Treibhausgasemissionen. 2021 führte Wirtschaftswachstum zum Rückgang der Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen Verarmungsprozessen sowie zu stark steigenden Emissionen. Dies zeigt das Dilemma der aktuellen Sozial- und Klimapolitik (Die Armutskonferenz et al., 2021).
Bei Postwachstum geht es nicht um das Verharren in Rezessionen, sondern um Strukturveränderung durch „change by design“, einem strategischen, konfliktiven und in vielen Bereichen experimentellen Prozess, bei dem sich nicht nur Klimaschäden verringern, sondern auch dominante Sachzwänge und Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung und die damit einhergehenden Kräfteverhältnisse verändern. Dies beinhaltet ein anderes Verständnis von individuellem und gesellschaftlichem Wohlstand (Chertkovskaya et al., 2019; Hickel, 2020; Jackson, 2017; Kallis et al., 2018). Es geht individuell und kollektiv um Suffizienz, das heißt zu problematisieren, „was genug ist“ (Skidelsky & Skidelsky, 2012). Dies bedeutet vor allem eine Veränderung von Rahmenbedingungen, also zu politisieren, wie sich Gesellschaften anders organisieren können, so dass viele Menschen nicht immer mehr haben müssen (von Winterfeld et al., 2020).
Beiträge zur Postwachstums-Debatte zeigen, dass es sich bei „Wachstum“ um eine tief verankerte Vorstellung („imaginary“) der kapitalistischen Moderne handelt, die ausgehend von den Zentren auf die ganze Welt übertragen wurde (vgl. etwa Muraca, 2014). „Mehr“ (bzw. „größer“) zu produzieren, zu konsumieren, zu haben, ist gesellschaftlich attraktiver als „besser“ oder „anders“ oder gar „weniger“. Diese Zunahme von Effizienz und Produktivität in Produktions- und Arbeitsprozessen und bei der Nutzung biophysischer Inputs ist ambivalent, hat Vor- und Nachteile. Besonders problematisch ist, dass die notwendige absolute Entkopplung, das heißt die Reduktion des Emissionsausstoßes trotz Wirtschaftswachstums, in der Vergangenheit nur in Ausnahmefällen zu beobachten war (vgl. jüngst die Auswertung von 835 Fachpublikationen zum Thema in Haberl et al., 2020). Selbst natur- und sozialwissenschaftliche Analysen, die manchmal sogar einen katastrophistischen Unterton haben, vermeiden es in der Regel, wachstumstreibende Institutionen zu problematisieren (Haberl et al., 2020). Sogar Klimaforscher_innen, die die historische Unmöglichkeit grünen Wachstums feststellen, empfehlen als Maßnahmen vorrangig Effizienzrevolution, Innovation und Marktlösungen (Haberl et al., 2020). Die kapitalistische Produktions- und Lebensweise weist also eine große Beharrungskraft auf. Blühdorn et al. (2020) sprechen von „nachhaltiger Nicht-Nachhaltigkeit“.
Für eine dekarbonisierte Wirtschaft braucht es mehr als Modernisierungsstrategien, die mittels Effizienzrevolution Klimaneutralität erreichen wollen. Allen voran eine weitreichendere Industriepolitik (Pichler et al., 2021; Urban, 2019) sowie einen notwendigen Rückbau nichtnachhaltiger Bereitstellungssysteme, insbesondere in den hochindustrialisierten Ländern (Paech, 2012). Notwendig ist in Anlehnung an Ivan Illich auch „konviviale Technik“, also eine demokratische Technikentwicklung: „Es geht um die Frage, welche Technik eingesetzt wird, wofür, und wie viel davon – und wer das entscheidet.“ (Blättel-Mink et al., 2021; Schmelzer & Vetter, 2019, S. 194).
Angesprochene Gestaltungsoptionen gehen in der Regel davon aus, dass Wirtschaftsbereiche, die der Grundbedürfnisbefriedigung dienen, Vorrang haben gegenüber Wirtschaftsbereichen, die durch Rent-Seeking oder Fixkostendegression von fortgesetzter Expansion abhängig sind (Gough, 2019). Unter diesen Bedingungen sind ökologische Zielsetzungen, z. B. die Einhaltung planetarer Grenzen, mit universeller Grundbedürfnisbefriedigung grundsätzlich vereinbar. Umverteilung innerhalb und zwischen Ländern ist aber notwendig. Für reiche Länder erfordert dies ein Schrumpfen ihres biophysischen Fußabdrucks durch „planned degrowth“ (Hickel, 2019, 2020; Hickel & Kallis, 2020) oder „collectively defined self-limitations“ (Brand et al., 2021).
In der Degrowth-Forschung wird in der Regel angenommen, dass dies mit Kapitalismus nicht vereinbar ist und es eine grundlegende Transformation der Produktionsweise bedarf. Uneinigkeit besteht in der Degrowth-Forschung bezüglich der besten Strategie: Ausstieg aus der vorherrschenden Logik und Aufbau von Alternativen (z. B. Abschnitt unten zu Ökotopien) oder Transformation der bestehenden Institutionen, z. B. mit Hilfe von Green-New-Deal-Strategien. Die Degrowth-Konferenz 2020 widmete sich diesem Thema, konnte aber auch nicht klären, wie gesellschaftliche Legitimität und demokratische Mehrheiten für diese Maßnahmen zu gewinnen sind (DegrowthVienna, 2020). Ein Ansatzpunkt sind nachhaltige und inklusive Bereitstellungssysteme, die Konsumkorridore festlegen: sowohl gesellschaftliche Maxima als auch Minima im Zugang zu Ressourcen und der Möglichkeit des Emissionsausstoßes (Bärnthaler et al., 2021; Brand-Correa et al., 2020; Di Giulio & Fuchs, 2014; Koch & Buch-Hansen, 2019, 2020).
28.8 Theorien zu Ökotopien
Lead Autor_innen
Andreas Exner, Antje Daniel
Kernaussagen
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Gelebte Ökotopien sind entscheidende Komponenten einer sozial-ökologischen Transformation. Sie demonstrieren, dass klimafreundliche Praktiken möglich sind, und können zum Ausgangspunkt für breitere gesellschaftliche Veränderungen werden.
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Theoretisch werden Ökotopien mit Blick auf eine klimafreundliche Gesellschaft verschieden gefasst und wissenschaftlich noch zu wenig untersucht.
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Ökotopien umfassen und artikulieren die Forderung nach Veränderung und loten nachhaltige Lebensweisen und Organisationsformen praktisch aus. Sie stehen oft in Zusammenhang mit oder sind Teil von Umwelt- und Klimabewegungen.
Aus der Perspektive der Protest- und Bewegungsforschung (Della Porta & Diani, 1999) sowie insbesondere im Rahmen der zunehmenden Debatte zu sozial-ökologischen Utopien (Ökotopien, Daniel & Exner, 2020; Görgen & Wendt, 2020; Neupert-Doppler, 2018) werden konkrete Ansätze alternativer sozialer Praktiken diskutiert, die zivilgesellschaftliche Akteur_innen entwickeln und vorantreiben. Dabei wird einerseits auf die Veränderung von Deutungen ökologischer Probleme von Umwelt- zu klimapolitischen Belangen hin und auf die Kämpfe der internationalen Klimagerechtigkeitsbewegung verwiesen, die versuchen, Einfluss auf die internationale Klimapolitik zu nehmen (Della Porta & Parks, 2013). Andererseits stehen die Akteur_innen im Mittelpunkt, die sich neu formieren, wie Fridays for Future, Extinction Rebellion oder Ende Gelände. Mit den neuen Akteur_innen ist eine Debatte über die Notwendigkeit radikaler Strategien durch zivilen Ungehorsam (siehe Deutschmann et al., 2020) und der Transformation kapitalistischer Produktionsverhältnisse entstanden, die ihre Legitimität aus der ökonomisch-ökologischen „Zangenkrise“ (Dörre, 2020) und der Debatte um multiple Krisen (Brand & Wissen, 2017) erfährt.
Zugleich überlappen sich Lebensstilfragen und politischer Aktivismus vermehrt, sodass Klimagerechtigkeit mit einer nachhaltigen Lebenspraxis verbunden wird. Dies findet Ausdruck (1) in der Bereitschaft der Aktivist_innen, Konsum und Lebenspraxen hinsichtlich Nachhaltigkeit und Suffizienz zu reflektieren und anzupassen; (2) in der permanenten oder fluiden Besetzung von symbolisch aufgeladenen bzw. materiell bedeutsamen Orten klimaschädlicher Praktiken; (3) in Handlungsansätzen von Alternativen, die zu einem großen Teil als konkrete Utopien sozial-ökologischer und klimafreundlicher Praktiken (kurz: als gelebte Ökotopien) betrachtet werden können (Daniel & Exner, 2020); (4) in Form von präfigurativen Strategien, die Einzug in Protestbewegungen halten, indem Forderungen nach klimafreundlichen Praktiken und Strukturen bereits in deren Rahmen zum Teil umgesetzt werden (Yates, 2015).
Mit Blick auf das Ziel von Klimagerechtigkeit verschränken sich im Zusammenwirken dieser vier Tendenzen der politische Druck, die ökotopische Praxis und symbolische Politik. Der Begriff der Ökotopie lässt sich an die akademische Debatte zu konkreten Utopien im Sinn von Ernst Bloch (1959) oder der „real utopias“ bei Erik Olin Wright (2011) sowie an die fiktionale ökologisch nachhaltige Utopie von Ernest Callenbach (1975) anschließen. Der Begriff verweist demnach auf Praktiken und Initiativen, die einerseits auf eine wünschbare Zukunft verweisen, andererseits diese Zukunft oder Elemente davon bereits in der Gegenwart verwirklichen oder zu verwirklichen trachten. Sie unterscheiden sich damit von der klassischen Utopie, die fiktional bleibt, teilt mit dieser aber den Fokus auf eine bessere Zukunft. Deshalb verweist beispielsweise Bloch (1959) auf die Bedeutung von Hoffnung und von Lernprozessen in konkreten Utopien. Anders als klassische Utopien fokussieren Ökotopien zudem kritisch auf die dominante Form des Mensch-Natur-Verhältnisses. Sie versuchen Alternativen eines neuen Naturumgangs zu entwickeln und konkret umzusetzen. Das Konzept der Heterotopien bei Michel Foucault (1966) lässt sich zumindest teilweise auch auf Ökotopien beziehen. Wie die von Foucault analysierten Heterotopien stellen Ökotopien Gegenräume zu dominanten gesellschaftlichen Praktiken und zu Normen dar, die damit einhergehen. Ähnlich wie Heterotopien im Sinne von Foucault brechen auch die Gegenräume der Ökotopien nicht unbedingt durchgehend und eindeutig bzw. radikal mit den dominanten Praktiken und Normen, sondern bleiben damit vielfach widersprüchlich verbunden.
Zu Ökotopien zählt eine große Bandbreite verschiedener Initiativen in verschiedenen Handlungsfeldern. Guerilla Gardening, gemeinschaftliches Gärtnern, Food Coops (wobei Konsumierende gemeinsam Lebensmittel bestellen und selbst verteilen) oder Initiativen einer Solidarischen Landwirtschaft versuchen Elemente einer wünschbaren Zukunft im Umgang mit Natur, Mensch und Lebensmitteln zu praktizieren. Sie werden in der Wissenschaft häufig unter dem Begriff der Alternativen Lebensmittel-Netzwerke verhandelt (Lockyer & Veteto, 2013). Verschiedene Formen Solidarischer Ökonomien finden sich auch im Bereich der handwerklichen Produktion oder der Dienstleistungen. Insoweit sie ökologische Anliegen verfolgen, sind sie ebenfalls Beispiele von Ökotopien. Manche ökotopischen Ansätze verbleiben dabei auf der Ebene der Imaginationen, die ökotopische Praktiken inspirieren. Ein Beispiel dafür ist der in den 1970er Jahren ausgearbeitete Plan, den britischen Industriebetrieb Lucas Aerospace von Rüstungsproduktion auf umweltfreundliche Produkte umzustellen (Mc Loughlin, 2017). Ökotopien sind auch Teil von Protestbewegungen, beispielsweise die Klimacamps. Sie dienen nicht nur der Vermittlung von Bewegungswissen und der Mobilisierung, sondern setzen für eine kurze Zeit an einem konkreten Ort auch einige Elemente der wünschbaren Zukunft um, für die sich diese Bewegungen engagieren. Ökodörfer sind eine das ganze Leben der Mitglieder umfassende Form von Ökotopie. Während Ökodörfer eine sesshafte Lebensweise praktizieren, nomadisieren Wagendörfer, die in einigen Fällen und auf ähnliche Weise wie die Ökodörfer ökologische Zielsetzungen verfolgen. In all diesen Fällen spielt der Klimaschutz in der Regel eine explizite oder zumindest implizite Rolle (für Überblicke siehe Daniel & Exner, 2020; Exner & Kratzwald, 2021; Habermann, 2009).
Die Ausarbeitung des Begriffs der Ökotopien steht erst am Anfang (Daniel & Exner, 2020). Die damit in Verbindung stehenden Konzepte der konkreten Utopie, der „real utopias“ und der Heterotopien wurden insgesamt nur wenig rezipiert und selten auf die Herausforderungen bezogen, die sich mit Blick auf Strukturen eines klimafreundlichen Lebens stellen. Mitunter werden Ökotopien als soziale Innovationen interpretiert und dann zum Teil im Rahmen der Multi-Level-Perspective und des damit verbundenen Konzepts des Strategischen Nischenmanagements analysiert, deren Verbreitung durch die jeweiligen kontextspezifischen Möglichkeiten bestimmt ist (Hargreaves et al., 2013; Hinrichs, 2014; Seyfang & Smith, 2007). Dieser Perspektive zufolge müssen sich Innovationen zuerst in geschützten Zusammenhängen entwickeln, Lernprozesse durchlaufen, Bündnisse entwickeln und sich mit mächtigen Akteur_innen vernetzen, um hinderliche Strukturen aufzubrechen. Krisen werden dabei als Gelegenheitsfenster dafür begriffen, dass Innovationen (wie beispielsweise Ökotopien) sich ausbreiten und schließlich gesellschaftliche Strukturen verändern. Allerdings wird ihre Transformationskraft oft skeptisch betrachtet, denn Ökotopien sind häufig eher auf ihre Mitglieder konzentriert, bleiben zum Teil sozial geschlossen, wirken eher regional und verstehen sich als Inseln des guten Lebens, die mitunter nur langfristig eine gesamtgesellschaftliche Transformationskraft entfalten könnten. Eine ähnliche Strategie wie das Strategische Nischenmanagement skizziert Erik Olin Wright mit Bezug auf „real utopias“ in dem von ihm so genannten Ansatz der „interstitialen“ und der „symbiotischen Metamorphose“ (Wright, 2011).
In einer von (heterodoxen) marxistischen Ansätzen beeinflussten theoretischen Perspektive wie bei Henri Lefebvre (1995, 1996) können Ökotopien als Versuche verstanden werden, den Alltagsverstand zu verändern, die mit Wirtschaftswachstum strukturell gekoppelte kapitalistische Wirtschaftsweise praktisch zu kritisieren, dadurch Kräfteverhältnisse zu verschieben und Alternativen zu ermöglichen. Ökotopien werden in der Literatur zu Degrowth bzw. Postwachstum rezipiert und zum Teil analysiert.
Soziale Bewegungen, die sich auf Degrowth beziehen (und das Verständnis von Degrowth mitgestaltet haben und weiter beeinflussen), sind häufig in ökotopischen Praktiken engagiert (Bakker, o.J.; Burkhart et al., 2020). Allerdings werden Ökotopien bislang in der Forschung zu Degrowth bzw. Postwachstum noch vergleichsweise wenig gewürdigt (Cosme et al., 2017; Weiss & Cattaneo, 2017) und laufen unter anderem Gefahr nur in Nischen zu verbleiben.
28.9 Theorien zu Staat und Governance
Lead Autor
Ulrich Brand
Beitragende Autor_in
Alina Brad
Kernaussagen
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Staatliche Politiken und Governance-Prozesse stellen rechtliche Rahmenbedingungen und materielle Ressourcen für die Durchsetzung einer klimafreundlichen Lebensweise bereit. Doch gleichzeitig sichern sie auch die bestendende nichtnachhaltige Produktions- und Lebensweise ab. In diesem Spannungsfeld bewegen sich konkrete Politiken.
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Bei der Problemwahrnehmung, Politikformulierung und -implementierung sowie bei der Politikevaluation sollte staatliche Politik auf das Wissen und die Interessen gesellschaftlicher Akteur_innen zurückgreifen, insbesondere von jenen, die von den Auswirkungen der Klimakatastrophe schon heute stark betroffen sind und/oder die Interessen an einer klimafreundlichen Lebensweise repräsentieren.
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Dabei sollten Machtasymmetrien gesehen und die Interessen jener, die kein Interesse an einer klimafreundlichen Lebensweise haben, hinterfragt und zurückgedrängt werden.
Eine zentrale Frage der sozialwissenschaftlichen Debatten um Klimakrise und angemessene Klimapolitiken lautet, ob der Staat und die bestehenden Formen von Governance in der Lage sind, Transformationen hin zu Nachhaltigkeit und damit zu einer klimafreundlichen Lebensweise zu steuern oder ob sie zu sehr mit der dominanten, nichtnachhaltigen Produktions- und Lebensweise verknüpft ist (Brand & Wissen, 2017; Eckersley, 2020; Hausknost, 2020; Paterson, 2016). Wenn die Steuerungsfähigkeit angezweifelt wird, stellt sich die Frage, was die gesellschaftspolitischen Bedingungen wären, damit der Staat in Transformationsprozessen eine führende Rolle einnehmen könnte (Koch, 2020).
Seit der Entwicklung des modernen Staates gibt es wissenschaftliche Begriffe und Theorien sowie mit der Politikwissenschaft eine eigene Disziplin, um den Staat als Konzept und empirisch in seinen Strukturen und Prozessen zu verstehen. Ein Grundkonsens der verschiedenen Theorien ist, dass es sich beim (westlichen) Staat im Prinzip um jene gesellschaftliche Instanz handelt, die allgemein verbindliche Entscheidungen trifft und sie notfalls mit legitimem Zwang durchsetzt, um gesellschaftliche Probleme oder sogar Krisen zu lösen, Sicherheit zu gewährleisten und das Allgemeinwohl zu steigern. Schon bei Fragen, ob der Staat auch Gerechtigkeit fördern und Ungleichheit bekämpfen soll, gehen die Theorien auseinander.
Den Staat kann man gemäß der politikwissenschaftlichen „Trias“ mit drei verschiedenen Schwerpunkten betrachten: (1) auf politisch-institutionelle Strukturen (polity), (2) auf staatliches Handeln mittels Recht, Ressourcenallokation und Anerkennung (policy) oder (3) auf staatliche und nichtstaatliche Akteur_innen und Konflikte (politics). Andere staatstheoretische Ansätze untersuchen die wirkungsmächtigen staatlichen Diskurse bzw. verstehen den Staat selbst als gesellschaftlichen Diskurs.
Staatstheorien können staatszentriert sein – etwa in der Tradition des Soziologen Max Weber (Anter & Breuer, 2007) oder in der liberalen Staatstradition im Anschluss an John Locke (Salzborn, 2010) – und einen eher „engen“ Blick auf Staat haben, also auf die konkreten Strukturen, Prozesse und das Staatshandeln sowie Interessengruppen, die staatliche Politik beeinflussen, fokussieren. Hier wird der Staat meist als Instanz der Problemlösung und Konfliktregulierung gesehen und staatliche Politiken in enger Verbindung mit den Präferenzen von Wähler_innen verstanden.
Ein gesellschaftszentrierter oder sogenannter „weiter“ Blick auf den Staat thematisiert zusätzlich das Zusammenspiel staatlicher und nichtstaatlicher Strukturen, Prozesse und sozialer Kräfte, beispielweise eine auf Expansion und entsprechende Ressourcennutzung ausgerichtete und von mächtigen Kapitalgruppen dominierte Wirtschaft. Wichtig sind hier der Republikanismus (Thiel & Volk, 2016), an den insbesondere die Governance-Ansätze anschließen, und die kritische Staatstheorie in der Tradition von Marx, die den Staat als „verdichtetes Kräfteverhältnis“ und zentrales Terrain im Kampf um Hegemonie begreift. Über den Staat versuchen die verschiedenen Akteur_innen ihre Interessen zu verallgemeinern, doch in die staatlichen Apparate und Diskurse sind die historischen und bestehenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und -diskurse eingeschrieben: Beispielweise die Dominanz bestimmter Kapitalgruppen oder Diskurse für unbedingt notwendiges Wirtschaftswachstum (Buckel & Fischer-Lescano, 2007; Hirsch et al., 2008; Poulantzas, 2002; zu kritisch-feministischen Theorien Ludwig et al., 2009).
In der Klimaforschung sind insbesondere Governance-Ansätze prominent vertreten. Politik, so die Beobachtung, lässt sich angesichts der Komplexität gesellschaftlichen Wandels immer weniger auf Regierungspolitik beschränken und Regieren ist mehr als politische Rechtsetzung und staatliche Regulierung. Der Staat selbst hat zum einen nicht die ausreichende Expertise, um komplexe Probleme wie die Klimakrise zu verstehen. Zum anderen sind traditionelle autoritative Top-down-Durchsetzungsprozesse vielen Problemen nicht angemessen und werden häufig als nicht legitim erachtet. Staatliche Akteur_innen sollten daher in allen Phasen des Politikprozesses mit gesellschaftlichen Akteur_innen bzw. Stakeholdern interagieren. Während Government für den hierarchischen, zentralistischen und dirigistischen Charakter traditioneller staatlicher Steuerungsformen steht, bezieht sich Governance auf dezentrale, netzwerkartige Formen der „Kontextsteuerung“ (Willke, 1992).
Die Klimakrise wird als ein komplexes Problem verstanden, dessen Bearbeitung neue Formen kollektiver Regelungen notwendig macht – von der gesellschaftlichen Selbstregelung über privat-öffentliche Arrangements bis hin zu staatlichem Handeln im eigentlichen Sinne (Altvater & Brunnengräber, 2011; Benz, 2004). Diese sollen traditionelle Grenzziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie überwinden und neue Mechanismen kooperativen Handelns und des Ausgleichs konfligierender Interessen bereitstellen. Dies vermeide Reibungsverluste und minimiere Informations- und Transaktionskosten im Hinblick auf eine effektive Klimapolitik.
Allerdings laufen Strukturen und Prozesse von Governance immer wieder Gefahr, zu einer Art technokratischem Steuerungsmodell reduziert zu werden, das nur neutrale oder rationale beziehungsweise sachbezogene Entscheidungen kennt, nicht aber strategische Optionen oder gar politische Alternativen. De facto gibt es aber nicht nur die eine „effektive“ Problemlösung, sondern oft mehrere – und deren Formulierung und Realisierung sind abhängig von Machtasymmetrien und Herrschaftsstrukturen. Das muss reflektiert werden. Die Probleme der Klima-Governance liegen auch darin begründet, dass private Akteur_innen sowohl in der Verursachung als auch im Prozess der Bearbeitung der Krise ihre nichtnachhaltigen Interessen durchsetzen. Unternehmen etwa wechseln die politische Maßstabsebene von Entscheidungen (beispielsweise vom Politikfeld mit stärkeren nationalstaatlichen Regulierungen wie der Sozialpolitik zur weniger regulierten internationalen Ebene), um Interessen möglichst gut durchzusetzen. Entsprechend sind die klimaunfreundlichen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Strukturen zu berücksichtigen, die mit strukturell mächtigen Akteur_innen verbunden sind (das „Steuerungsobjekt“), die im Modus von Governance (dem „Steuerungssubjekt“) gesteuert und gegebenenfalls in Richtung klimafreundliche Gesellschaft verändert werden sollen.
Hier setzen die erwähnten kritischen und „weiten“ Staatsbegriffe an. Sie fragen auch danach, wie staatliche Politiken die nichtnachhaltige Produktions- und Lebensweise absichern und welche mächtigen Interessengruppen diesbezüglich auf den Staat Einfluss nehmen oder sogar bestimmte Interessen systematisch in den staatlichen Apparaten eingelagert sind. Einige Staatstheorien nehmen auch die Heterogenität der Staatsapparate (etwa die Spannungen zwischen Wirtschafts- und Umweltministerien) systematisch in den Blick (klassisch: Poulantzas, 2002). In den kritischen Staatstheorien werden auch die Grenzen der parlamentarischen Demokratie zur Bearbeitung der Klimakrise thematisiert (Hausknost, 2020). Einige Autor_innen verweisen auf die Notwendigkeit breiter Beteiligung der Bevölkerung, die in Räten institutionalisiert werden könnten (Zeller, 2020).
In den meisten wissenschaftlichen Ansätzen, aber auch in der gesellschaftspolitischen Diskussion wird der Staat mit dem Nationalstaat gleichgesetzt. Doch insbesondere in den letzten Jahrzehnten haben lokale Ebenen (Länder, Kommunen) oder supranationalen Entitäten (wie die EU) oder Institutionen (z. B. United Nations Framework Convention on Climate Change – UNFCCC) an Bedeutung gewonnen. Dies wird wissenschaftlich in den Debatten um „Global Governance“ (Behrens, 2012) oder „Internationalisierung des Staates“ (Brand, 2014) reflektiert.
Je nachdem welche staatstheoretische Perspektive gewählt wird, unterscheiden sich die Fragen. Diese können etwa thematisieren: (a) die gesellschaftlich umkämpfte Konstitution des Phänomens „Klimakrise“, (b) die Bearbeitungsstrategien und politischen Ziele, die zur Eindämmung der Klimakrise innerhalb institutioneller Rahmen auf internationaler – etwa im UNFCCC, dem Pariser Klimaabkommen – und auf nationaler Ebene formuliert werden und (c) welche Strategien und Maßnahmen zu deren Erreichung (nicht) ergriffen werden oder (d) welche gesellschaftlichen und politischen Konflikte sich aus der Klimakrise, aber auch aus staatlichen Klimapolitiken ergeben; (e) auch die Effektivität verschiedener Politikoptionen sowie realer Politiken, aber auch deren Legitimität können im Zentrum von Untersuchungen stehen.
Besondere Herausforderungen sehen alle staatstheoretischen Ansätze in den starken Interessengruppen außerhalb und innerhalb des Staates, die sich gegen effektive Klimapolitiken stellen. Staatliche Politiken sind niemals kohärent, sondern widersprechen sich häufig und geben Anlass zu intrastaatlichen oder gesellschaftlichen Konflikten. Die Politiken und Strategien der in diesen Konflikten involvierten staatlichen Organisationen spiegeln unterschiedliche gesellschaftliche Interessen wider. „Weite“ und gesellschaftsorientierte Staatsbegriffe weisen darauf hin, dass unter Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise vor allem Kapitalinteressen strukturell mehr Macht haben und auch in den staatlichen Apparaten und Politiken stärker präsent sind. Entsprechend gibt es eine größere Skepsis im Hinblick auf die Frage, ob der Staat in der Lage ist, die Klimakrise effektiv zu bekämpfen und eine klimafreundliche Produktions- und Lebensweise zu fördern.
Die unterschiedlichen Staatstheorien geben auf diese Frage verschiedene Antworten: Von zu verändernden Präferenzen der Wähler_innen bis hin zu staatlichen Politiken, die einen grundlegenden sozial-ökologischen Transformationsprozess von Wirtschaft und Gesellschaft vorantreiben. Es besteht ein breiter Konsens, dass die Interessen von Gruppen, die kein Interesse an effektiver Klimapolitik haben, zurückgedrängt werden müssen (gegebenenfalls auch materiell kompensiert). Die aktuellen Strukturen, Prozesse und staatlichen Politiken in Österreich sind eng verbunden mit der nichtnachhaltigen Produktions- und Lebensweise. Der Staat bezieht seine Legitimität und qua Steuern seine materiellen Ressourcen daraus.
Wissenschaftlich fundierte gesellschaftsorientierte Staatsverständnisse weisen auch darauf hin, dass eine angemessene Bearbeitung der Klimakrise mit verstärkter Partizipation und Demokratisierung einhergehen muss: Interessen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit müssten mehr Raum erhalten, klimaunfreundliche Interessen und hier insbesondere ökonomisch mächtige Interessen müssten eingehegt werden. Es reicht nicht aus – wie in anderen Ansätzen angenommen – dass Transformationen hin zu Nachhaltigkeit zuvorderst in Nischen oder der Zivilgesellschaft entstehen (obwohl das wichtig ist). Letztendlich müssen Veränderungen hin zu einer klimafreundlichen Gesellschaft auch auf dem Terrain des Staates errungen und auf Dauer gestellt werden.
Der „enge“ Blick auf den Staat streicht das Handeln einiger Schlüsselakteur_innen heraus und erachtet jene Apparate (wie das Klima-Ministerium) und Politiken als zentral, welche die Bedingungen für ein klimafreundliches Leben fördern. Das gesellschaftliche „Vorfeld“ dieser Apparate wie klimafreundliche Branchen oder zivilgesellschaftliche Akteur_innen sind ebenso wichtig. Entsprechend sind nichtnachhaltige, in die staatlichen Apparaturen eingelagerte Interessen und die damit verbundenen Interessen tendenziell hemmend.
Ein „weiter“ Blick auf den Staat nimmt darüber hinaus die dominante oder gar hegemoniale, nichtnachhaltige Produktions- und Lebensweise, die in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist, als hemmende und zu verändernde in den Blick. Dabei weist die Staatstheorie auf ein wichtiges Paradox hin: Der Staat will möglicherweise sogar mittels Policies und Ressourcen in gesellschaftliche Bereiche verändernd eingreifen, doch die Logiken, Interessen und Kräfteverhältnisse setzen diesen Eingriffen Grenzen.
Der Staat ist eine anerkannte zentrale gesellschaftliche Instanz für die Durchsetzung einer klimafreundlichen Lebensweise mit seinen Wissens-, rechtlichen und materiellen Ressourcen. Die konkreten Möglichkeiten und Gestaltungsoptionen sind vielfältig und in unterschiedlichen Bereichen wie etwa Mobilitäts-, Landwirtschafts- oder Industriepolitik genau zu erforschen. Durch die Verschiebung gesellschaftlicher Diskurse und Kräfteverhältnisse kann auch die die Orientierung staatlicher Politik beeinflusst werden. Gleichzeitig verweist der Ansatz auf die Pfadabhängigkeiten, die einem schnellen Umlenken im Wege stehen.
Eine eher indirekte Gestaltungsoption liegt darin, aus Vergleichen mit anderen Regionen, Ländern, lokalen Entitäten und dortiger erfolgreicher Klimapolitik im Sinne von Best Practices zu lernen.
Ansätze, etwa in der Tradition von Murray Bookchin (1991), vertreten die Ansicht, dass zentralisierte politische Instanzen überhaupt nicht in der Lage sind, Probleme zu bearbeiten (ähnlich Sutterlütti & Meretz, 2018). Sie plädieren für einen dezentralen „libertären Munizipalismus“, in welchem wirtschaftliche und politische Prozesse weitgehend auf lokaler Ebene gemeinschaftlich organisiert werden.
28.10 Cultural Theory
Lead Autor
Thomas Schinko
Beitragende Autor_innen
JoAnne Linnerooth-Bayer, Mike Thompson
Kernaussagen
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Klimapolitik kann als ein dynamischer Wettbewerb von weltanschaulichen und interessengeleiteten Framings, Argumenten und Diskursen verstanden werden.
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Die Cultural Theory (CT) argumentiert, dass die Diskurse nicht zufällig und unbegrenzt sind, sondern dass sie von einer begrenzten Anzahl von Möglichkeiten abhängen, wie sich Gesellschaften organisieren können.
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Die CT argumentiert weiters, dass es nie nur einen Weg gibt, „wicked problems“ wie die Klimakrise zu lösen.
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Die CT legt zur Lösung der Klimakrise eine „clumsy solution“ nahe, welche auf einer argumentativen, aber letztlich konstruktiven Auseinandersetzung mit den vier vorherrschenden Diskursen (Hierarchie, Individualismus, Egalitarismus und Fatalismus) beruht.
Cultural Theory (CT) basiert auf den Arbeiten der Anthropologin Mary Douglas (1970) zur Risikowahrnehmung von Menschen in unterschiedlichen Entscheidungskontexten. CT postuliert, dass die Diskurse (oder Stimmen) der jeweils relevanten Stakeholder zwar plural, aber in ihrer Anzahl begrenzt sind. Die Diskurse stammen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten, die wiederum durch die Art und Weise geprägt sind, wie Menschen ihre sozialen Beziehungen organisieren, wahrnehmen und rechtfertigen. CT argumentiert, dass es vier Arten der sozialen Organisation gibt (daher die begrenzte Anzahl von Diskursen): Hierarchie, Individualismus, Egalitarismus und Fatalismus (Mamadouh, 1999; Thompson et al., 1990).
CT besteht aus einem konzeptionellen Rahmen, welcher in zahlreichen empirischen Studien angewandt wurde. Diese Studien versuchen, gesellschaftliche Konflikte im Umgang mit verschiedenen Risiken zu erklären, z. B. Risiko durch Nutzung von Atomenergie (Peters & Slovic, 1996), Gesundheitsrisiko durch Umweltverschmutzung (Langford et al., 2000), Naturgefahrenrisiko (Linnerooth-Bayer & Amendola, 2003; Linnerooth-Bayer & Mechler, 2006) etc. Später wurde CT auch auf andere Bereiche als die Risikowahrnehmung angepasst und angewandt, unter anderem auch im Kontext von Nachhaltigkeit (Beck & Thompson, 2015) und Klimawandel (Thompson & Rayner, 1998).
CT ist nicht die einzige Theorie, die postuliert, dass Interessengruppen oder politische Akteur_innen oft in Solidarität mit ihren institutionellen, politischen und sozialen Netzwerken stehen. Verschiedene Forscher_innen beschreiben diese Netzwerke als Diskursgemeinschaften, Advocacy-Koalitionen, Politiknetzwerke, soziale Solidaritäten und Echokammern, die alle auf gemeinsamen Interessen und Weltanschauungen beruhen (können). Wie wir in unseren zunehmend polarisierten Gesellschaften beobachten können, geben die Menschen ihre Weltanschauungsgemeinschaften nicht ohne Weiteres auf und die Politikgestaltung wird oftmals zu einem Weltanschauungskampf. Obwohl die CT wenig über die den jeweiligen Diskursen zugrundeliegenden Machtverhältnisse zu sagen hat, liefert sie eine gute Begründung für integrative Ansätze, die Kompromisse und nicht unbedingt einen (oft unerreichbaren) Konsens anstreben (Linnerooth-Bayer et al., 2016). Es gilt zu beachten, dass Weltanschauungsgemeinschaften nicht statisch, sondern je nach Kontext und Thema dynamisch sind. In der Tat können Interessenvertreter_innen „verschiedene Hüte tragen“, wenn sie sich mit verschiedenen Gemeinschaften solidarisieren. Es geht nicht darum, Menschen in eine Schublade zu stecken, sondern Politik als einen dynamischen Wettbewerb von weltanschaulichen und interessengeleiteten Framings, Argumenten und Diskursen zu verstehen. Der Beitrag der CT besteht in der Hypothese, dass die Diskurse nicht zufällig und unbegrenzt sind, sondern dass sie von einer begrenzten Anzahl von Möglichkeiten abhängen, wie sich Gesellschaften organisieren können.
Auf Basis der CT lässt sich argumentieren, dass Dynamiken des gegenwärtigen Wandels oftmals zu sehr auf „elegant solutions“ setzen, welche sich nur an einem dieser vier Diskurse orientieren und sich nur zur Lösung von sogenannten „tame problems“ eignen. In sogenannten „wicked problems“, wie es die Klimakrise und viele andere der vorherrschenden gesellschaftlichen Herausforderungen darstellen, kann die Vernachlässigung der anderen Perspektiven zu gesellschaftlichen Konflikten führen, wodurch wiederum notwendige gesamtgesellschaftliche und somit transformative Veränderungen ausbleiben (Beck & Thompson, 2015; Rayner & Caine, 2014).
Die CT argumentiert, dass es nie nur einen Weg gibt, „wicked problems“ wie die Klimakrise zu lösen. Klimapolitik ist immer ein umkämpftes Terrain: ein Terrain, auf dem es für nur eine oder vielleicht eine Allianz von nur zwei Denkweisen nur allzu leicht ist, die anderen auszuschließen. Dadurch können „Lock-ins“ entstehen (wie z. B. im Verkehrssystem) und die notwendige Flexibilität für eine Transformation wird verringert (z. B. die Umstellung auf erneuerbare Energien).
Es werden vier Denkweisen (als Arten des Wahrnehmens, Handelns und Begründens) in der Klimakrise beschrieben, wobei die ersten drei Denkweisen für Aktivität stehen in dem sie Handlungsmöglichkeiten in den Vordergrund rücken, während dievierte Denkweise Passivität impliziert:
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1.
Hierarchie: Die hierarchische Denkweise befürwortet Top-down-Kontrolle und fokussiert stark auf Prozessrationalität. Sie betont „globale Verantwortung“ und weist darauf hin, dass das, was für einzelne Gruppen rational ist, für die gesamte Gesellschaft katastrophal sein kann. Zudem besteht sie darauf, dass globale Probleme (wie der Klimawandel) globale und experten-basierte Lösungen sowie klare Top-down-Prozesse erfordern.
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2.
Individualismus: Die individualistische Denkweise ist pro-marktwirtschaftlich und stellt Kosten-Nutzen-Abwägungen in den Mittelpunkt. Sie fordert Deregulierung (wenn der daraus entstehende Nutzen die Kosten überwiegt), die Freiheit, innovativ zu sein und Risiken einzugehen, und die Internalisierung von Umweltkosten, um „die Preise richtig zu gestalten“.
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3.
Egalitarismus: Die egalitäre Denkweise ist kritisch und zum Teil moralisierend. Sie lehnt die Idee des „trickle down“ ab und konzentriert sich auf (global) Benachteiligte. Für Gesellschaften des Globalen Nordens plädiert sie für Degrowth und fordert große Veränderungen im Alltagsverhalten, um vor allem verschwenderischen Konsum innerhalb planetarer Grenzen zu halten.
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4.
Fatalismus: Die passive fatalistische Denkweise sieht keine Möglichkeit, einen Wandel zum Besseren zu bewirken. Vertreter_innen dieser Denkweise fühlen sich machtlos, die Zukunft zu beeinflussen, und nehmen daher kaum aktiv an den politischen Debatten teil.
Das Kyoto-Protokoll ging aufgrund seiner hierarchischen Logik davon aus, dass das Klima ein teures und globales öffentliches Gut sei und die Vermeidung des Klimawandels daher nur durch einen globalen Vertrag zwischen allen Regierungen und Parlamenten der Welt bereitgestellt werden könne. Es berücksichtigte nicht die Möglichkeit, dass die Lösung (zumindest teilweise) von den unteren Ebenen ausgehen könnte, zum Beispiel von Städten und Haushalten.
In der Anpassung an den Klimawandel müssen laut CT alle drei aktiven Denkweisen berücksichtigt und die passive fatalistische Denkweise mitgedacht und verstanden werden. Dadurch kann man, wenn eine Strategie, die bis jetzt gut funktioniert hat, nicht mehr wirksam zu sein scheint, zwischen den drei aktiven Strategien mit einem Minimum an Verzögerung wechseln bzw. einzelne Aspekte von diesen miteinander neu kombinieren. Weitsichtige, von oben herab und von Expert_innen geplante Veränderungen im Verhalten und in der Technologie, auf die so viele der gegenwärtigen Anstrengungen (insbesondere in Bezug auf den Klimawandel) aufbauen, ist nur eine der zur Verfügung stehenden Strategien.
Die CT legt zur Lösung von „wicked problems“ eine „clumsy solution“ nahe. Diese beruht auf einer argumentativen, aber letztlich konstruktiven Auseinandersetzung mit allen vier Arten des Wahrnehmens, Handelns und Begründens (Hierarchie, Individualismus, Egalitarismus und Fatalismus) (Verweij & Thompson, 2006). Ein solcher Ansatz geht sowohl über die Monismen als auch über die Dualismen hinaus und sucht nach einer pluralistischen Rahmung: einem Dreiklang aus öffentlichem, privatem und bürgerlichem/gesellschaftlichem Engagement.
Laut CT ist der Diskurs – konkurrierende Narrative, Storylines, Stimmen etc. – entscheidend. Es braucht daher Institutionen, die konstruktive Auseinandersetzungen ermöglichen, indem sie für alle vier Denkweisen zugänglich und ansprechbar sind. Dahl (1971) spricht in diesem Zusammenhang von einer „pluralistischen Demokratie“. Es sind allerdings auch neue Methoden in der Politikanalyse gefragt, die es ermöglichen, den politischen Diskurs dahingehend zu analysieren, welche der vier Stimmen bereits Widerhall finden und welche noch fehlen. Auch Methoden, die einen solchen pluralistischen Diskurs ermöglichen, werden sich stark von den derzeitig etablierten unterscheiden müssen und verstärkt auf partizipativen und transdisziplinären Ansätzen beruhen (siehe z. B. Linnerooth-Bayer et al., 2016; Scolobig et al., 2016).
Eine Transformation hin zu einem klimafreundlichen Leben wird laut CT an den Konflikten und Lock-ins scheitern, die entstehen, wenn nicht alle vier Denkweisen in Entscheidungsfindungsprozesse zur Identifikation einer „clumsy solution“ miteinbezogen werden. Jede einzelne dieser vier Denkweisen kann sich zu einer hemmenden Kraft entwickeln, sollte sie sich in hegemonialem Bestreben über die anderen Denkweisen hinwegzusetzen versuchen (Beck & Thompson, 2015; Rayner & Caine, 2014).
Eine Transformation hin zu einem „climate friendly living“ – verstanden als radikaler Strukturbruch – stellt aus CT-Sicht ein egalitäres Narrativ dar: „Wir brauchen jetzt einen radikalen Wandel, bevor es zu spät ist.“ Allerdings ermöglicht eine „clumsy solution“, dass alle Akteur_innen „das Richtige“ (aus Sicht dieses egalitären Narrativs) tun, allerdings aus sehr unterschiedlichen Gründen (siehe Linnerooth-Bayer et al., 2016; Scolobig et al., 2016).
Erst eine Sichtbarmachung und in weiterer Folge Miteinbeziehung von allen vier Denkweisen im Zuge von partizipativen Entscheidungsprozessen ermöglicht laut CT die Durchsetzung notwendiger Veränderungen für eine klimafreundliche Lebensweise. In diesem Sinne war das Paris Agreement aus CT-Sichtweise eine deutliche Verbesserung im Vergleich zum Kyoto-Protokoll: Insbesondere der Bottom-up-Ansatz, in welchem die einzelnen Länder ihre freiwilligen Reduktionsziele definieren, geht in Richtung einer „clumsy solution“.
Literatur
Altvater, E., & Brunnengräber, A. (Hrsg.). (2011). After Cancún: Climate Governance or Climate Conflicts. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94018-2
Anter, A., & Breuer, S. (2007). Max Webers Staatssoziologie (Bd. 15). https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845202440/max-webers-staatssoziologie
Aulenbacher, B., Lutz, H., & Schwiter, K. (2021). Gute Sorge ohne gute Arbeit? Live-in-Care in Deutschland, Österreich und der Schweiz (1. Auflage). Beltz Juventa.
Bakker, K. (o. J.). Geographies of degrowth: Nowtopias, resurgences and the decolonization of imaginaries and places. Abgerufen 2. November 2021, von https://core.ac.uk/reader/237298400
Bärnthaler, R., Novy, A., & Plank, L. (2021). The Foundational Economy as a Cornerstone for a Social-Ecological Transformation. Sustainability, 13(18). https://doi.org/10.3390/su131810460
Bärnthaler, R., Novy, A., & Stadelmann, B. (2020). A Polanyi-inspired perspective on social-ecological transformations of cities. Journal of Urban Affairs, 1–25. https://doi.org/10.1080/07352166.2020.1834404
Bauhardt, C. (2014). Solutions to the crisis? The Green New Deal, Degrowth, and the Solidarity Economy: Alternatives to the capitalist growth economy from an ecofeminist economics perspective. Ecological Economics, 102, 60–68. https://doi.org/10.1016/j.ecolecon.2014.03.015
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Haderer, M. et al. (2023). Kapitel 28. Theorien des Wandels und der Gestaltung von Strukturen: Gesellschaft-Natur-Perspektive. In: Görg, C., et al. APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66497-1_32
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