7.1 Zusammenfassung

In Ursprung des Kunstwerks erläutert Heidegger, dass das Kunstwerk uns das Ereignis der Wahrheit, die Wahrheit des Seienden, also eine Öffnung der Welt, und das Sein des Seienden eröffnet. Offensichtlich haben wir es hier mit einer Metaphysik der Kunst zu tun. Die Fragen, mit denen wir in dieser Arbeit konfrontiert werden, lauten daher: Kann die Wahrheit des Seins uns in der Erfahrung gegeben sein? Und wenn ja – auf welche Weise ist diese Erfahrung möglich? Hierzu werden wir mindestens drei Arten erörtern, wie Kunstwerken in der Geschichte der Kunstphilosophie betrachtet wurden. Die drei Arten entsprechen für uns den drei Leibbegriffen: Körperlichkeit, Phantomleiblichkeit und Phantasieleiblichkeit. Innerhalb eines polemischen Kontextes, der die ersten zwei Arten anzweifelt und durch die revolutionäre Entdeckung der perzeptiven Phantasia, profiliert Richir seine eigene Position, indem er phänomenologisch demonstriert, wie einer metaphysisch verstandene Wahrheit des Seins in Kunstwerken als „Sache“, als „Phänomen“ erfahren werden kann. Somit erweckt er Heideggers phänomenologische Intuitionen zum Leben, die wir zitieren werden und die unsere Überlegung begleiten sollten. Daneben zeigt Richir auf, wie die uns durch Kunstwerke offenbarte Welt nie gewesen ist und nie sein wird (es sei denn durch eine Transposition, die die Erstere verzerrt). Kunstwerke erschließen eine virtuelle Welt, die sehr weit von unserer natürlichen Seinsweise entfernt ist: Ontologie. Somit hätten wir eine Antwort auf eine frühere Frage des vorausgehenden Kapitels geliefert: ob die Virtualität der absoluten Transzendenz bei Richir eine universelle Struktur für die Erfahrung ist. Während wir erkunden, wie Richir dies in Bezug auf Theater, Literatur, darstellende Kunst und Musik vollzieht, schlagen wir das Konzept der Partizipation als eine phänomenologische Herangehensweise vor, die sowohl Heideggers, als auch Richirs Intuition verständlich macht.

7.1.1 Einleitung: Das Kunstwerk als Eröffnung der Wahrheit des Seienden

Nach einer sehr umfangreichen Analyse über die Bestimmung des „Dings“ kommt Heidegger zu einer eindeutigen Antwort auf die Frage nach der Bestimmung eines Kunstwerks: „Was ist im Werk am Werk? [sic: Kunswerk] Im Werk ist, wenn hier eine Eröffnung des Seienden geschieht in das, was und wie es ist, ein Geschehen der Wahrheit am Werk. Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt […].“Footnote 1 Und: „Das Kunstwerk eröffnet auf seine Weise das Sein des Seienden.“Footnote 2

Wie können wir dieses Sein verstehen? Wenn wir fragen, worum es sich bei diesem Sein handelt, so müssen wir zunächst herausfinden, womit wir es bei dem Seienden zu tun haben. Von Heideggers eigener, genauer Bezeichnung ausgehend, könnte das Seiende z. B. ein Werkzeug der Bäuerin sein, etwa ihre Schuhe; bereits in einem früheren Abschnitt in Heideggers Werk wurde deren essentielles Sein thematisiert: Verlässlichkeit.Footnote 3 Denn dadurch ist sich die Bäuerin ihrer Welt sicher. Dadurch, dass die Welt und die Erde nur ihr und all jenen, die auf diese Weise bei ihr sind als verlässlich präsent ist, sehen wir den ontologischen Boden, auf welchem der Schuh gegründet ist und auf dem andere Dinge gegründet sein können. Seine Zuverlässigkeit ist zum Beispiel in seiner Nützlichkeit begründet. Wenngleich Heideggers primäres Interesse nicht dem Werkzeug oder Seienden, sondern der Natur der Kunstwerke galt, so war es die Reflexion über die Kunstwerke, die die Werkzeuge in ihrem Sein manifestiert. Dies ist umso interessanter, da Heideggers Versuche, die Dinglichkeit der Dinge (erweitert auf alle Seienden: Werkzeuge, Dinge usw.), das heißt ihre Bestimmung anhand der drei verbreiteten abendländischen InterpretationenFootnote 4 zu verstehen, nicht nur untauglich sind positive Resultate zu liefern, sondern sie versperren auch den Weg zur Dinglichkeit des Dings, zur Werkzeughaftigkeit des Dings und – mehr denn je – zur Kunsthaftigkeit von Kunstwerken und blockieren dadurch den Pfad zur Reflexion über das SeinFootnote 5.

Die Öffnung eines Seienden in seinem Sein erscheint bei Heidegger als eine andere Art und Weise, das Geschehnis der Wahrheit auszudrücken.Footnote 6 Nun haben wir eine positive Antwort erhalten: Ein Kunstwerk öffnet nicht nur den Weg zum Sein, sondern es ist darin auch Wahrheit als Ereignis am Werk – eine Kopplung, die (auch) in Sein und ZeitFootnote 7 vorkommt. Doch bevor wir fortfahren, die Konsequenzen dieses Ereignisses der Wahrheit zu untersuchen, halten wir es für notwendig aufzuzeigen, dass die Einführung von „Wahrheit“ bei der Bestimmung von Kunstwerken in Heideggers Augen eine radikale Abgrenzung von dem markiert, was wir heutzutge als Ästhetik bezeichnen würden. In der Ästhetik hat die Kunst als solche (manch einer interpretiert Heidegger hier so, dass er sich an dieser Stelle auf die große Kunst bezieht) ihren WahrheitsstatusFootnote 8 verloren, es sticht stattdessen nur das Schöne hervor. Daher auch die Bezeichnungen “fine arts” (Englisch), “les beaux arts” (Französisch) oder “die schönen Künste” (Deutsch), wie sie in verschiedenen westlichen Sprachen gebräuchlich sind. Für Heidegger trägt die Kunst ihren Namen nicht, weil sie schön ist, sondern weil das Schöne produziert und Schönheit dabei thematisiert wird.Footnote 9 Doch man könnte meinen, dass dies die Schönheit als Angelegenheit der Metaphysik und als essentiell mit der Seinstheorie an sich verbunden diskreditiert. Zugleich würde es bedeuten, ihre Thematisierung in der Geschichte der Kunstphilosophie zu leugnen – selbst wenn das Schöne nicht in Bezug auf Kunstwerke, sondern in Bezug auf andereFootnote 10 Quellen thematisiert wird. Bei diesen anderen Quellen, die schön sein können, kommen einem etwa Platon und Plotin in den Sinn. Zweitens scheint das Ereignis der WahrheitFootnote 11 – zwischen den Zeilen des Ursprungs des Kunstwerks – austauschbar mit dem Begriff der Öffnung der Welt zu sein. In einem Abschnitt stellt Heidegger die folgende Frage und beantwortet sie sogleich: „Aber wie geschieht Wahrheit?“ Walo Hartmann hat gezeigt, wie Heidegger sich mit dem Problem der Wahrheit oft beschäftigt. Sei es in seiner Habilitatitonsschrift, in §44 von Sein und Zeit, in der Scotusschrift usw. griff Heidegger jede sich bietende Gelegenheit auf das Problem der Wahrheit zum zentralen ThemaFootnote 12 seiner Überlegung zu machen. Was nun die Thematisierung der Problematik der Wahrheit in Bezug auf die Kunst anbelangt, so geht es um das Ereignis der Wahrheit. Die Wahrheit geschieht in wenigen wesentlichen Weisen und hier liegt die Antwort auf die von Heidegger gestellte Frage, wie Wahrheit geschieht. Eine dieser Weisen, ist das Werksein des Werkes. Aufstellend eine Welt und herstellend die Erde ist das Werk die Bestreitung jenes Streits, in dem die Unverborgenheit des Seienden im Ganzen, die Wahrheit, erstritten wird.Footnote 13 Mit anderen Worten ist die Aufstellung einer Welt eine Möglichkeit, wie Wahrheit oder die Unverborgenheit der Seienden geschieht. Dementsprechend besteht eine direkte Verbindung zwischen der Aufstellung einer Welt und der Sicherstellung der Wahrheit. In diesem Sinne hat Heidegger eine der bekanntesten Thesen aus Sein und Zeit erweitert, in der deutlich wurde: „Das Wahrsein als Entdeckend-sein ist wiederum ontologisch nur möglich auf dem Grunde des In-der-Welt-seins [….] Das Entdecken ist eine Seinsweise des In-der-Welt-seins.“Footnote 14 Hier wird Entdecken (der Welt) mit Wahrsein gleichgestellt. Aber das scheint uns wiederum, nicht klar zu sein. Es sieht so aus, als wäre eine Welt wahr, die unverborgen oder endeckt worden ist. Wir wissen aber, dass das Unverborgene nicht automatisch mit der Wahrheit gleichzustellen ist:

Z. B. Wahrheit […] = Unverborgenheit, Offenheit. Ist denn Unverborgenheit und Wahrheit wirklich dasselbe? Gehört es nicht vielleicht gerade mit zum Wesen der Wahrheit, dass sie als Letztes immer teilweise im Verborgenen bleibt? Und wird denn eine Unwahrheit dadurch, dass sie offen liegt, zur Wahrheit?Footnote 15

Dieses Zitat deutet darauf hin, dass der Anspruch des Wahrheitsbegriffs bei Heidegger nicht problemfrei ist. Wir verzichten auf ausführliche Kommentare und fahren mit der Frage fort: Wenn Wahrheit und Welt also – wie wir gesehen haben – korrespondieren, dann können wir fragen, wie diese Welt verstanden werden kann. Müssen wir denn notwendig auf Heideggers Wahrheitslehre zurückfallen, wenn wir „der Welt” Sinn zuschreiben wollen? Ein Heidegger-Experte auf diesem Gebiet hat diese Verbindung zwischen Wahrheit und Welt – bestätigend in einer Fußnote – in vier von Heideggers Arbeiten aufgezeigt: Platon: Sophistes (1925); §44 von Sein und Zeit, Vom Wesen der Wahrheit (1930) und im Ursprung des Kunstwerks.Footnote 16 Liest man Der Ursprung des Kunstwerkes, so sieht man Heideggers Verständnis von Wahrheit weder als Übereinstimmung mit (adaequatio rei et intellectus), noch als Wiedergabe des „jeweils vorhandenen einzelnen Seienden“, sondern als die Wiedergabe des allgemeinenFootnote 17 Wesens.Footnote 18 Nach Youngs Lesart ist es so, dass das Verständnis der Wahrheit als Übereinstimmung „presupposes reference, and reference presupposes – a point often overlooked – a ‚horizon of disclosure‘ which, through disambiguation, first makes it possible.“Footnote 19 Diesen Horizont der Erschließung, in dem jeder sich befindet, versteht Heidegger als Welt. In diesem Sinne schreibt Young: „In sum, then, ‚world‘ is the background, and usually unnoticed understanding which determines for the members of an historical culture what, for them, fundamentally, there is.Footnote 20

Wenn „Welt“ diese ontologische Struktur anzeigt und wenn Wahrheit in diesem ontologischen Zusammenhang verstanden werden soll, dann muss das Kunstwerk laut Heidegger diese fundamentale ontologische Struktur ausdrücken und offenbaren. Das besagte Kunstwerk muss 1) Welt-bestimmende Geschehnisse (z. B. einen griechischen Tempel, die Bamberger Kathedrale, die Igbo Ukwu-Kunst etc.) erschließen und nicht nur die Seienden in diesen Welten entbergen. Es muss auch die „Welten“ der Menschen erschlißen, die in der jeweiligen Zeit leben. Auf gleiche Weise kann es 2) – genau wie das Schuh-Gemälde von Van Gogh es in Bezug auf die Bäuerin getan hat, indem es ihre „Welt“ der Alltäglichkeit offenbart hat – die Bedeutsamkeit der räumlichen Umwelt einer Person offenlegen.

Wir geben hier zwei Beispiele. Beim ersten Beispiel ist das Kunstwerk, z. B. der griechische Tempel von Hera bei Paestum, mit dem Heidegger seine Theorie verdeutlicht hat, nicht nur ein Bild, sondern eröffnet – nur indem er dort steht – eine „Welt“. Es ist eine „Welt“, in der Gottes Präsenz und die Heiligkeit des Tempelareals sichtbar und spürbar werden. In ihr wird die Realität von Geburt und Tod, von heilig und unheilig, von Gnade, Triumph und Schande, von Beharrlichkeit und Niedergang offengelegt. Diese „Welt“ ist die eines bestimmten Volkes, welches in einem gewissen Zeitalter gelebt hat. Das Volk kann sich selbst in dieser „Welt“ wiedererkennen und sich mit ihr verbinden. Die „Welt“ ist in der Lage, zu erfassen, wer die Menschen als Volk sind; außerdem hatten die Dinge in dieser „Welt“ ihren Platz und ihre Identität. „Der Tempel gibt“ daher „in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.“Footnote 21 Es ist eine Aussicht, die so lange unverborgen bleibt, wie das Kunstwerk (in diesem Fall der Tempel) das Kunstwerk blieb; solange Gott im Tempel blieb. Beim zweiten Beispiel haben wir ein von Van Gogh gemaltes Kunstwerk vor uns: Die Schuhe der Bäuerin zeigen die räumliche Umwelt, der sie zugehörig sind; die Schuhe sind auf dem vertrauten Boden des Bauernhofes was sie sind. Betrachtet man Van Goghs Gemälde, so liegt die „Welt“ der Alltäglichkeit dieser Bauersfrau offen. Dieser Altäglichkeit entnehmen wir: Die Mühsal der verschiedenen Arbeitsschritte, den zähen, langsamen Gang, mit dem sie sich durch die langen Ackerfurchen schleppt, den abgeschiedenen Feldweg, der am hereinbrechenden Abend unter ihren Füßen drückt, die stummen Schreie der Erde, wenn sie im Sommer Früchte hervorbringt und im Winter zur unfruchtbaren Einöde wird. Man sieht darin das klaglose Bangen darum, sich das tägliche Brot zu sichern; die wortlose Freude darüber, die Strapazen zu überleben.Footnote 22 Doch was passiert, wenn der Tempel zerstört und zu einer Touristenattraktion oder die Schuhe zu einem Ausstellungsstück im Museum werden? In beiden Fällen wären die „Welten“, die uns normalerweise beide offenstehen, kollabiert – egal wie gut die Kunstwerke auch konserviert und für die Kunstindustrie optimiert worden wären. Die Wahrheit ihres Seins wäre für immer verloren. Mit anderen Worten verliert große Kunst, auf die sich Heidegger teilweise bezieht, ihre „Essenz“, wenn sie nicht in der Ontologie verwurzelt ist.

Es ist offensichtlich, dass Heidegger in Bezug auf Kunstwerke einen radikalen ontologischen Ansatz vertritt 1) im Gegensatz zu einer starken ÄsthetisierungFootnote 23 derselben, in welcher Dasein nicht erst ein objektblindes Subjekt ist, um dann später auf ein subjektblindes Objekt zu treffen und 2) im Gegensatz zu einer platonischen ontologischen KritikFootnote 24 (wir haben dies bereits oben behandelt und gezeigt, dass diese Kritik bei Plotin und später bei Kant reformuliert wird)Footnote 25, die besagt, dass Schönheit sich nicht im Kunstobjekt selbst findet, sondern aus der Welt der Formen abgeleitet werden müsse. Der ontologische Ansatz besagt, dass dieses Dasein eines ist, das immer außerhalb von sich selbst steht und in die Welt der Alltäglichkeit eingetaucht ist. Kunstwerke sollen also genau diese ontologische Beziehung zur Hintergrundwelt des Alltäglichen erzeugen, in der die Menschen sich befinden. Folgt man diesem Gedankengang, so wissen wir nicht, wie diese Welt der Alltäglichkeit uns in konkreten Begegnungen mit Kunstwerken gegeben werden kann. Wie soll uns dann also die Wahrheit des Seins von Kunstwerken in unserer Erfahrung gegeben werden? Wie erlebt der Leib die Wahrheit des Seins in der Kunst? Wird dann diese Ontologie in der Vermittlung gegeben? Heidegger schlägt in Holzwege eine rein phänomenologische Herangehensweise vor:

Je einsamer das Werk, festgestellt in die Gestalt, in sich steht, je reiner es alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher tritt der Stoß, daß solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen. Aber dieses vielfältige Stoßen hat nichts Gewaltsames; denn je reiner das Werk selbst in die durch es selbst eröffnete Offenheit des Seienden entrückt ist, um so einfacher rückt es uns in diese Offenheit ein und so zugleich aus dem Gewöhnlichen heraus. Dieser Verrückung folgen, heißt: die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden Wahrheit zu verweilen. Die Verhaltenheit dieses Verweilens läßt das Geschaffene erst das Werk sein, das es ist. Dieses: das Werk ein Werk sein lassen, nennen wir die Bewahrung des Werkes. Für die Bewahrung erst gibt sich das Werk in seinem Geschaffensein als das wirtliche, d. h. jetzt: werthaft anwesende.Footnote 26

Was Heidegger hier vorschlägt, ist – wenn auch implizit – eine rein phänomenologische Herangehensweise, – und laut Richir erfordern die Aporien des Metaphysischen das Phänomenologische notwendigerweiseFootnote 27 – die sich von der natürlichen Haltung abgrenzt. Wir bemerken dabei in dem Zitat oben eine Art von Einklammerung des geläufigen Tuns. Einfach ausgedrückt heißt dies für uns, dass das Sein des Werkes und das Versinken ins Sein und die Wahrheit, die aus dem Kunstwerk hervorleuchtet umso größer sind, je geringer die natürlichen Gewohnheiten (beim Kunsterlebnis) sind. Wie Husserl ja zu verstehen gab, ist die phänomenologische Haltung nicht natürlich, selbstverständlich. Sie erfordert eine phänomenologische Reduktion. Dies bedeutet für uns, eine Art Abgrenzung von der „Alltaglichkeit“, die zum Regim der Naivität gehört, besonders wie diese in der „Perzeption“ der Äußerlichkeit (Körperlichkeit) zu verstehen ist.

Die Fragen, mit denen wir in diesem Kapitel konfrontiert werden, lauten: Kann die Wahrheit des Seins uns in der Erfahrung gegeben sein? Und wenn ja – auf welche Weise ist diese Erfahrung möglich? Hierzu werden wir mindestens drei Arten – die Wahrnehmung, Imagination, Mimesis (sowohl passiv und aktiv, spiegelnde und nicht spiegelnde, von außen und von innen) – erörtern, wie Kunstwerke in der Geschichte der Kunstphilosophie betrachtet wurden. Die drei Arten entsprechen für uns den drei Leibbegriffen: Körperlichkeit, Phantomleiblichkeit und Phantasieleiblichkeit. Innerhalb eines polemischen Kontextes, der die ersten zwei Arten anzweifelt und durch die revolutionäre Entdeckung der Husserlchen „perzeptiven“ Phantasia wird Richir seine eigene Position profilieren, indem er phänomenologisch demonstriert, wie eine metaphysisch verstandene Seinswahrheit in Kunstwerken als „Sache“, als „Phänomen“ erfahren werden kann.

Richir wird uns nicht nur zeigen, wie der metaphysischen Wahrheit des Seins, die jedem Kunstwerk inne ist, begegnet werden kann und so Heideggers Intuitionen zu Leben verhelfen, sondern er wird auch aufzeigen, wie die Welt, die uns durch Kunstwerke offenbart wird – außer durch eine Transposition, die sie verzerrt – nie gewesen ist und nie sein wird und so weit entfernt von unseren natürlichen Seinsarten (der Ontologie) ist. Jene „Welt“ geht über die Welt der inauthentischen Alltäglichkeit hinaus, die uns „dinghaft“ oder „köperlich“ in der Wahrnehmung vermittelt wird. Ferner reicht die Körperlichkeit nicht aus, für die Betrachtung und die Erfahrung der im Kunstwerk gegebenen Seinswahrheit. Genau in gleicher Stoßrichtung lehnt Richir die Imagination ab, als eine Weise die „Sache“, worum es bei einem Kunstwerk geht, zu erleben. Die Imagination durch die Phantomleiblichkeit führt in die „Scheinperzeption“ und kann uns daher nicht zum „Realen“ des Kunstwerkes führen. Nur anhand der „perzeptiven“ Phantasia der Leiblichkeit gelingt es uns das Ereignis der Wahrheit, die Welt des Seins, die uns ein Kunstwerk erschließen, im Geist der oben zitierten phänomenologischen Haltung Heideggers zu erleben.

Am Ende des Kapitels werde ich die Rolle der Leiblichkeit (der Phantasia und Affektivität) im Gegensatz zur Phantomleiblichkeit in unterschiedlichen Instanzen der Kust betonen. Insofern zielt das Kapitel darauf ab, die Leiblichkeit als eine Instanz der Bezeugung von Richirs These auszuweisen, gemäß der die Leiblichkeit als Grundlage der PhänomenologieFootnote 28 zu verstehen ist. Ganz am Ende werden wir eine These entwickeln, gemäß der die Partizipation als phänomenologische Haltung sowohl Heideggers als auch Richirs Intuition verständlich machen kann.

7.2 Modi zur Erfahrung der Wahrheit des Seins in Kunstwerken

Bevor wir zu Richir kommen, wollen wir kurz die schon erwähnten drei Modi, sowie deren korrenspondierende Leibbegriffe skizzieren, mit denen der Wahrheit des Seins von Kunstwerken in der Philosophiegeschichte begegnet worden ist. Es wurden die drei Methoden ausgewählt, die in die allgemeine Struktur von Richirs Phänomenlogie der Kunst passen.

7.2.1 Wahrnehmung und Körperlichkeit

Eine der frühesten Dokumetierungen, welche die Erfahrung der Wahrheit des Seins darlegt, findet sich in Platons Phaidros – artikuliert aus der Perspektive der Wahrnehmung. Nicht das metaphysische Vokabular des SeinsFootnote 29 oder des Absoluten,Footnote 30 wie Lyotard es schildert, ist hier zentral, sondern das der Schönheit. Dies impliziert eine radikale Abkehr von einer Geschichte, die Schönheit bis hierhin fast ausschließlich auf den menschlichen Körper bezogen hatte. Obwohl Platon im Phaidros nie Gebrauch vom Wort Kunst gemacht hat (Kunst war in jener Epoché nicht von anderen Handwerken zu unterscheiden, da sie – wie jede andere handwerkliche Arbeit – das Ergebnis von Techne war), wird Schönheit dort dennoch in Bezug auf das Objekt der Schönheit thematisiert, welches wir als Kunstwerk verstehen. Ein Kapitel im Phaidros verstand Schönheit im Sinne einer visuellen Erfahrung, als ein Leuchten und ein Glanz. Ein Auszug, den wir hier aufgrund der passenderen Übersetzung zunächst aus der Englischen Version zitieren, macht dies deutlich:

Beauty it was ours to see in all its brightness in those days when, amidst that happy company, we beheld with our eyes that blessed vision, ourselves in the train of Zeus [….] steadfast and blissful were the spectacles on which we gazed in the moment of final revelation; pure was the light that shone around us.Footnote 31

In der deutschen Version lesen wir:

Die Schönheit aber strahlte uns einstmals in hellem Lichte, als wir mit dem seligen Reigen in Gefolgschaft des Zeus oder anderer Götter beglückende Gesichte sahen und betrachteten und eingeweiht wurden in die Weihen, die man als die beglückendsten preisen darf, um sie zu begehen im Zustand der Vollkommenheit und Unberührtheit durch all die Übel, die für die spätere Zeit unser warteten; herantretend zu dem Geheimnis vollkommener und unverfälschter, wandelloser und seliger Erscheinungen, die sich uns enthüllen im reinen Lichte[…].Footnote 32

Die Sinne haben hier den Vorrang, was die Wahrnehmung dieses Glanzes in dem Kunstobjekt angeht, wobei die Augen hierbei von besonderem Interesse sind. Doch wenn die Augen diesen VorrangFootnote 33 genießen, den strahlenden Glanz, der aus dem Kunstobjekt leuchtet zu erblicken, dann ist dies laut Platon aus dem folgenden Grund der Fall, da „die Sehempfindung der schärfste Eindruck unter allen“ ist, „die uns durch körperliche Vermittlung“Footnote 34 zukommt. Aber was nehmen die Augen wahr: das Schöne im Kunstwerk oder die Schönheit, die es darstellt? Im Timaios dreht sich alles um die innerliche Bewegung der Körperlichkeit und die Gleichartigkeit von innerlichem und äußerlichem Licht, die im Leibkörper (Augen) miteinander verschmelzen.Footnote 35 Dies ist im Phaidros anders: Durch den bloßen Anblick des letzten Abendmahls zum Beispiel vergegenwärtigt sich die Augenseele mittels einer Art anamnesis (Erinnerung) wahre Schönheit. Die Bewegung geschieht hier von einem schönen Kunstwerk hin zur Wahrheit der Schönheit, wobei es sich bei letzterer um die Form der Schönheit handelt, die für Platon die strahlendste aller Formen ist:

Die Gerechtigkeit nun und die Mäßigung und was sonst für die Seelen schätzenswert ist, haben irdische Abbilder, die nicht glänzen und bei den schwachen Organen, mit denen wir an ihre Bilder herantreten, gelingt es nur wenigen mühsam, das Geschlecht des Abgebildeten zu betrachten.Footnote 36

Anders gesagt: Wenngleich manche Formen, wie Mäßigung und Gerechtigkeit (die moralischen Formen) als nicht wahrnehmbar erscheinen, da sie nicht von den schärfsten aller Sinne, den Augen, wahrgenommen werden können, so ist diese Unmöglichkeit niemals für die Schönheit anzunehmen, da sie durch das Medium des Gesichtssinnes erlebt wird.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Laufe der Geschichte die Augen für viele Denker einen zentralen Platz eingenommen haben. Merleau-Ponty zitiert ein Beispiel dafür:

Das Auge…, durch das unserer Reflexion die Schönheit des Universums offenbart wird, ist von solcher Vortrefflichkeit, dass jeder, der sich mit dessen Verlust abfinden muss, sich jeglichen Wissens über alle Werke der Natur berauben würde, deren Anblick die Seele dank der Augen, die ihm die unendliche Vielfalt der Schöpfung zeigen, glücklich im Gefängnis ihres Körpers leben lässt.Footnote 37

Obwohl Merleau-Ponty sich auf andere Denker bezieht, würde man ihm Unrecht tun, wenn man den Eindruck erwecken würde, er hätte sich einer reinen Physikalisierung oder Verdinglichung der Erfahrung von Kunstwerken verschrieben. In jüngster Zeit haben neue wissenschaftliche Durchbrüche die obige platonische Intuition dahingehen erweitert, dass nicht nur die Augen, sondern auch das gesamte visuelle System inklusive des Nervensystems in die ästhetische Erfahrung mit eingeschlossen sind. Es ist daher für uns von äußerster Wichtigkeit nachzuforschen, in welchem Ausmaß das visuelle System (also die Körperlichkeit) ausreicht, um Heideggers phänomenologischer Haltung Genüge zu tun, welche wir oben zum Ausdruck gebracht haben. Zuvor werden wir jedoch kursorisch einige aktuelle Forschungen zur Wahrnehmung von Kunst referieren.

Aktuelle Studien zur Betrachtung von Kunstwerken – von Wissenschaftlern, als auch von Künstlern selbst – haben versucht, die dargestellte platonische Intuition zu erforschen. Die grundlegende Motivation besteht darin zu verstehen, wie es den Augen und dem Nervensystem – wir können hier auch das Gehirn nennen –, also der Körperlichkeit gelingt, die Kunstwerke wahrzunehmen. Hier offenbart sich uns auf rätselhafte Weise, wie wir es schaffen, das Werk vor dem wir stehen zu erkennen, zu erleben. Ein neurobiologischer Ansatz bietet hierzu die bestmögliche Beschreibung: Es beginnt alles mit dem Weg des Lichts aus der uns umgebenden Welt auf unsere Netzhaut und mit den Linsen, die sich nach diesen über sie hinweg wandernden Lichtstrahlen ausrichten, um sich auf die Positionierung der Grenzen und Intensitäten aus der Umgebung einzustellen. Diese Informationen, die mittels Netzhautstimulation übermittelt wurden, müssen weiterverarbeitet werden. Es gibt hierzu einige fortschrittliche computationale Theorien (neurale ModelleFootnote 38) darüber, wie die Informationen über Bewegung, Farbe und Ausrichtung im Gehirn hinterlegt werden und wie dieses dann später zum Sehen werden. Robert Pepperells Verweis auf Experten zum Thema visueller Wahrnehmung folgend, nennen wir dies die „frühe Phase“. In diesem Stadium vermag der Betrachter laut Pepperell nur „Formen, Linien, Farben, Bewegungen, etc.“ zu sehen. Woran es ihm in dieser Anfangsphase mangelt, ist das Erkennen; es (das Betrachtete) hat keine „spezifische Bedeutung.“ Um dieser Sackgasse zu entkommen, muss eine andere kognitive Aktivität in einer zweiten Phase den Prozess abschließen, indem sie die primitiven Elementen von Formen, Linien und Umrissen (welche in den Netzhäuten und im Kortex verarbeitet werdenFootnote 39) mit – wie er es nennt – „semantischen Informationen“ versehen. Dies bedeutet, dass den Umrissen und Formen Bedeutungen zugeschrieben werden, die aus Konzepten, Erinnerungen oder früheren Erfahrungen entstehen – eine anspruchsvollere Arbeit, die unser visuelles System bewerkstelligen muss, um erkennbare Bilder aus primitiven Elementen, wie Kanten, Ecken, Kontrasten und Farben etc. zu erstellen. Ohne diese „fortgeschrittene Phase“ wäre das Erkennen dessen, was dort in einem Kunstwerk dargestellt wird, unmöglich. Pepperell führt, Martha Farah folgend, einen Moment der „visuellen Agnosie“ an und weist damit auf einen neurologischen Zustand hin, bei dem die Augen und das Gehirn der Person wahrnehmen können, ohne zu erkennen, was die Person wahrnimmt – was widerum bestätigt, dass diese beiden Phasen voneinander getrennt sind, ihre Kollaboration jedoch unabdinglich für das Sehen ist.Footnote 40 Mit anderen Worten: Die erste Phase kann auch ohne die zweite unabhängig weiter funktionieren.

Wenn die obige wissenschaftliche Beschreibung wahr ist, dann gibt uns das einen Anhaltspunkt für zwei Arten, wie man Kunstwerke in ihrem Verhältnis zu ihren inhaltlichen Objekten perzeptiv erfahren kann. Die erste würde dem visuellen Agnostizismus entstammen. Ein von dieser visuellen Agnostik Betroffener hat seine visuelle Erfahrung dokumentiert; er sah „richly elaborated but formless visual ‚stuff‘ that lacks specific recognizable objects.”Footnote 41 Die zweite wäre das genaue Gegenteil: Ein Zustand des Erkennens mit einer determinierten Wahrnehmung des Objekts. In einem Aufsatz mit dem Titel What does the brain tell us about abstract art? hat Vered Aviv diese beiden Aspekte als – wie er es bezeichnete – „the two ends of a continuum between representational art and abstract art“ untersucht.Footnote 42 Diese beiden Aspekte zeigen die Bestimmtheit und die Unbestimmtheit von Kunstwerken auf. In Neural Correlates of Beauty kamen Kawabata und Zeki – unter Zuhilfenahme der funktionalen MRT, um der Frage der verschiedenen Gehirnareale (Korrelate), die bei der Betrachtung eines schönen Gemäldes mobilisiert werden, Rechnung zu tragen – zum Ergebnisse, dass „the perception of different categories of painting [z. B. Portrait, Landschaft, Stillleben oder abstrakte Komposition, D.E.] are associated with distinct and specialized visual areas of the brain.“Footnote 43 Die verschiedenen Gemäldekategorien zeigten Aktivität in bestimmten Bereichen des Gehirns, wie den lateralen und mittleren okzipitalen Windungen innerhalb des Gyrus fusiformis, welcher bei der Gesichtserkennung eine Rolle spielt, in der Amygdala, im medialen Orbitofrontalkortex, im vorderen zingulären Kortex, dem Motorcortex usw.. Bei der abstrakten Kunst jedoch: „at the corrected level, no activity was produced by the CA (cognitive conjunction approach) of abstract versus non-abstract.“Footnote 44 Die Forscher kamen also in Bezug auf das, worum es uns hier geht, zu dem Schluss, dass es beim Betrachten schöner Stimuli bei allen Gemäldekategorien (representational art) einen relativ linearen Anstieg der Hirnaktivität gab – außer bei hässlichen Stimuli und abstrakten Gemälden.Footnote 45 Ein ähnliches Ergebnis findet sich bei Lengger et al, für die representational art mehr Assoziationen wachrufen und eine gesteigerte Aktivierung bestimmter Hirnregionen aufgrund der Objekterkennung nach sich zieht.Footnote 46 Abstrakte Kunst hingegen würde es nicht vermögen, eine bestimmte Hirnregion zu aktivieren. Mit Bezug auf Cupchik und Augustin schlussfolgerte Vered Avid, dass abstrakte Kunst über den analytischen, für Stil zuständigen Teil des Gehirns verarbeitet würde und wenig mit bildhaftem Inhalt zu tun hätte.

Die stilistische Verarbeitung von Kunstwerken würde mehr Zeit beanspruchen, da eine hohe Wahrscheinlichkeit bestünde, dass die Betrachter von Kunstwerken diese noch nie zuvor gesehen hätten und da, wie Pepperell schreibt, „unbestimmte Bilder sich sofortiger Einordnung wiedersetzen“Footnote 47 würden, während die Verarbeitung bildhafter Inhalte schnell vonstatten ginge, da die Betrachter nicht viel Zeit bräuchten, die Gegenstände, die sie ansähen, einzuordnen, weil sie diese im Laufe der Zeit bereits verinnerlicht hätten.Footnote 48 Aviv stellte – unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Taylor,Footnote 49 der das Eyetracking von Betrachtern darstellender (representational) und abstrakter Kunst (abstract art) untersucht hatte – heraus, dass die Augen der Betrachter darstellender Kunst „dazu tendieren, den Blick hauptsächlich auf die auffälligen Merkmale im Gemälde (z. B. Augen, Nase, Bäume, Unterschrift etc.) zu richten”, während sie bei abstrakter Kunst „dazu neigen, die gesamte Oberfläche der Leinwand recht gleichmäßig zu überfliegen.“Footnote 50 Mit all dem wird ein großer Bogen gespannt, um die visuelle Unbestimmtheit abstrakter Kunst als Gegensatz zur größeren Bestimmtheit darstellender Kunst zu untermauern.

Angesichts der obigen neurowissenschaftlichen Ergebnisse könnten wir dazu verleitet werden, zu denken, dass abstrakte Kunstwerke nicht objektspezifisch sind und, dass sie den Augen und Nervenbahnen daher ermöglichen, freie Assoziationen zu bilden, während darstellende Kunstwerke objektbezogen sind und die Tätigkeit der Augen dahingehend begrenzen, sich auf Objekte zu konzentrieren und daher weniger flexibel zu sein. Einige neurobiologische Studien haben jedoch auf den scheinbaren Zwang des Menschen hingewiesen, selbst in objektloser, abstrakter Kunst Objekte auszumachen. In einer dieser, in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik und der Uni Zürich durchgeführten, Studien machte Pepperell eine verblüffende Entdeckung: Einige Probanden gaben an, spezifische Objekte in Gemälden zu sehen, die in diesen überhaupt nicht vorhanden waren. Er schreibt, dass, trotz seiner wiederholten Versuche, Spuren erkennbarer Formen zu entfernen, „Probanden im Schnitt in bis zu 36 % der Fälle von ihnen bekannten Objekte berichteten (in einigen Gemälden wurden in bis zu 52 % der Fälle Objekte gesehen).”Footnote 51 Und als ob das noch nicht genug wäre, sahen Probanden in 18 % der Fälle Objekte in Werken, die man als „eine Reihe vollkommen abstrakter Malerei“ („a set of entirely abstract painting“) auffassen kann. Dementsprechend fasst die Studie zusammen: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass dieser scheinbar mühelose Prozess (des Erkennens) nicht nur bei bekannten, sondern auch bei unbestimmten Stimuli stattfindet, die keine realen Objekte beinhalten.“Footnote 52 Das Resultat ist die Hypothese, dass das Primatengehirn „ein zwanghafter Objektbetrachter ist“ („is a compulsory object viewer“), was bedeutet, dass es stark dazu „tendiert, unbestimmte Objekte in erkennbare und „kohärente Bilder“ („coherent images“) zu ordnen.Footnote 53 An den Stellen dazwischen, sprich zwischen der Unbestimmtheit und Bestimmtheit des Kunstwerks, arbeitet das Nervensystem, also die Augen und das Gehirn etc., hart daran, durch das zwangsläufige und automatische Aufzwingen von Bildern die Ratlosigkeit zu überwinden.

Wenn diese Erkenntnisse wahr wären, dann könnten wir die Betrachtung von Kunstwerken nur im Sinne von Objektwahrnehmung durch das Nervensystem begreifen. Welche phänomenologischen Folgen würde dies für die Betrachtung von Kunstwerken in der Körperlichkeit der Wahrnehmung bedeuten? Dass das Nervensystem, wie z. B. die Augen als visuelles Organ oder das Gehirn (also die Körperlichkeit) ausreichen, um dem oben von Heidegger zum Ausdruck gebrachten phänomenologischen Standpunkt Genüge zu tun? Reicht die Körperlichkeit denn aus, um dem, was im Kunstwerk gegeben ist – der Wahrheit des Seins – zu begegnen oder diese zu betrachten und zu erleben?

Ein guter Ausgangspunkt für den Versuch, auf diese Fragen zu antworten, könnte die bezeugende Erfahrung von Künstlern selbst oder im weiteren Sinne unsere eigene Erfahrung von Kunstwerken sein. Lellouche z. B. hinterfragt in seinem Bericht Art and Sciences den Unterschied zwischen dem Bild „Montagne Sainte-Victoire“, welches von Cézanne gemalt wurde und einem bloßen Foto davon; warum ersteres uns zum Träumen brächte, während letzteres nicht über ein simples Naturportrait hinausgeht: der Darstellung eines Berges. Für Lellouche fängt das Foto nicht die Essenz von Kunst ein, die „keine Darstellung der Natur auf schöne Weise ist.“Footnote 54 Es ist uns bewusst, dass einige diese Idee bestreiten. Um nur ein Beispiel zu geben, zitieren wir Edmund Burke, dem man eine Art Realismus zuschreiben kann: „But painting […] can only affect simply by the images it presents […] because the images in painting are exactly similar to those in nature.“Footnote 55 Burke steht damit nicht allein in diesem Zusammenhang. Auch in der analytischen Philosophie des Geistes wird in der Theorie der Transparenz des Bewusstseins etwas Ähnliches vertreten: Auch wenn es bei dieser Theorie viele Varianten gibt, wird gründsätzlich die Idee verteidigt, dass uns nur die Gegebenheiten durch die Objekte und nicht die intrisischen Merkmale der Erfahrung bewusst sind. Was wird einem Menschen bewusst, zum Beispiel in der Betrachtung von einem Gemälde? Harman würde schreiben, diese Person „is aware only of the intentional or relational features of her experience, not of its intrinsic non-intentional features.Footnote 56 Was also bei der Prüfung der Erfahrung übrig bleibt, sind nur die „intentionalen“ oder „relationalen“ Merkmale der Erfahrung. Die Ziele dieser Theorie kann man mit Hilfe von James Van Cleve zusammenfassen: 1) Die Theorie macht die direkte realistische Wahrnehmungstheorie möglich. Dies bedeutet, dass wir uns äußerer Dinge bewusst sind und nicht der Dinge, die in unserem Kopf vorgehen. 2) Sie macht die Welt sicher für den Materialismus. 3) Manchmal besteht das Motiv darin, eine Sichtweise der „representationalist or intentionalist view of experience“ zu ermöglichen. Nach dieser Auffassung ist der Charakter der Erfahrung durch ihren „representational or propositional content“ erschöpft.Footnote 57 Wir wollen hier nicht auf Details eingehen – dies werden wir in unserem vorletzten Kapitel tun. Es reicht zunächst zu wissen, dass diese Theorie einen Realismus vertritt. Wenn man ein Kunstwerk erlebt, nimmt man einfach nichts Anderes wahr, als „grün“, „rot“ usw. Solch einen Realismus bestreiten wir denn er scheint uns naiv zu sein. Ein Kunstwerk zu betrachten ist nicht das gleiche, wie einen Gegenstand wahrzunehmen. Wenn Kunst durch etwas anderes, als die Darstellung der Natur gekennzeichnet ist, dann gibt es einen tiefgreifenden Unterschied zwischen Kunst und bloßer Wahrnehmung, welche die Sprache der Alltäglichkeit erfasst. Was Lellouche wie viele andere Künstler und entgegen des verbreiteten Glaubens auszudrücken versuchte, war, dass Kunst sich von der Welt der Alltäglichkeit unterscheidet. Die oben von Pepperell beschriebenen Studien, denen zufolge es, was abstrakte Kunst anbelangt, eine starke Tendenz gibt, unbestimmte Objekte erkennbaren und schlüssigen Bilder zuzuordnen, sollten uns jeder Annahme einer „wahrheitsgetreuen Abbildung der Realität“ („veridical impression of reality“) gegenüber skeptisch werden lassen, auch wenn dies gleichermaßen einen biologischen VorteilFootnote 58 hinsichtlich des Überlebens haben könnte. Wenn das gesamte visuelle System diesen nicht gerade leichten Prozess durchlaufen muss (den des Aufstülpens semantischer Bedeutung eingeschlossen), damit wir in der Lage sind, Objekte zu erkennen, dann würde dies jeden Wahrnehmungsvorgang objektbezogen machen (er ist abhängig von Objekten) und es würde implizieren, dass die Objekte, die wir erkennen, nicht wahrheitsgetreu sind, in dem was wir in der Welt wahrnehmen. Wenn diese Aussage auch nur in begrenztem Ausmaß für den Wahnnehmungsprozess gilt, dann ist sie für die Betrachtung von Kunstwerken umso angemessener, denn während sicher niemand abstreiten würde, dass ein Computer hier vor mir auf dem Schreibtisch steht oder dass der Mount Everest, vor dem ich in Nepal stehe, der höchte Berg ist, den die Menschheit kennt, so würde niemand über den von Paul Cézanne gemalten Montagne Sainte-Victoire sagen, dass er eine akkurate und eindeutige Darstellung dieses Berges in Aix-en-Provence in Südfrankreich ist. Die beiden Ebenen der Realität sind nicht auf gleicher Weise da. Was verbindet die Pinselstriche, die Stilrichtungen, die Fingerfertigkeit, die Öl- und Acrylfarben, das Balsaholz und die Modelliermasse von Maler und Bildhauer mit der Realität, der Welt, die vor meinen Augen ist? Wenn Künstler angeben, dass Kunst uns kein repräsentatives Bild der Alltäglichkeit bietet, dann weil sie wissen, dass sie etwas jenseits von Realismus und WahrheitstreueFootnote 59 ausdrücken; also jenseits von dem, was durch bloße Wahrnehmung (und das bedeutet auch jenseits von dem, was durch die bloße Körperlichkeit) sofort offensichtlich wäre. Es ist dieses etwas darüber hinaus, was alle Kunstliebhaber fasziniert, wenn sie sich den Kunstwerken hingeben und sich so die Augen des Künstlers leihen. Aufgrund der obigen Überlegungen sind wir versucht, mit einer gewissen Sicherheit zu sagen, dass Künstler praktische Metaphysiker sind. Die Sicht des Künstlers über die Welt folgt nicht dem Pfad der Naivität (wie es der Realismus tun würde) des Glaubens an die Wahrnehmung. Also unterscheidet sich das Sehen des Künstlers von unserem. Er blickt nicht auf die gleiche Weise wie wir und er sieht, was wir nicht sehen, was für unsere normalen Augen unwahrnehmbar bleibt – und er fordert uns unaufhöhrlich dazu auf, in das einzutreten, was er zu „perzipieren“Footnote 60 in der Lage ist. Er fordert uns auf, über die Körperlichkeit hinauszugehen. An diesem Punkt zitieren wir detailliert Richirs Intuition im Hinblick hierauf, da wir der Meinung sind, dass er damit das, was unsere Analyse hervorhebt, auf fundiertere Weise aufgreift:

Die Lehre ist auf jeden Fall, dass ein Sehen, das nicht mit meinem Blick blinkt, ein Sehen ist, das nichts sieht, oder, was gleichbedeutend ist, ein Sehen, das im Gesehenen vergessen wird, indem es mit ihm verwechselt wird, indem es sich in ihm vergisst – und das heißt, wie sehr die physikalische Konstitution des optischen Signals durch unseren sensorisch-motorischen Apparat nicht ausreicht (obwohl dies eine notwendige Bedingung darstellt), um zu verstehen, was hier geschieht, wobei es die ganze Leiblichkeit ist, einschließlich der Stimme zum Beispiel, um die es geht.Footnote 61

Noch ist es nicht an der Zeit, uns im Detail zu dieser Passage zu äußern. Es soll genügen, in einfachen Worten zu sagen, dass die biologischen Augen in ihrer physischen und chemischen Physiologie, das heißt unser visuelles Nervensystem – welches Richir als sensomotorisches System bezeichnet hat – nicht ausreichen,Footnote 62 um zu verstehen, was in der Leiblichkeit heschieht, die für Richir, wie wir später sehen werden, eindeutig mit der Art von Erfahrung verbunden ist, die der von Kunstwerken entspricht. Diese physische Struktur des Signals trägt – wie andere Oragne auch – in Richirs Phänomenologie den Namen Körper. Fortan übersetzen wir Körper als eine Art Materialität (das genaue Gegenteil von Leiblichkeit), welche mit dem Sehen – sprich „le voirFootnote 63 – und mit der Institution spatialer Exteriorität assoziert ist und, welche keine Affektivität in sich trägt. Diese Verbindung wird in dem folgenden, zusammengefassten Satz ausgedrückt: „und durch das Sehen wird seine Körperlichkeit geformt“,Footnote 64 wo Körperlichkeit, eine Art Materialität und Exteriorität, als ein seiner Leiblichkeit beraubter Leibkörper verstanden wird.

Hier stehen zwei Realitätsebenen auf dem Spiel: Zu unserer anfänglichen Analyse, dass der Körper nicht ausreicht, um Kunstwerke zu betrachten, was Richir durch die hier rekonstruierten Überlegungen bekräftigt, fügen wir hinzu, dass der Körper selbst für die Wahrnehmung einer räumlichen Exteriorität nicht ausreichend ist (das heißt „von diesem oder jenem Ding, das heißt, damit es eine wahrnehmbare Doxa gibt, in der der materielle Körper einen Raum macht“).Footnote 65 Man findet diese letzte Variante in einer Passage der Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, wo Descartes zeigt, dass bei der Perzeption (Percipitur) im Sinne der Erkenntnis oder des Begreifens eines Wachens nicht mal das Sehen (non visio) noch das Berühren (non tactio) noch die Einbildungskraft (non imaginatio) tätig ist. Vielmehr geschieht seine Erkenntnis (eius perciptio) einzig und allein anhand einer Einsicht des Geistes (sed solius mentis inspectio)Footnote 66. Demnach erhebt die Wahrnehmung einen größeren Anspruch als nur auf das, was in der Körperlichkeit gegeben ist.

Die einfachste Motivation ist die Annahme, dass Leibkörper als Körper andere Leibkörper nicht als Körper wahrnehmen kann. Wenn ich die Blickrichtung meiner Augen in die Richtung vor mir werfe und nur auf das schaue, was dort sein könnte, sind meine Augen vielleicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtet. Die Augen selbst sind dabei verloren. Ich werde wie eine Statue. Das Seiende oder die Dinge dort stimmt bzw. stimmen mit sich selbst überein. Es oder sie verfügt bzw. verfügen über keinen Abstand. Ich selbst werde zum Dinge oder zur Statue. Ich kann nicht von dem Objekt vor mir unterschieden werden (ob es ein Vorhang oder ein Fenster oder ein Baum dahinter ist oder nicht), wenn dieses schlichte materielle Blickwerfen nicht geweckt und belebt wird. Aber wie kann mein Blickwerfen geweckt werden, wenn es keinen Abstand gibt, zwischen meinen Augen und dem Objekt vor mir? Das gleiche kann auf das Hören, das Empfinden usw. übertragen werden. Wenn die physische Konstitution optischer Signale für bloße WahrnehmungFootnote 67 unzureichend ist und wenn bloßes wahrnehmendes Sehen durch Irrealität charakterisiert ist, wie könnte es dann gleichzeitig für eine „Wahrnehmung“ von mehr als dem, was auf den ersten Blick erkennbar ist, ausreichen – also für eine „Wahrnehmung“ eines „Mehr“ (d. h. eines Überschusses“) als das, was die Augen treffen –, wie sie in der Betrachtung von Kunstwerken gegeben ist? Denn würde der körperliche Leibkörper zur Betrachtung von Kunstwerken ausreichen, dann wären wir alle einer (oder alle) der folgenden Persönlichkeiten: Leonardo Da Vinci, Vincent Van Gogh, Pablo Piccaso, Rembrandt, Cézanne, Jean-Michel Basquiat etc. Diese Idee kann auch auf Musik, Poesie und Tanz usw. ausgeweitet werden, wo wir in gleicher Weise die Hinlänglichkeit der jeweiligen Sinnesorgane ablehnen, da die Behauptung solch einer Hinlänglichkeit uns nur wieder zur gleichen Art von Naivität, wie sie oben dokumentiert ist, führen würde. Was reicht aber dann – über Dinge oder Seiende oder Alltäglichkeit hinaus – für die Betrachtung von Kunstwerken aus? Mit anderen Worten: Was muss passieren, um die Unzulänglichkeit bloßer Wahrnehmung zu ergänzen? Was würde also der phänomenologischen Haltung Genüge tun, die wir in dieser Arbeit als Bedingung sine qua non übernommen haben?

Dieser Frage werden wir uns später widmen. In der Zwischenzeit wollen wir anmerken, dass eine große Lücke dazwischen klafft, einen Gegenstand zu sehen (wahrzunehmen) oder mit dem Leibkörper zu sehen und ein Kunstwerk zu betrachten. Damit sind wir unserer Meinung nach der Beantwortung der am Anfang gestellten Fragen sehr nahe gekommen, denenzufolge es offensichtlich ist, dass das Nervensystem inklusive der Augen und des Gehirns sowohl darin unzureichend sind, der o. g. phänomenologischen Haltung gerecht zu werden, die in dieser Arbeit unser Ausgangspunkt bleiben soll, als auch darin, uns dazu zu führen, diesem etwas-darüber-hinaus, der Wahrheit des Seins,Footnote 68 zu begegnen, welche im Kunstwerk gegeben ist. Wir müssen an anderer Stelle nach einer Antwort suchen. Dies wird später deutlich werden, wenn wir uns Richirs Begriff „perzeptiver“ Phantasia anhand der Leiblichkeit widmen. Somit wird die hier artikulierte Schwierigkeit überwunden. Unter anderen werden wir zeigen, dass diese „Perzeption“ der Phantasia in sich ein Vermögen zum Abstandhalten trägt. Bevor wir dazu kommen, wenden wir uns einem anderen Modus der Erfahrung der Wahrheit des Seins in Kunstwerken zu.

7.2.2 Mimesis

Mimesis hatte in der Antike ursprünglich mit der Kunstform zu tun, bei der Schauspieler Handlungen und Affektivität etc. auf der Bühne imitierten. Ungeachtet Platons mehr oder weniger negativer Sichtweise darauf, wandte Aristoteles den Begriff der Mimesis in seiner Poetik an, um die Natur der Kunst zu beschreiben: Obwohl er an mancher Stelle Anmerkungen zu Musik und Malerei machte, befasst er sich in diesem Werk besonders mit Poesie, Komödie und Tragödie,Footnote 69 die als Höhepunkte der griechischen Kunst galten. Vielleicht lag die Prominenz der Tragödie an der Tatsache, dass sie im antiken Griechenland auch Elemente von Poesie, Musik und Bühnendarbietung enthielt. Jedes dieser Elemente unterscheidet sich in Medium, Objekt und Art der Imitation. Es war daher die Imitation, die die künstlerische (poetische) Erfahrung charakterisierte. Wie wird dies in der Poetik gerechtfertigt?

Aristoteles verfolgt den Ursprung der Poesie zurück. Es gibt hier zwei Seiten, die beide wesentlich für die menschliche Natur sind und somit sowohl den Künstler als auch den Betrachter der Kunst beeinflussen:

Im Allgemeinen scheinen es etwa zwei und zwar in der menschlichen Natur begründete Ursachen gewesen zu sein, die die Dichtkunst hervorgebracht haben. Denn das Nachahmen ist dem Menschen von Kindheit an eingepflanzt, unterscheidet er sich doch dadurch von allen anderen lebenden Wesen, daß er das am eifrigsten der Nachahmung beflissene Wesen ist, und daß er seine ersten Kenntnisse vermittelst der Nachahmung sich erwirbt. Auch die Freude aller an nachahmenden Darstellungen ist für ihn charakteristisch. Ein Beweis dafür ist, was uns bei Kunstwerken tatsächlich begegnet. Denn von denselben Gegenständen, die wir mit Unlust betrachten, sehen wir besonders sorgfältig angefertigte Abbildungen mit Wohlgefallen an, wie z. B. die Formen von ganz widerwärtigen Tieren und selbst von Leichnamen Der Grund dafür ist, daß das Lernen nicht nur für Philosophen ein Hochgenuß ist, sondern ebenso für alle anderen, wenn auch diese nur auf kurze Zeit an dieser Freude teilnehmen. Man betrachtet aber Bilder deshalb mit Vergnügen, weil bei ihrem Anblick ein Lernen, d. h. ein Schluß sich ergibt, was ein jegliches Bild vorstellt, nämlich daß dieses so und so sei. Hat man aber zufällig den betreffenden Gegenstand nicht früher schon gesehen so ist es nicht die nachahmende Darstellung als solche, die unsere Lustempfindung erregt, sondern es geschieht dies wegen der technischen Ausführung oder wegen des Kolorits oder aus irgendeinem anderen ähnlichen Grunde.Footnote 70

Wir vergleichen nun mit der englischen Version:

Poetry in general seems to have sprung from two causes, each of them lying deep in our nature. First, the instinct of imitation is implanted in man from childhood, one difference between him and other animals being that he is the most imitative of living creatures; and through imitation he learns his earlierst lessons; and no less universal is the pleasure felt in things imitated. We have evidence of this in the facts of experience. Objects which in themselves we view with pain, we delight to contemplate when reproduced with minute fidelity: such as the forms of the most subtle animals and of dead bodies. The cause of this again is, that to learn gives the liveliest pleasure, not only to philosophers but to men in general, whose capacity, however, of learning is more limited. Thus the reason why men enjoy seeing a likeness is, that in contemplating it they find themselves learning or inferring, and saying perhaps, ‘Ah that is he’. For if you happen not to have seen the original, the pleasure will be due not to the imitation as such, but to the execution, the colouring, or some such other causes.Footnote 71

Der Instinkt der Imitation und die Tatsache, dass Menschen durch Imitation lernen, sind folglich die Ursprünge der Poesie. Anders gesagt: man kann nicht von einer künstlerischen Erfahrung sprechen, ohne die Imitation zu erwähnen. Warum ist die Mimesis für Aristoteles so wichtig für die Erfahrung von Kunstwerken? Dem obigen Zitat zufolge ist dies der Fall, weil wir dadurch sowohl lernen, als auch Vergnügen daraus ziehen können. Wir können zunächst fragen, was dieses Lernen bedeutet. Dies wird klarer, sobald wir über den zweiten Aspekt, das Ziehen von Vergnügen aus der Imitation, nachdenken. Denn es wird offensichtlich, dass das, worüber man sich an imitierender Kunst erfreut, möglicherweise nicht im echten Leben „da“ ist. Tatsächlich können die betreffenden Objekte dort eher Schmerz, als Freude hervorrufen. Doch die Leistung der künstlerischen Imitation besteht hier darin, dass sie in der Lage ist, das als schön zu reproduzieren – um Kants Beschreibung zu folgen –, was im alltäglichen Sinne hässlich, mißfällig oder gefährlich wäre, wie z. B. Furien, Krankheiten, Zerstörung durch Krieg.Footnote 72 Bedeutet dies dann nicht, dass wir Vergnügen darin finden, ein Original zu imitieren, also das zu reproduzieren, was in der realen Welt gegeben ist? Folglich haben wir Freude und Vergnügen daran, die Kopien (Ähnlichkeit) zu betrachten, da sie uns zum Lernen bringen: Dadurch, dass wir sie sehen, sind wir also in der Lage, auf die Wahrheit des Seins („[D]ieser so und so sei“; „Ah, das ist er“Footnote 73) zu schließen (sie zu lernen). Anders ausgedrückt imitiert das Kunstwerk die Wahrheit des Seins und die Größe und Leistung von Künstlern, wie z. B. Homer, liegen in dieser Fähigkeit zu Imitieren. Deutlich wird das etwa, wenn Aristoteles schreibt: „Wie nun auch in Bezug auf das sittlich Gute Homer ein wirklicher Dichter war – hat er doch allein nicht nur vortrefflich gedichtet, sondern auch dramatische Handlungen dargestellt.“Footnote 74 Die englische Übersetzung hebt jedoch die hier gemeinte Dichtung hervor und übersetzt sie mit „excellence of imitation“: „As, in the serious style, Homer is pre-eminent among poets, for he alone combined dramatic form with excellence of imitation.Footnote 75

Hier wird die starke Verbindung zwischen Kunst und Metaphysik sichtbar, die die Wahrheit des Seins belegt. In einer berühmten Passage, in der er den Poeten vom Historiker unterscheidet, lässt Aristoteles diese Verbindung noch deutlicher zutage treten. Die Abgrenzung wird gewissermaßen jeweils durch den Unterschied zwischen Virtualität und Realismus, zwischen Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit, zwischen Allgemeinheit und Einzelheit verdeutlicht:

Aus dem Gesagten erhellt, daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist das, was sich wirklich zugetragen zu erzählen, sondern das, was sich hätte zutragen können und was nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit möglich ist. Der Geschichtsschreiber und der Dichter (1451b) unterscheiden sich nämlich nicht durch die gebundene oder ungebundene Rede, denn man könnte das Werk des Herodot in Verse setzen und es würde nach wie vor eine Art Geschichtsdarstellung sein, mit Versmaß oder ohne Verse. Der Unterschied ist vielmehr der, daß jener, was sich zugetragen darstellt, dieser, was sich hätte zutragen können. Deshalb ist auch die Poesie philosophischer und höher einzuschätzen als die Geschichtsschreibung denn die Poesie stellt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung das Einzelne dar. Das Allgemeine besteht darin, daß dem so oder so Beschaffenen es zukommt, so oder so nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zu reden oder zu handeln und darauf richtet die Dichtkunst bei der Namengebung ihr Augenmerk, das Einzelne ist aber, was ein Alkibiades getan oder erlitten hat.Footnote 76

Wir vergleichen dies nun mit der englischen Version:

It is, moreover, evident from what has been said, that it is is not the function of the poet to relate what has happened, but what may happen – what is possible according to the law of probability and necessity. The poet and the historian differ not by writing in verse or in prose. The work of Herodotus might be put into verse, and it would still be a species of history, with metre no less than without it. The true difference is that one relates what has happened, the other what may happen. Poetry, therefore, is a more philosophical and a higher thing than history: for poetry tends to express the universal, history the particular. By the universal I mean how a person of a certain type will on occasion speak or act, according to the law of probability or necessity; and it is this universality at which poetry aims in the names she attaches to the personages.Footnote 77

Dass Poesie nicht über die Lebensereignisse Reschenschaft ablegt, die z. B. im Herbst 2019 in Wuhan zum Coronavirus-Ausbruch geführt haben, sondern über die metaphysische Wahrheit von Möglichkeiten, also von Wahrheiten, die in irgendeiner Welt (Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit) und in jeder Welt (Notwendigkeit) sein könnten, unterstreicht ihre Fähigkeit zu verallgemeinern. Diese metaphysische Dimension zeigt das Vermögen von Poesie (Kunst) auf, Verbindungen zwischen Welten herzustellen: Einer realen und einer möglichen und dadurch die eine repräsentierend, als ob es die andere wäre; das bedeutet, eine mögliche (wahrscheinliche) Welt zu imitieren, was ein Gefühl von Echtheit (Notwendigkeit) erweckt. Doch poetische Repräsentationen unterscheiden sich von Präsentationen des echten Lebens, wie z. B. in der Politik,Footnote 78 da beide Welten sich sowohl hinsichlich ihrer Ziele, als auch ihrer Natur unterscheiden. Die charakteristische Präsentation des realen Lebens liegt in ihrer nackten, alltäglichen authentischen Originalität, in der Tatsache, dass sie keine Imitation von etwas Anderem ist, wie es bei Kunstwerken, etwa tragischer Poesie, der Fall ist. Ein Zitat dürfte dies abschließend verdeutlichen:

Da nun die Tragödie eine nachahmende Darstellung besserer Menschen, als wir es zu sein pflegen, ist, so muß man die guten Portraitmaler als nachzuahmendes Vorbild nehmen. Indem nämlich diese ihren Personen zwar die ihnen eigentümliche Gestalt verleihen und sie demgemäß ähnlich bilden, malen sie sie dennoch schöner.Footnote 79

Auch die englische Version ist aussagekräftig:

Again, since Tragedy is an imitation of person who are above the common level, the example of good portrait-painters should be followed. They, while reproducing the distinctive form of the original, make a likeness which is true to life and yet more beautiful.Footnote 80

Wenn die Ähnlichkeit dem Leben nicht widerspricht, das heißt, wenn sie dem Leben entspricht, aber nicht genau so ist, wie dieses (eine wahrscheinliche Welt) Leben, da sie schöner ist, als das Leben, dann wird dieser grundlegende Unterschied zum Leben (einer notwendigen Welt) deutlich. Und wenn die Imitation eines Poeten oder Malers nur darauf abzielt, die Essenz des Originals zu reproduzieren, sollen wir diese Reproduktion dann nicht als Produktion einer „Kopie“ (Abbild) bezeichnen und sollen wir über diese „Kopie“ (im Sinne von Abbild, das etwas vermittelt) nicht sagen, dass sie Realität und Irrealität überspannt und sie damit zumindest von einer Art Irrealität bedroht ist?

Bevor wir diese Frage auf die Richir eigene Weise untersuchen und beantworten, wenden wir uns zunächst kurz Kants Ausführungen unter dem Titel „Schöne Kunst ist Kunst des Genies“Footnote 81 zu, wo die aristotelische Vorstellung von Original und Ähnlichkeit auftaucht. Eine erste wichtige Anmerkung ist die Idee in Absatz 45, in dem die schöne Kunst insofern als Kunst verstanden wird, als dass sie erscheint wie die Natur. Folglich muss ihre Zweckmäßigkeit – obwohl man sich der Tatsache bewusst sein muss, dass es ein Kunstwerk ist – trotzdem frei von allen willkürlichen Regeln sein, sodass sie aussehen muss, als ob sie die Natur selbst wäre. Wenden wir uns Absatz 46 zu, so wird deutlich, dass das Talent des Genies mit der Natur (Naturgabe) korrespondiert; und dieses natürliche Talent gibt seiner Kunst – als Produkt der angeborenen Fähigkeiten des Künstlers – Regeln. Da die schönen Künste sich keine eigenen Regeln ausdenken können, nach denen ihre Produkte geschaffen werden müssen, sind sie komplett von den Regeln abhängig, die dem Subjekt der Kunst von der Natur gegeben wurden. Dadurch kann nur das Genie der Autor schöner Künste sein. Und hieraus folgt, dass „Originalität“ das bestimmende Charaktermerkmal des natürlichen Talents des Genies ist. Zudem bleiben diese Regeln unkommunizierbar, wenn es darum geht, sie anderen auf wissenschftliche oder konzeptuelle Weise zum Lernen zugänglich zu machen. Ungeachtet des originellen Charakters des Kunstwerks, der nicht irgendeiner Art von Imitation entstiegen ist und nicht auf die Weise gelernt werden kann, wie Newton in Bezug auf die Gesetze der natürlichen Philosophie unterrichtet wurde, sodass das Talent im Genie seine Grenze erreicht hat, so kann dieses Genie doch als Maßstab nicht nur für die Beurteilung anderer Kunstwerke dienen, sondern auch dazu, dass diese ihn, also den Maßstab, imitieren: „[D]ie Regel muss von der Tat, d. h. vom Produkt abstrahiert werden, an welchem andere ihr eigenes Talent prüfen mögen, um sich jenes zum Muster nicht der Nachahmung dienen zu lassen.“Footnote 82

In der englischen Version:

Rather the rule must be abstracted from what the artist has done, i.e. from the product, which others may use to test their own talent, letting it serve them as their model, not to be copied [Nachmachung] but to be imitated [Nachahmung].Footnote 83

Kant scheint der Reproduktion des Originals durch Imitation als Kopie aus gutem Grund jegliche Wirkung abgesprochen zu haben, wie es bei Aristoteles der Fall ist. Die Vermittlungsfunktion einer Kopie (eines Abbilds) des Originals durch die Imitation wird als Modell im Falle eines Genies absolut abgelehnt. Wie sollen wir die Imitation von Kunstwerken also einordnen? Sollen wir ihr die Reproduktion einer Kopie (im Sinne eines Abbildes) zugestehen (Aristoteles) oder sollen wir ihr die Notwendigkeit einer Kopie aberkennen (Kant)? Was wäre in beiden Fällen unsere Begründung, dies zu tun? Es ist Richirs Verdienst, gezeigt zu haben, dass Mimesis eine Kopie beinhalten kann oder nicht. Wir werden später darauf zurückkommen, wann dies nicht der Fall ist. Wenn sie es jedoch tut, dann ist dies ein Fall von spiegelnder Mimesis (also bildlich), die der Medialität eines ObjektsFootnote 84 bedarf, welches von einem Phantomleib erschlossen wird. Dabei ist ein spezielles Vermögen im Spiel: Die Imagination, der wir uns nun zuwenden werden.

7.2.3 Die Imagination und die Phantomleiblichkeit

Stellen wir uns vor, als Schauspieler die Persönlichkeit oder die Hauptfigur von Okwonkwo aus Chinua Achebes Things Fall Apart in einer Theatervorführung wiederzugeben oder auch nur zu versuchen, Cézannes künstlerischen Stil nachzuahmen, dessen Leistung uns den Atem geraubt hat. In solchen Momenten erfasst man das gesamte Ereignis der künstlerischen Leistung. Im Gegensatz zu dem, was viele möglicherweise einer reinen Erinnerungsleistung zuschreiben würden, behauptet Richir, der sich hier auf Husserls „Bildbewusstsein“ in Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung bezieht, dass die Imagination – weit entfernt von einem rein weltlichen oder anderen philosophischen Verständnissen (z. B. bei KantFootnote 85 als Einbildungskraft) – das eigentliche innere Erfassen einer künstlerischen Erfahrung, wann auch immer sie es versucht, mittels eines intentionalen Aktes transponieren (umsetzen) kann (hierauf werden wir im nächsten Teil zurückkommen), um ein Objekt anzuzielen, welches nicht in Fleisch und Blut dort ist, wie dieser Laptop vor mir ist. Einerseits ist dort ein (abwesendes) Objekt, welches angezielt wird; andererseits ist das Objekt da. Ersteres bezeichnet Husserl als Bildsujet und Letzteres als Bildobjekt: dieses ist die Kopie oder der Träger oder das Medium, durch welches das Bildsujet zugegen ist, auch wenn es dies durch einen intentionalen Imaginationsakt ist, der intuitiv repräsentiert. Man erkennt die Beziehung zwischen den beiden: Während das Abwesende (das Original) durch einen Träger präsent ist, ist der Träger auf die physische Unterstützung des Abwesenden angewiesen. Tatsächlich scheint der Träger in der realen und notwendigen Welt keine individuelle Autonomie zu besitzen. Dadurch tun sich die folgenden Fragen auf: Was könnte der Status eines solchen Objektes sein, welches nicht der realen Welt entspricht, aber als Träger oder Kopie präsent ist? Könnte es die Wahrheit des Seins ausdrücken, die das Kunstwerk offenbart? Und hätte dies keine Konsequenzen für das Kunsterlebnis?

Einerseits existiert das Bildobjekt und andererseits nicht; die Imagination zeigt: Dies ist das von Richir mit folgender Formulierung aufgezeigte Paradox: „Kurz gesagt existiert es nur („funktioniert“ nur), wenn es nicht exisitert und existiert nicht (als Sein oder Objekt), wenn es exisitert (durch den Fehler der Vergegenständlichung lediglich „in Gedanken“)“.Footnote 86 Wenn das imaginäre Bild weder als Sein, noch als Objekt (Körper) existiert, als was exisitert es dann, wenn nicht als Illusion (eingefangen durch ein „Simulacrum“) oder „perzeptive“ Erscheinung („apparence perceptive“)? Das heißt zwischen dem Subjekt des imaginativen Aktes und dem Objekt, welches von der imaginativen Intentionalität angezielt wird, gibt es nichts, was entweder Sein oder einer realen Sache, die in der materiellen Welt exisitert, entspricht. Dementsprechend ist man nicht in der Lage, darin die „Persönlichkeit“ („personage“) von Okwonkwo in der Theaterdarstellung zu erfassen; wir können niemals eine Landschaft, wie den Montagne Sainte-Victorie in Cézannes Gemälde erblicken. Für Richir sind die „Persönlichkeiten“ oder die Landschaft, wenn sie im intentionalen Akt der Imagination präsent sind, nicht „in Präsenz in der Welt.“Footnote 87 Das Gegenteil wäre irreführend wie die Spiegelanologie, wenn „jemand“ annehmen würde, dass eine Kopie seines Leibkörpers im Spiegel als sein leibhaftiger Leibkörper angesehen wird, der wirklich von Kopf bis Fuß hinter dem Spiegel vorhanden ist:Footnote 88 Umgekehrt würde es – wie die Spiegel-Analogie zeigt – dort in die Irre führen, wo eine Kopie meines Leibkörpers im Spiegel für meinen leibhaftigen, tatsächlich von Kopf bis Fuß hinter dem Spiegel präsenten Leibkörper gehalten wird:Footnote 89 In der Realität gibt es hinter dem Spiegel keine Person, keine Bewohnung (habitation) oder irgendeinen Leibkörper. In einem polemischen Kontext, der die Institution des Leibkörpers (als individueller Körper verstanden) mittels des Spiegels grundlegend in Frage stellt, erkennt Richir dem Spiegel jegliche Rolle bei der Konstitution (wenn er überhaupt jemals etwas macht, dann anonymisiertFootnote 90 er) des phänomenologischen Subjekts ab:

Zu sagen, dass ich es selbst bin und nicht nur die sichtbare Seite meines Körpers, bedeutet, zur Spaltung des Imaginären zu wechseln, mit dem eigenen Bild verwechselt zu werden, das „falsche Selbst”“als sich selbst zu begreifen, was, präzise, vollständig zum Objekt (das Bildsujet) geworden wäre und (man) würde fortan vollständig in diesem „Phantom“ seines Selbst nicht lokalisiert werden bis zu dem Punkt, Affektivität dadurch zu absorbieren, sie zu atmosphärisieren – und in dieser spiegelnden Mimesis, die eine reale Spaltung des Selbst erzwingt, sind wir nicht weit von der Pathologie entfernt. Der Spiegel sollte daher nicht dazu da sein, um die bereits gegründete Integrität des Leibkörpers zu belegen, sowie auch die Ipseität, die ihm innewohnt, sondern er sollte eher eine „anonymisierende“ Funktion, als eine individualisierende Funktion haben; eine Funktion, die mich mit dieser Puppe meiner selbst in Verbindung setzt, die ich durch den Spiegel sehe, da diese sich teuflisch zu arrangieren scheint, um all meine Gesten und all meine Gesichtsausdrücke unmittelbar widerzuspiegeln und damit mich der Nichtdarstellbarkeit der Leiblichkeit zu berauben, die mein Leben ausmacht.Footnote 91

Ohne diese Passage über den Spiegel ausführlich zu kommentieren, bekommen wir dadurch doch eine bessere Vorstellung vom Begriff des Simulacrum: Es befördert einen nur in eine Phantomwelt, eine Pseudo-Welt unechter Identität. Hieraus könnten wir verstehen, wie die Mimesis durch Intentionalität von Richir als spiegelnd (spiegelartig) und vom Außen her gekennzeichnet wurde. Auf genau diese Weise versucht man als Schauspieler z. B., die Persönlichkeit oder die Hauptfigur „Okwonkwo“ von Things Fall Apart intuitiv zu interpretieren. Man wird sozusagen zur intuitiven Darstellung oder Vermittlung („Kopie“) eines Objekts, in der realen Welt geführt, das intentional als Okwonko (Original) angezielt werden würde. Wenn ein schlechter Schauspieler seine Rolle mechanisch ausführt oder wenn er die Struktur seines Phantasmas narzisstisch in die von ihm gespielte Figur (in diesem Fall Okwonko) projeziert, so führt dies den Zuschauer dazu, sich die Figur vorzustellen, die vermittelt wird. Wir als Zuschauer könnten dann in die Irre geführt und dazu gebracht werden, uns mit der narzisstischen Darstellungen des Schauspielers zu identifizieren – in der Imagination oder mit der anschaulichen Darstellung der gegebenen Figur; am Ende schreibt Richir über den Zuschauer: „er wird in der Figur nur seine eigene phantasmatische Projektion sehen – die Vorstellung im Theater wird spiegelnd.“Footnote 92 Anstatt also zur Erschließung von Okwonkwos Welt zu führen und eine intime Begegnung mit ihm auszulösen, ist die eigene phantasmatische Projektion des Schauspielers ein klassisches Beispiel für eine spiegelnde Mimesis.

Nachdem wir den Status der irrealen Kopie (das Medium oder der Träger) als Simulacrum festgelegt und ihm jegliche Korrespondenz mit Sein und Welt abgesprochen haben, ist es notwendig, einige andere Konsequenzen dieser simulacrummäßigen Mimesis aufzuzeigen: Sie vermag es, den Leib und die primordiale Leiblichkeit in den Phantomleib und die Phantomleiblichkeit zu atmosphärisieren. Die Idee vom Phantomleib, der lediglich nicht sagt, dass es ihm an Leib mangelt, unterstreicht auch die Tatsache, dass ein Simulacrum in der räumlichen Welt als materieller Körper weder lokalisiert ist, noch lokalisiert werden kann. Bei der Imagination sieht der Phantomleib daher nichts, was in der Welt ist, was bedeutet, dass die Imagination eine Form der Wahrnehmung („perzeptive“ Erscheinung) ist. Und eines der Hauptdefizite dieser imaginativen Wahrnehmung ist, dass es keine inhärente Kapazität hat, zu kommunizieren (oder auszutauschen), da das, was die „perzeptive“ Imagination sich zusammenreimt, inhärent solipsistisch bleibt, denn es hat nichts mit der Wahrheit des Seins und der realen Welt zu tun, während der Solipsist selbst kein phänomenologisches Subjekt mehr ist. Der Leib wurde schon verdunstet. Der Phantomleib erzeugt also eine spiegelartige Mimesis von außen und atmosphärisiert das phänomenologische Subjekt für die Betrachtung von Kunstwerken, wodurch wir nun verstehen, warum Mimesis von Kunstwerken durch Kopien oder Bilder inadäquat, irreführend und insuffizient bleibt.

Was würde also dann über die Begriffe von Phantomen und Simulacra hinaus phänomenologisch ausreichend für die Betrachtung von Kunstwerken sein? Anders ausgedrückt: Was muss passieren, um die Insuffizienz passiver, spiegelartiger Mimesis von außen zu beheben? Sprich was würde die phänomenologische Haltung befriedigen, die wir in dieser Arbeit als conditio sine qua non eingeführt haben?

7.3 Die „perzipierte“ „Sache“ der „perzeptiven“ Phantasia

Ohne Richirs gesamte Auseinandersetzung mit Husserls Phantasia, Bildbewusstsein, Erinnerung zu wiederholen,Footnote 93 aus der heraus Richir eine neue Entdeckung macht (die Phantasia), entnehmen wir daraus nur das hier für uns Wichtigste. Ohne Details einiger ihrer Eigenschaften zu behandeln – dass sie wie ein aufflackernder Blitz unregelmäßig und nicht kontinuierlich (blitzhaft) erscheint und wieder verschwindet, dass sie proteusartig und meist nicht gegenwärtig ist – wie sie sich bei Husserl zeigen, soll es ausreichen zu erwähnen, dass Richir der Phantasia, die Husserl „schlicht“ nennt und der er oft ein Bildobjekt zugeschrieben hat, eine Intentionalität verweigert. Für Richir wird diese schlichte Phantasia zur Phantasia als solcher.Footnote 94 Doch daraus kann Intentionalität entstehen, aus einer architektonischen TranspositionFootnote 95 heraus, die eine prä-intentionale Phantasia zur Imagination umsetzt (transformiertFootnote 96), welche von Intentionalität erfüllt ist. Im Falle der Phantasia als solcher geht es nicht um eine Temporalisierung in der Gegenwart (présent), sondern um eine andere Art von Temporalisierung, die in der Präsenz (présence), aber ohne Gegenwart ist. Richir führt weiter aus, dass die Phantasia aufgrund ihrer proteusartigen Natur, welche sie nicht anschaulich, nebulös, sich-im-Innern-ständig-verändernd macht, kein intentionales Objekt repräsentieren kann. Deshalb ist sie nicht positionell (nicht intentional) und kann daher nicht die Position eines Objektes – ob 1) die eines Wahrnehmungsobjekts in der Welt oder 2) die der Imagination, wie bereits erwähnt, die den Charakter einer Intentionalität mit Bezug zu einem angestrebten Objekt hat – durch eine Vermittlung (wie die Vermittlung eines Bildes) übernehmen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass das Wahrnehmungsobjekt der symbolischen Tautologie bzw. ZirkularitätFootnote 97 und die Imagination einer trügerischen Illusion entspricht. Dies wirft die Frage auf, was die Phantasia überhaupt „perzipiert“, wenn sie also keine intentionalen Objekte „perzipiert“.Footnote 98

Für Richir evoziert dies den Begriff der „perzeptiven“ Phantasia,Footnote 99 um diese Frage zu beantworten. Die „Perzeption“ läuft in der Phantasia ab und gehört einer anderen Gattung an, als die der Wahrnehmung (und Imagination), da „die Körperlichkeit“ (Dinglichkeit im Sinne einer rohen Entität in der Exteriorität) in ihr neutralisiert ist: Wenn wir dementsprechend von der Neutralisation der „Körperlichkeit“ (des Dings) in der Phantasia sprechen, dann setzt das Richirs Ansicht nach ein Figurieren („une figuration“) von etwas voraus, wenngleich auch nicht des Genres der Wahrnehmung; doch da das Ding an sich neutralisiert ist, weil es weder als Entität noch als Bild „perzipiert“ wird, „perzipiert“ die Phantasia das Unfigurierbare („l’infigurable“) oder das „Reale“; folglich ist das in der „perzeptiven“ Phantasia „perzeptierte“ „Reale“, wenn es weder eine Entität (keine Körperlichkeit), noch ein Bild (keine Phantomleiblichkeit) ist, im Übergang und überspannt das eine, wie auch das andere. Winnicotts Vorstellung eines Übergangsraums folgend, postuliert Richir diesbezüglich, dass das Etwas (wir nennen es das Übergangsobjekt), welches in der „perzeptiven“ Phantasia „figuriert“ wird, sich im Übergang befindet, also zwischen dem Figurierbaren und dem Unfigurierbaren,Footnote 100 und dass es weder eine Entität, noch ein Bild ist. Wie ist solch einen Übergang aber denkbar? Die Antwort ist eine einfache und sie ist der Kernbegriff unserer These: durch den „originären Abstand.“Footnote 101 Ohne solch einen Abstand wäre die Infragestellung Richirs aller Positivität oder Objektivierung nicht möglich, wie wir unten sehen werden. Ferner wäre auch ohne ihn keine Reflexivität möglich, durch die die leibliche Kinäesthesie die Bildung des ästhetischen Sinns belebt. In den folgenden Abschnitten wird dieser Abstand herausgearbeitet. Vergessen wir dabei nicht, dass dieser Abstand und die Reflexivität auf den leiblichen Überschuss bezogen sind.

Richir denkt, dass in den unterschiedlichen Kunstbereichen – zum Beispiel Malerei, Musik, Poesie etc. – ein „Objekt“ „perzipiert“ wird, jedoch als übergangsweises, als Übergangsobjekt. Das Übergangsobjekt, in dem Fall etwa eines Gemäldes, wäre das imaginäre „Bildsujet“, getragen vom „Bildobjekt“ (dies setzt in diesem Sinne kein Simulacrum voraus, sondern das, was bei der Betrachtung von visueller Kunst unmittelbar vermittelt wird), welches selbst von der körperlichen Unterstützung getragen wird; in der Musik hat das Übergangsobjekt mit Tönen zu tun, die von Stimmen oder Instrumenten ausgestoßen werden; in einem Roman ist es ein „Bildsujet“, das in der Erzählung dargestellt wird; in Gedichten sind es mehr oder weniger die Elemente, welche die Referenzen der Sprache darstellen, die von den Worten dargelegt wurden.Footnote 102 Dies ist der Grund, warum Richir das Übergangsobjekt als den figurierbaren Teil der Perzeptivität“ der Phantasia versteht, die, Winnicott folgend, im Übergangsraum ist. Das ist ein rein virtuellerFootnote 103 Raum ohne Regeln. Dies erlaubt es Richir zu behaupten, dass die paradoxe Verbindung zwischen dem Figurierbaren und dem Nichtfigurierbaren (Abstand) in der „perzeptiven“ Phantasia nicht-intentional ist; wäre es eine intentionale Beziehung, dann wäre es nur eine der Wahrnehmung oder Imagination in Bezug auf ihre entsprechenden Objekte – das Übergangsobjekt dahingegen ist nicht dazu in der Lage, sich intentional mit dem zu verbinden, was es als unfigurierbar eröffnet; aus diesem Grund ist es daher offensichtlich, dass nichts in dieser Struktur oder Verbindung positionell oder empfänglich für ontologische Identifikation (die „alltägliche“ oder wahrheitstreue Welt z. B., die Kunst uns eröffnet) ist. Wenn die Beziehung, die zwischen dem Figurierbaren des Übergangsobjekts und dem Nichtfigurierbaren in der Phantasia besteht – das Figurierbare (das „Perzeptive“) und das Unfigurierbare bzw. Nichtfigurierbare (als das Phantastische) werden in der „perzeptiven“ Phantasia erfasst – weder durch Intentionalität, noch durch Ontologie gekennzeichnet ist, lässt uns das nicht an unserer Bemühung verzweifeln, zu verstehen, was hier passiert? Worunter sollen wir dann die phänomenologische Natur dessen, was dort „perzipiert“ wird, verstehen?

In dieser Hinsicht beschwichtigt Richir unsere Bedenken. Das Problem entsteht vermutlich aus unserer falschen Annahme, dass das „Übergangsobjekt“ ein bestimmtes Objekt (Körper, Ding) ist, welches auf eine Art wahrgenommen wird. Nein, es geht hier nicht um Wahrnehmung, denn das, was „perzipiert“ wird, ist eine Art Schein-Perzeption. Wenn Richir folglich von „Perzeption“ spricht, dann impliziert dies nicht, dass diese oder jene Entität wirklich wahrgenommen wird; was immer „perzipiert“ wird, ist im Übergang, jedoch nicht als konkretes Objekt. Um die Natur dessen, was hier „perzipiert“ wird jenseits von seiner Ähnlichkeit zu erklären, findet Richir zu einem neuen Vokabular, welches das charakterisiert, was im Übergangsbereich der „perzeptiven“ Phantasia „perzipiert“ wird: „Sache“,Footnote 104 ein deutsches Wort, ohne adäquate französische oder englische Übersetzung. Und genau diese „Sache“ verhindert, dass wir ein Objekt als solches wahrnehmen. Sie macht die Figuration, das Infigurierbare, welches gleichzeitig impliziert ist, möglich. Einfach ausgedrückt wird das, was im Kunstwerk „perzipiert“ wird, in der „perzeptiven“ „Phantasia“ als „Sache“ „perzipiert“ und ist dabei weder eine Darstellung (Figuration) noch eine Nichtdarstellung (Infiguration), sondern zwischen beiden: Der Abstand erlaubt es der Sache, in dieser Zwischenwelt der Darstellung und Nichtdarstellung zu schweben. Damit ist das, was im Kunstwerk „perzipiert“ wird, im Übergang zwischen der Realität (Körperlichkeit) und der Phantasia (Körperlosigkeit, d. h. Leiblichkeit). Das „Perzipierte“ des Übergangsraums ist aber nicht lokalisierbar in Wahrnehmungsobjekten und Objekten der Imagination als solchen. Das heißt, es ist weder als reales Objekt noch als Phantom zu verstehen. Wir können offensichtlich feststellen, dass die „Sache“ in einem Bereich der Unbestimmtheit liegt; in einem Raum, der einen Beigeschmack von Unbefriedigung (Unzufriedenheit) hinterlässt. Richir schreibt, dass dieser unbestimmte Rapport von Figuration und Infiguration, in dem die „Sache“ liegt, „in jedem Fall das ist, dem wir in künstlerischer Kreativität und in künstlerischen Rezeptionen begegnen.“Footnote 105 Der Abstand eröffnet die Welt der Zwischenwelt für die „Sache“ und hält darin alles zusammen.

Welche phänomenologischen Implikationen hat dies für uns, besonders für unsere Frage am Anfang dieser Untersuchung, wie die Wahrheit des Seins uns im Kunstwerk gegeben wird? Wir versuchen, dies im folgenden Abschnitt zu beantworten, mit dem Blick darauf, letztendlich zu zeigen, wie der in diesem Ausdruck vorausgesetzte metaphysische Standpunkt in einem phänomenologischen Standpunkt neutralisiert und aufgelöst werden kann. Dabei wird auch gezeigt, wie der phänomenologische Standpunkt uns einen Zugang zur Wahrheit des Seins von Kunstwerken ermöglicht. Dieser Standpunkt wird durch eine komplett neue Form der Mimesis konkretisiert, die weder spiegelnd (Imagination) noch von außen (Wahrnehmung) kommend ist.

7.3.1 Mimesis der „Sache“ in der Phantasieleiblichkeit als „Phänomen“

Aus der obigen Erkenntnis, dass die Wahrheit des Seins von einem phänomenologischen Standpunkt weder als Entität, die ich als dieses oder jenes identifizieren kann, noch als Phantom gegeben ist – welches eine Kopie eines irrealen oder realenFootnote 106 „Dies“ oder „Jenes“ ist – , sondern als eine „Sache“, die daraus folgend weder eine Realität, noch eine Irrealität, sondern eine „Konkretheit“ (concretude) ist, können mehrere Konsequenzen gezogen werden. Diese „Sache“ ist dazu in der Lage, etwas zu fassen. Während sie die „Washeit“ eines Etwas gar nicht in der Positionalität erfasst, können mehrere Konsequenzen dabei gezogen werden. Da es klar ist, dass die „Sache“ weder eine Realität, noch eine Irrealität ist, können wir zunächst fragen: Was ist denn dann ihr Status – eine für die Imagination geltende reine Möglichkeit oder eine reale Möglichkeit, wie im Falle der Erinnerung?Footnote 107 Richir beschreibt diese Sache als weit davon entfernt, eine Realität (die jetzt ist), noch eine mögliche Realität (die werden oder sein könnte), noch eine Realität, die einmal war (in der Erinnerung könnte sie jederzeit abgerufen werden), zu sein, sondern als „rein virtuell“. Darunter versteht er das, was – dies ist auch mit dem Begriff der Virtualität in der Quantenmechanik vergleichbar – keine geringeren realen Auswirkungen auf das phänomenologische Feld hat, auch wenn es nicht vorhanden ist oder wenn es nicht mit dem Aktuellen vermittels der Voreingenommenheit des Potenzialen verbunden ist“.Footnote 108 Man kann auch das Virtuelle wirklich erleben, auch wenn es nicht ist und nie sein wird. Das Virtuelle ist in diesem Sinne wie eine „unmögliche Möglichkeit“, die die Pole dessen, was derzeitig gegenwärtig ist, zerschmettert, obwohl es selbst nicht derzeitig gegewärtig ist. Ein Kunstwerk zu betrachten ist nicht dasselbe, wie in der Realität oder der Irrealität zu sein. Aber es impliziert eine praktisch nicht-präsente Wahrheit des Seins, eine „Sache“ zu erleben, die ein Kunstwerk durchdringt und deren Effekt so real ist, wie der eines wahrhaft Vorhandenen. Es eröffnet diese Welt, die, obwohl sie nicht hier mir präsent oder gegenwärtig ist, die aber gleichwohl ein Horizont der Offenbarung ist, der mir viel mitzuteilen hat. Heideggers Irrtum ist es unseres Erachtens nämlich, inzeniert zu haben, dass die Welt der Bäuerin in der Darstellung der Schuhe vorhanden wäre. Das ist der Grund, warum Sassen ihm vorgeworfen hat, „the use of the painting“ missbraucht zu haben: „it is an abuse because the peasant woman is not evident in the painting“.Footnote 109 Mit anderen Worten, was der Schuh der Bäuerin offenbart, ist keine gegenwärtige wahrheitsgetreue Welt. Eröffnet es eine Welt der Bäuerin, dann nur virtuell.

Zweitens können wir festhalten, dass die „Sache“ – wir haben dies in einem phänomenologischen Rahmen als „die sogennante metaphysiche Wahrheit des Seins“ verstanden – in einem Bereich der Unbestimmbarkeit dank des Abstands liegt. Dies spiegelt das Wesen von Kunstwerken als jenes, welches soziohistorischen und kulturellen Kodifizierungen entkommt:

Es ist so, dass auf diese Weise die Essenz der Kunst nicht in dem liegt, was unter sozio-historisch kultureller Analyse fällt – die Analyse von Codes – , sondern genau in dem, was radikal davor flieht, in dem, was diese überschreitet, indem es sie auf unerwartete und originäre Weise modifiziert, in dem, was sie, folglich, zur Schieflage des Phänomens als nichts Anderem als eines Phänomens macht.Footnote 110

Wenn Kunst zu uns spricht, dann tut sie dies durch diese Essenz, die die Codes übertrifft – und wenn die CodesFootnote 111 übertroffen werden, dann genau darum, weil etwas an den Codes beim Künstler ein Gefühl der Unzufriedenheit (Unbefriedigung) hinterlässt. Während das Regime der Wahrnehmung eines von Entitäten, also einer Gegenwart ist, ist das der Kunst das einer „Sache“, also von Abwesenheit, die unsere natürliche Einstellung überschreitet und sie in Frage stellt. Und genau diese schwer fassbaren, „unbefriedigenden“Footnote 112 Gefühle versuchen Kunstwerke ihren Empfängern, also Publikum und Zuschauern etc., zu übermitteln. Da all dies die Essenz der Kunst auf gewisse Weise schwer definierbar macht und sie (durch eine phänomenologische Reduktion und Epoché) auf das absolute Minimum des Offensichtlichen reduziert (denn anstelle einer Gegenwärtigkeit, die ist, haben wir eine Abwesenheit, die gegenwärtig ist – das Offensichtliche –), versteht Richir die Essenz der Kunst, also die „Sache“, als nichts anderes, als ein Phänomen. Dies ergibt viel Sinn, wenn wir verstehen, dass das Phänomen, was auch als die Erscheinung gelten kann, selbst nicht auf das reduzierbarFootnote 113 ist, was in der Gegewart oder Identifikation gegeben ist – sei es real oder als eine Kopie.

Dieser Aspekt der Phänomenalität der Kunst betont die „Sache“, die im Kunstwerk als „ästhetischer Moment“ „perzipiert“ wird und nicht nur einen rein metaphysischenFootnote 114 Moment, der von unserer Erfahrung getrennt ist. In einem bereits zitierten Aufsatz von 1991 übersetzte Richir Wahrheit des Seins mit Die WahrheitFootnote 115 der Erscheinung. Die Erscheinung überspannt den Bereich der Phänomenalität, wenn wir verstehen, dass die metaphysische Kategorie des Seins uns zugänglich ist, wenn dieses Sein in der „perzeptiven“ Phantasia als die „Sache“ eines Kunstwerkes „perzipiert“ wird. In diesem Zusammenhang wird sie uns ausschließlich als Phänomen zugänglich. Deshalb ist sie darauf nicht reduzierbar. Für Richir kann diese Wahrheit nur Wahrheit durch Erscheinung, also das Phänomen sein, welches damit das Sein gleichzeitig in Klammern setzt. Durch das Phänomen ist das Sein verschoben. In diesem Zusammenhang ist die von Heidegger konstatierte phänomenologische Haltung realisierbar, wenn wir darunter die Befriedigung der Voraussetzung für phänomenologische Epoché und Reduktion verstehen – zumindest in ihrem vom Begründer der Phänomenologie Edmund Husserl vorgeschlagenen Sinne. Obwohl Letzterer in seinen Logischen Untersuchungen eine Rückkehr zur Sache selbst gefordert hatte, die nichts anderes, als das „Phänomen“ ist, wäre dieses Phänomen unmöglich ohne 1) eine metaphysische Voraussetzungslosigkeit, d. h. ein Ausklammern der metaphysischen Bedingungen des „Sein der Welt“ (Sein) und „der Totalität der Entitäten“ (Seiende) – EpochéFootnote 116 erfüllt diese Bedingungen – und ohne 2) die Eröffnung einer originären transzendentalen Referentialität, die nur zum Sinn des Seins führt – die phänomenologische Reduktion (Hua III) erfüllt diese Voraussetzung.Footnote 117 Wir können nun sehen, wie Richirs Behauptung, dass das Phänomenologische notwendig für die Auflösung der Aporien des Metaphysischen ist, befriedigt wird. Indem er das tut, eröffnet er die Möglichkeit, wie die Wahrheit des Seins im Kunstwerk gegeben ist. Dazu folgt jedoch die Frage: Wie erhalten der Künstler und der Betrachter seines Werkes Zugang zur Konkretheit, die ein bestimmtes Kunstwerk vermittelt?

Diese Frage führt uns dazu, die letzte, oder auch die dritte Implikation der „Sache“ zu verfolgen, welche im Bereich der Unbestimmtheit liegt. Dass die „Sache“ dieses unstetige und ständig aufblitzende, flackernde Phänomen ist, das sich immer im Übergang zwischen einem Aufschwung und einem verdeckenden Verschwinden im Herzen des Kunstwerkes befindet, zeigt dann die Quelle der Inspiration des Künstlers, die nicht konzeptualisierbarFootnote 118 (ohne Begriff) ist, um das mit Kants dritter Kritik auszudrücken. Um dies zu verdeutlichen, merken wir noch einmal an, dass die Unbestimmbarkeit von einer Art Leere, Abwesenheit, Ruhelosigkeit ergriffen wird, die durch eine Art von Unbefriedigung die Einbildungskraft (um es in Kants Worten zu sagen) des Künstlers belebt. Sie setzt also die Phantasia in Gang. Dies ist für Richir ein Prozess der Phänomenalisierung oder der Schematisierung, bei dem, obwohl es weder eine Entität noch ein Nichtsein zu imitieren gibt, sich im Leib des Künstlers eine inchoative phänomenologische Sensibilität (eine Konkretheit, ein Phänomen) bildet, die er „perzipierend“ imitiert, weder durch eine passive, spiegelnde Vermittlung (keine Kopie, kein Modell) noch von außen (keine Entität), sondern direkt von innen (du dedans) und auf eine aktive Weise. Wenn die Unbestimmbarkeit die Kraft des Geistes belebt und in Aktivität versetzt, bedeutet das, dass der lebendige Leib (corps vivant, d. h. die Leiblichkeit ist im Spiel) auch animiert wird – und dieser Prozess ist das, was einem Kunstwerk Leben und Leib gibt. Folglich schreibt Richir:

Auch dort gibt es kein Kunstwerk ohne Horizonte der Unbestimmtheit und das, was der Leib des „Empfängers“ von seiner Kinästhesie darin einbringt, wenn er in sie versunken ist, ist nicht von seiner realen Kinästhesie, die die Bewegungen des realen Körpers (Körper) begleiten, sondern von seinen Kinästhesien in der Phantasia, die sich auf einen Leib (corps vivant) in der Phantasia, auf einen Phantasieleib beziehen, der sozusagen nicht an einen realen Körper „gebunden“ ist und das, was wir normalerweise als psychischen, wenn man will auch, konkreten, immateriellen „Raum“ (und „Zeit“) bezeichnen.Footnote 119

Was Richir hier phänomenologisch beschreibt, ist ein Bildungsprozess von ästhetischem Sinn, der von der Unbestimmbarkeit des Phänomens generiert wird, das sich im Leib des Künstlers zu erzeugen beginnt. Es ist sozusagen ein Aktivitätsprozess (Kinästhesis), der im Inneren der Phantasia stattfindet, die nicht denkbar ohne den Leib ist. Ein Kunstwerk zu betrachten bedeutet, diese Unbestimmbarkeit (Rastlosigkeit) zu erfahren, die der Künstler ausschöpft; doch für Richir ist dies undenkbar, würde der Leib nicht die Phantasia (Phantasieleib) mit Leben erfüllen – und all dies stellt für ihn eine psychische Aktivität dar. Dies zieht dann, wie sich herausstellt, eine sehr wichtige Konsequenz für den Empfänger nach sich, also den Künstler und den Betrachter oder Zuschauer: Denn damit ein Kunstwerk diesen Namen verdient, muss der Empfänger im Phantasieleib (mittels Introjektion oder Einfühlung) diese Rastlosigkeit auf direkte, aktive und nicht-spiegelnde Weise (für Richir die Bedeutung von mimesis, active et du dedans, non-speculaire) fühlen.

Wir zitieren an dieser Stelle sehr detailliert, um diesen sehr subtilen Standpunkt zu entwickeln:

Auf diese Weise geht der Künstler schließlich durch seinen realen Leib (indem er ihn in die Tat umsetzt), aber genau das ist, was notwendig ist, damit der Leib der Phantasia ins Spiel kommt, der Phantasieleib im Spiel zum Einsatz gebracht wird, extrem flüchtig und beweglich, und durch die Unbestimmtheit seiner Nichtdarstellbarkeit, seine Schematisierung ohne Konzept und Kinästhesien in der Phantasia dieses Leibes in der Phantasia [gekennzeichnet ist], die alle spielen, indem sie dort gefühlt, aber nicht dargestellt werden, hohl oder in Abstand von Figurationen. Es ist dieser Leib in der Phantasia, der sich radikal nicht darstellbar und nicht figurierbar auf eine bestimmte Weise darstellt, sehr indirekt, trotz allem aber als das eigentliche Pulsieren des Lebens im Kunstwerk als Phänomen [...]. Aber jeder wahre Künstler offenbart anderen in einer Art absoluter Verlassenheit, die unmittelbar verwundbar ist, etwas von seiner Leiblichkeit an sich, die dennoch nicht figurierbar ist. Deshalb sind diese „Offenbarungen“ immer prekär und wieder aufzunehmen, im Prinzip immer auf der Suche nach einer unmöglichen Vollendung.Footnote 120

Bemerken wir zunächst im obigen Zitat die notwendige Funktion des Abstands – wir haben diesen hier betont –, ohne ihn aber zu kommentieren.

Für die restliche Passage können wir nur sagen, es ist die vom Künstler gespürte Mobilisierung der Unbestimmtheiten der Phantasia des lebendigen Leibes, die gleichermaßen verantwortlich für jedwede künstlerische Erfahrung ist und die vom Künstler in einem Kunstwerk gefühlt wird. Daher drückt der Künstler in seinem Kunstwerk diese Unbestimmtheit seiner Leiblichkeit, seines Phantasieleibes (es ist diese „Leiblichkeit de l’oeuvre“, die Leiblichkeit des Kunstwerkes, die – obwohl infigurierbar – das lebendige Fragment der Leiblichkeit des Künstlers istFootnote 121) aus, von der gehofft wird, dass sie an den Enpfänger weitergegeben werden kann. Während der Betrachtung eines Kunstwerkes würde die Wahrheit seines Seins in der Erscheinung offengelegt werden, wenn der Betrachter mittels einer aktiven, nicht-spiegelnden Mimesis von außen diese erscheinende „Sache“ in seiner „perzeptiven“ Phantasia „perzipieren“ könnte, die den Künstler rastlos gemacht hat und die seine Phantasieleiblichkeit dem Kunstwerk eingeprägt hat.

Wir werden Richirs oben angeführte Intuitionen im Folgenden bezogen auf bestimmte Kunstbereiche konkretisieren: Theater, Romane, Musik und Malerei. Dabei wird u. a. die Rolle der Leiblichkeit in der Kunstbetrachtung thematisiert

7.3.1.1 Im Theater

Das Theater stellt für Richir aufgrund der enormen Aufgabe, die vom Schauspieler verlangt wird, ein Paradox dar. Obwohl im Theater zwei Parteien mit spezifischen Leibkörpern in der echten Zeit und im echten Raum vorhanden sind – nämlich die Schauspieler und die Zuschauer –, so muss das, was in der Realität gegeben ist, dennoch mittels einer Art Fiktion oder Intrige umgangen werden. Und an genau diesem Punkt werden die enorme Aufgabe des Schauspielers und das Paradox des Theaters konstituiert: Talentierte Schauspieler sind dazu in der Lage, sich selbst auszulöschen und ihre Rollen (wie z. B. Okonkwo von Things Fall Apart) zu verkörpern. Dies wird erreicht, wenn der Schauspieler – trotz seines Leibkörpers und dessen Kinästhesie – dem Leib des Charakters (die Figur oder Hauptfigur usw.), den er verkörpert, wortwörtlich seinen Leib leiht, um dessen Elision zu bewirken – jedoch weder durch irgendeine Figuration in der Wahrnehmung, noch in der Imagination. Infolgedessen ist es – obwohl der Schauspieler auf der Theaterbühne erscheint – der Charakter, der gleichwohl in der „Präsenz ist…ohne je gegenwärtig zu sein.“Footnote 122 Das ist eine Art zu sagen, dass der Charakter in seiner „Anwesenheit“ da ist, obgleich er in einer echten Räumlichkeit-Zeitlichkeit abwesend ist. Wenn der von einem bestimmten Schauspieler verkörperte Okonkwo nun aber weder im realen (Objekt der Figuration in der Wahrnehmung), noch im imaginären (Kopie der Figuration in der Imagination) räumlich-zeitlichen Sinne gegenwärtig ist, wie ist er dann in seiner „Präsenz bzw. Anwesenheit“ da? Wir zitieren eine Passage, um zu zeigen, wie Richir auf diese Frage antwortet, wobei das Wort „gegenwärtig“ sich auch als anwesend übersetzen lässt:

Auf diese Weise ist die Romanfigur, wenn sie vom Schauspieler gut „verkörpert“ wird, nicht in einem intentionalen Akt der Wahrnehmung oder der Imagination gegenwärtig, er ist in Präsenz in der Phantasia, d. h. in sich selbst anschaulich nicht darstellbar. Und wenn er dort ist, in der Präsenz, aber nicht gegenwärtig, und da es einen Schauspieler erfordert, um sie zu „verkörpern“, ist er dennoch Gegenstand einer „Perzeption“, in einem anderen Sinne dieser beiden phänomenologischen Begriffen in Klammern, […] in dem, was Husserl treffend als „perzeptive Phantasia“ bezeichnet.Footnote 123

Der Modus der Präsenz des Charakters in der räumlich-zeitlichen Welt des Theaters ist daher virtuell, denn diese Präsenz entstammt einer Realität, die sich nie in einem intentionalen Akt der Wahrnehmung befunden hat und dort auch nie sein wird (außer wenn sie in die Imagination umgesetzt wird), sondern aufgrund des Abstandes in einem Übergangsraum der „perzeptiven“ Phantasia, wo der Charakter, obwohl er „perzipiert“ wird, dennoch nicht in der Weise eines Körpers oder Dings erlebt wird. Vielmehr ist die Präsenz, die da ist, die einer „Konkretheit“ oder „Sachlichkeit“ des Charakters, der sich die „perzeptive“ Phantasia öffnet. Winnicott folgend, treibt der Charakter nun im Übergangsraum zwischen Realität und Phantasia. Seine Realität als „echte“ wäre aufgehoben.

Es bedarf einer enormen Arbeit talentierter Gewissenhaftigkeit vonseiten des Schauspielers, all dies zu erreichen; dazu in der Lage zu sein, den Charakter mittels Selbstelision zu verkörpern und dadurch die reale Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Charakters zu bewahren. Um dies zu erreichen, muss er die imaginäre Repräsentation, die sonst den Charakter darstellen würde, nicht spiegelnd imitieren, sondern er muss den Charakter, der in der Tat außerhalb des Theaters vielleicht niemals existiert hat, noch jemals existieren wird, mittels Einfühlung fühlen und dadurch eine aktive und nicht-spiegelnde Mimesis von innen bewirken. Dadurch, dass er dies in der Tiefe der Phantasieleiblichkeit vollzieht, welche an sich die Affektivität ermöglicht, erhält er unmittelbar Zugang zur Interiorität des Charakters: Dessen Emotionen, Affektivität, Mimik, Gestik, Sinn, Empfindsamkeit, die nun für sich die Wunder des Theaters vollbringen. Wenn der Schauspieler gewissenhaft ist und es schafft, nicht aus der Rolle zu fallen und diesen inneren Zugang zum Charakter in ein spiegelartiges Abbild zu transponieren – in welchem er beispielsweise die Struktur seines persönlichen Phantasmas narzisstisch in seinen Charakter (z. B. Okonkwo) projiziert und den Zuschauer dadurch dazu bringt, sich den Charakter, der vermittelt wird, in der Imagination anschaulich darzustellen –, dann ist er in der Lage, den zweiten Teil der Aufgabe zu vollbringen: Diese besteht darin, die Zuschauer in das virtuelle, räumlich-zeitliche Theater zu transponieren, wo der Charakter wahrhaftig und wirklich lebendig ist und sie ihn so in ihrer entsprechenden „perzeptiven“ Phantasia „perzipieren“ könnten, wenn ihr Leib ihre Phantasiai zur Aktivität mobilisiert. Sie (die Zuschauer) sind ihrerseits erfolgreich, wenn sie fähig sind, den Charakter – in diesem Fall Okonkwo – als real zu fühlen, obwohl dieser niemals exisitiert hat, noch jemals exisitieren wird.

7.3.1.2 In Romanen

Das Paradox des Theaters verlangt dem Schauspieler die enorme Arbeit ab, sich selbst in seinem Leibkörper „auszulöschen“ und seine Charaktere und Figuren zu verkörpern, die – obwohl nicht im Leibkörper gegenwärtig – durch ihre Abwesenheit in der Präsenz (im Leib) sind. In der Literatur entfällt diese Bürde nun auf den Schriftsteller und in der Konsequenz auch auf den Leser, deren Aufgaben es sind, die Charaktere lebendig und ansprechbar zu machen. Wenn der Autor sehr talentiert ist, gelingt es den Charakteren in den meisten Fällen, sogar lebendiger zu werden, als die Menschen, denen wir im Alltag begegnen, die jedoch unter Umständen sozusagen in gewisser Weise leblos für uns sind. Wenn dies wahr ist, dann darum, weil die Natur des Romans ihnen mehr Freiheiten von den Konventionen gewährt, die das Theater (dessen reales räumlich-zeitliches Moment und audio-visuelle Analysen und Interpretationen) einzuschränken scheinen. Und in genau dieser Freiheit von Kodifizierungen liegt die gewaltige Arbeit des Autors. Die Freiheit von Verschlüsselungen soziokultureller und historischer Beschränkungen (es ist uns bewusst, dass Romanautoren diese auf neue Art interpretieren und deren Elemente in ihre Werke einfließen lassen) lässt sich in die Freiheit der Phantasia übersetzen. Wie Richir anmerkt, wird der perzeptiven Phantasia im Roman eine größere Freiheit erteilt, wenn wir dies mit den restriktiven Konventionen des Theaters vergleichen.

Mit der relativen Befreiung von Kodifizierungen verbunden ist auch (das) Leben, welches in der Phantasia belebt werden muss. Dieses Leben ist sozusagen der Kern des Romans, obwohl es gleichzeitig kompliziert ist. Hiermit meint Richir das Leben der Romanfiguren. Sie müssen ins Licht des Lebens kommen. Jedoch ist dies aufgrund ihrer Natur kein einfaches Unterfangen. Wie wir hier sehen, ist die Aufgabe daher im Angesicht dieses Lebens, das er schaffen muss, nicht nur für den Schauspieler, sondern auch für den Autor gewaltig: Die Charaktere in ihrer Raffiniertheit lebendig werden zu lassen. Wie soll dies also geschehen? Es sieht so aus, als wäre der Romanautor ein Schöper von Leben und, um dies zu tun, muss er sie (die einzelnen Leben) ausdenken und jene Leben anhand der Darstellungt in Codes und in Entwürfen organisieren, als wäre er der eigentlichen Erfinder jene erfundenen Charaktere. Oder er wusste im Voraus von diesen Charakteren und zwar so, als ob sie schon da wären, wofür er nur seinen Stift über das Papier gleiten lassen und jedem von ihnen seine entsprechende Rolle zuweisen muss. Im Gegensatz dazu ist Richir der Meinung, dass kein Romanautor, der dieser Bezeichnung würdig ist, ein Erfinder in diesem Sinne ist; vielmehr erlaubt er den Charakteren, in der Instabilität ihres Entstehens in der „perzeptiven“ Phantasia durch ihn hindurch zu fließen, wodurch sie zum Leben erweckt werden und ihre eigenen Leben führen; einem Leben, das nur ihnen allein eigen ist und welches wir nur flüchtig erblickenFootnote 124 können. Die einzige und gleichzeitig überwältigende Aufgabe des Schriftstellers ist es, diesen Leben, die sich in ihm bilden, inmitten all ihrer Alternativen und Unbestimmtheiten zu folgen. Aus diesem Grund haben wir behauptet, dass die Charaktere (Figuren) in einem Roman kompliziert sind. Das heißt, dass die Leben sich in der „perzeptiven“ Phantasia des Autors selbst entwickeln müssen, und dass er, wenn er sorgsam ist, es vermag, diese Entwicklung zu spüren (einzufühlen) und ihnen freien Lauf zu lassen. In Richirs Augen werden die Romanfiguren und deren Leben dem Autor und den Lesern schlicht aufgezwungen, obwohl dies niemals als eine Art von Passivität verstanden werden sollte. Dies wird im Folgenden deutlich werden.

Es ist sehr offensichtlich, dass Romanautoren eine Art von leiblicher Affektivität und die Triebkraft der Phantasia benötigen. Was wir in Bezug zu einem späteren Teil von Du Rôle de la Phantasia au Théâtre et dans le Roman die „Leben der Romanfigur“ nennen, hat Richir als nichts anderes, als die „Bewegung der Seele“ verstanden, die er weithin mit „den Labyrinthen der Affektivität gleichsetzt, wo die Affektionen aufs Engste mit der Phantasia und somit mit den ‚perzeptiven Phantasiai verbunden werden.”Footnote 125 Wir verstehen nun, wie gewaltig diese Aufgabe ist, was vonseiten des Schriftstellers notwendig ist, um in die intime Tiefe der Seele) der Figuren einzudringen, die in seiner eigener Seele auftauchen und wieder verschwinden. Es ist der Verdienst der Phänomenologie, diese fast unmögliche (unmöglich aufgrund ihrer Aporien, unmöglich auch weil die Seele des anderen mir nicht im Original gegeben werden kann) Aufgabe der Fremderfahrung (dem Anderen zu begegnen) in der Begegnung artikuliert zu haben, obwohl das, was wir hier haben kein konkretes Subjekt wie z. B. Okonkwo mit seinem Leibkörper in einem realen räumlich-zeitlichen Moment ist, mit dem ich als ein anderes Subjekt mich auf leibhaftige Weise (leibhaftig in Körper und Seele) identifizieren, sprechen oder in Verbindung setzten könnte. Denn die Phänomenologie bietet uns – und Richir hat dies in vielen seiner Arbeiten thematisiert – als einzigartige Möglichkeit zur Begegnung die Einfühlung als einzigen möglichen Zugang zur intimen Tiefe des Anderen, auch wenn dieser Zugang gar nicht im Original geschieht. Wenn der Autor daher in das Leben einfühlt, das sich in ihm entwickelt, dann weil die Einfühlung ausgelöst wird, die nichts anderes ist, als die Imitation dieses Lebens, das in ihm in einer Weise der nicht-spiegelnden und aktiven Mimesis von innen heranwogt und verschwindet; ein Leben, welches nie gewesen ist und nie sein wird. Und nur auf diese Weise, durch die Mobilisierung seines Leibkörpers inklusive seines Stiftes, könnte er die Figuren im Verhältnis zueinander, in und über einen Körper hinaus (den Körper, auf welchem er es artikuliert: Zeilen und Seiten eines Buches) zum Leben bringen. Diese Leistung ist notwendigerweise eine leibliche und impliziert den Phantasieleib, weshalb sie eine Aktivität, aber nie eine Passivität ist.

Aber wie sollen die in einem leiblosen, toten Körper vergrabenen Figuren leben? Es bedarf einer Aktivität, um dies zu erreichen, in ihrer Essenz vergleichbar mit der Aktivität der Lebenden, wenn sie ihrer Lieben gedenken, sie wieder aufleben lassen und deren „Präsenz“ (also deren Abwesenheit) spüren. Obwohl diese Aktivität sich sogar bis auf den Leibkörper erstreckt, beispielsweise, wenn sie die Gräber besuchen und die Pflanzen dort pflegen, so ist es doch der Leib, der hier am aktivsten ist. In gleicher Weise bedarf es nicht nur der materiellen Aktivität des Leibkörpers der Lebenden im Öffnen und Aufschlagen von Büchern und Entstauben der Regale und Einbändege, sondern es bedarf des Dialogs mit ihnen (den Büchern). Daher benötigen Romane die Leiber von Lesern, wenn sie lebendig werden sollen; wenn ihre Figuren zu uns sprechen sollen, uns etwas sagen sollen: Die Entfaltung dieser oder jener „Sache“ oder Konkretheit, und uns in eine bedeutsame Diskussion zu verwickeln. Die Bürde, die dem Schauspieler im Falle des Theaters zufiel, oder dem Schriftsteller beim Schreiben, wird nun auf den Leser ausgedehnt und dies bringt all die Paradoxien und Intrigen mit sich, die hier im Spiel sind. Dies ist keine kleine Aufgabe, denn sie erfordert die Sorgfalt eines vorsichtigen Lesens, um dazu in der Lage zu sein, die von der „perzeptiven Phantasia des Autors gewebten Leben zu durchdringen. Zu diesem Zweck muss sein Leib seine Phantasia mobilisieren, wenn es dem Leser gelingen soll, mittels Einfühlung die „Präsenz“ (in unserer Terminologie die Unbestimmtheit oder Abwesenheit) der Leben zu fühlen, die, hinc et nunc, von den Figuren gelebt werden, obwohl diese Leben nie wirklich waren und nie sein werden. Dies ist an sich die Durchführung einer Art von Aktivität, der Imitation, die der des Schriftstellers (auf nicht spiegelnde und aktive Weise von außen) ähnelt.

Wenn es des küstlerischen Könnens (oder seines Stils, der in der Unbestimmtheit seiner „perzeptiven“ Phantasia gefühlt und artikuliert ist) oder der Leiblichkeit des Leibes (des Autors) bedarf, um die Charaktere seines Romans jenseits des Körpers von Zeilen und Seiten zum Leben zu bringen, dann erfordert es ebenso – obwohl nicht in genau gleicher Weise – die gewissenhafte Aktivität der Leiblichkeit des Leibes des Lesers (seine „perzeptive“ Phantasia), um ihn anzuleiten, diese Leben, die (sich) selbst leben zu fühlen. Gewissenhaft daher, weil das Leben, welches erweckt wird, nicht in den intentionalen Akt der Imagination transponiert werden darf, „da dies“ in Richirs Augen „die eigene Bewegung der Prosa unterbricht und das in der anschaulichen Figurierungen der Imagination trivialisiert, was nur in der Phantasia leben könnte.“Footnote 126 Es ist die Imagination, die uns eine Kopie oder ein Portrait des Lebens, von dem wir lesen (z. B. von Okonkwo) in dieser oder jener physischer Form vorschlägt. Aber für uns kann diese Figur, wie jede andere Figur aus Things Fall Apart oder aus jedem anderen Roman, nur ein Rätsel bleiben, denn keine Kopie oder kein Portrait dieser besagten Figuren, die uns vorgeschlagen würden, wären für uns befriedigend; sie würden uns im Gegenteil falsch erscheinen und uns mit ihrer (geistigen) Armut schockieren. Der Grund dafür ist für Richir, dass es vieler Unbestimmtheiten bedarf, um die Phantasia zum Leben zu bringen.Footnote 127 Im Zeitalter der audiovisuellen Revolution könnte es ungeheuer verlockend sein und dadurch die Aufgabe des Autors oder seines Lesers vergrößern, wenn sie die nicht-spiegelnde Aktivität des Geistes von innen aufgeben und auf audiovisuelle Adaptionen oder Auszüge wissenschaftlicher Handbücher (also auf Modelle) zurückfallen – was bedeutet, in die Falle der Positionalität zu tappen –, um dieser „Sache“ Sinn zuzuschreiben, die nur eine leiblich-affektive Erfahrung in der Phantasia verstehen könnte.

Wir zitieren Richir diesbezüglich:

Es gibt daher in der Kunst des Romans eine ganze äußerst komplexe Alchemie, von der es tatsächlich notwendig wäre, die Analyse fast ganz von vorn wieder anzusetzen, in jedem Fall abseits von klassischen, sprachlichen, semiotischen oder psychologischen psychoanalytischen Theorien. Das heißt, ausgehend von der richtig verstandenen Phantasia und dem Leben der Leiblichkeit und von der Affektivität, ist die Phantasia in Wirklichkeit untrennbar von diesem.Footnote 128

Richirs Aufruf für eine Rückkehr zur Phantasia, Leiblichkeit und Affektivität geschieht vor dem Hintergrund einer modernen Abhängigkeit von Kommentaren, wissenschaftlichen Analysen, Handbüchern, Wörterbüchern und Modellen, Hinweisen.Footnote 129 Diese Abhängigkeit von Hilfsmitteln führt nur dazu, dasjenige Leben zu zerstören, welches anhand der reichen und komplexen „Sachen“ (Richirs Sprachverwendung schreibt dieser „Sache“ nun eine „Alchemie“ zu) erlebt würden, die jedes Kunstwerk offenbart. Dies bedeutet folglich das Ende der Diskursivität der Leben der Figuren, deren Auftauchen der Autor ermöglicht hat. Es ist dieser Prozess, der Kunstwerke impotent macht, sodass sie uns nicht mehr aus unserer intimen Tiefen heraus ansprechen können.

7.3.1.3 In der Malerei

In der Malerei findet auch die Leiblichkeit der Phantasia ihr Echo als das eigentliche Unbestimmte. Im folgenden Abschnitt erlauben wir uns, ein Beispiel aus der Kunst zu geben. Es handelt sich dabei um das Verstehen von Gemälden, z. B. wenn man sie betrachtet oder sie „produziert“.

In Hua XIII ist Husserl der Meinung, dass das „Ich“ während der Betrachtung eines Kunstwerks „nicht intuitiv“ „mit den Bildern“ konstituiert wird, obwohl das „Ich“ vor dem Gemälde ist. Husserl meint dabei, dass dieses „Ich“, welches zum Bildaspekt gehört, nicht eindeutig konstituiert ist. Er fragt also: „Aber ist es nicht notwendig?“ – und antwortet sofort mit der Schlussfolgerung, dass ein Phantasie-Ich, also das „Ich“ und die Leiblichkeit während der Betrachtung eines Kunstwerks impliziert sind. Richir wird diesen letzten Gedanken wie wir bald sehen werden ein wenig modifizieren:

Es ist eben ein pures Phantasie-Ich, mit einer unbestimmten Leiblichkeit, einer unbestimmten Persönlichkeit, bestimmt nur durch die Akte der Betrachtung, der Aufmerksamkeit, das Haben der Aspekte, das Erleben der vom Künstler mittels des Bildes erregten Stimmungen. Das Ich ist unbestimmt, wie ja auch Phantasieobjekte unbestimmt und nur nach gewissen Seiten bestimmt sind – so unbestimmt, dass man nach ihrem näheren Wie gar nicht fragen kann. So kann ich auch nicht fragen, was für einen Leib der Bild-Zuschauer hat etc.Footnote 130

Die erste, von Husserl selbst bestätigte Schwierigkeit ist es zu verstehen, „was für einen Leib der Betrachter des Kunstwerkes hat.“ Die Zweite betrifft seine Bemühungen zu verstehen, was an diesem Akt beteiligt ist und was nicht, denn er schwankt zwischen der Beteiligung des Selbst oder der Persönlichkeit des Phantasieobjektes und des Leibes. Drittens dürfen wir laut Richir nicht vergessen, dass Husserl oft die Phantasia mit der Imagination verwechselt, sodass man nicht weiß, wann er das eine oder das andere meint und wann die Phantasia ein Objekt besitzt oder nicht.

Zusätzlich zu diesem oben beschriebenen Problem kommt Richir auf den oben zitierten Abschnitt bei Husserl zurück und kommentiert ihn ausgiebig. Seine These ist es, zu zeigen, dass das, was im Kunstwerk betrachtet wird, der unbestimme Phantasieleib des Künstlers ist. Zunächst stellt Richir den Hintergrund dieser Passage bei Husserl klar – dass dieser sich Gedanken um die Unterscheidung zwischen dem „Ich“ der tatsächlich gegebenen Welt und des Phantasie-„Ichs“ gemacht hätte. Unter Bezugnahme auf die oben angeführte Passage schreibt Richir der Phantasia eine unendliche Unbestimmtheit zu. Für ihn sticht dabei diese Unbestimmtheit am Phantasieleib hervor. Wir finden diese etwa im Tagträumen (rêverie éveillée) oder auch in der symbolisch gestifteten Phantasia des Malers vor. Denn obwohl dieses Gemälde vor mir tatsächlich vom Maler gemalt wurde, indem er es durch Anwendungs seiner Körperding (corp-chose – zum Beispiel seine Arme und Hände – wie Richir es bezeichnet) hergestellt hat und, obwohl dieses Gemälde von einem Betrachter durch die tatsächlichen Organe (seine Augen zum Beispiel) wahrgenommen wird, wurde das Gemälde in Wirklichkeit vom unbestimmten Leib des Künstlers „produziert“, mit seinen Stimmungen, die den unbestimmten Leib durchdringen. Gleichzeitig wird das Gemälde in Wirklichkeit vom unbestimmten Leib des Betrachters apperzipiert.Footnote 131

Richir denkt also in Bezug auf den gesamten Absatz, mit dem Husserl sich in Hua XIII, n. 10 beschäftigt, dass die unbestimmte Leiblichkeit, die beim Künstler im Spiel ist, auf den Gemälden intuitiv für die Apperzeption des Betrachters eingeprägt ist und nicht das „Ich“, wie es bei Husserl erscheint. Wir wollen ergänzen, dass Husserl unschlüssig darüber bleibt, ob das „Ich“ oder der Leib im Spiel ist. Richir zufolge ist die Einprägung des Leibes der Phantasia in den Gemälden, wenn es um die Partizipation während des Betrachtens und der Erfahrung eines Kunstwerkes geht, möglich, wenn der Leib nicht unflexibel und unelastisch ist. „Das“, was das Kunstwerk mir zu sagen hat – „das“ ist nichts anderes als die Leiblichkeit und die Phantasia (Phantasieleiblichkeit) des Künstlers –, ist also nicht durch eine anschauliche Darstellung des Gemäldes gegeben und durch den Betrachter apperzipiert. Die Natur des „das“ von Kunstwerken mobilisiert die Unbestimmtheit der Leiblichkeit des Betrachters.Footnote 132

Wenn dies nicht der Fall wäre, wie könnten wir dann die unendlich vielen Arten der Zugänge (und Erlebnisse von) zu Kunstwerken erklären? Wenn dies nicht der Fall wäre, wie kann es dann sein, dass Kunstwerke eine unendliche Vielfalt von Gefühlen und Aktivitäten in seinen Betrachtern auslösen? Die Leiblichkeit der Phantasia muss diesen Anforderungen entsprechen, gemäß denen die Erfassung der vielen Schattierungen eines Kunstwerks, das Wesen, das es zu kommunizieren versucht, ermöglicht werden kann.

7.3.1.4 In der Musik

Richirs Entwicklung einer Phänomenologie der musikalischen „Wahrnehmung“ entstand aus dem Bedürfnis heraus, deren Verständnis bei Husserl als Wahrnehmung aufeinanderfolgender Töne in der originären Gegenwart abzuklären – dies im Kontext eines inneren Zeitbewusstseins – was wir im Folgenden kurz zusammenfassen werden: Husserls Vorstellung von Zeit wurde ausgehend vom Begriff eines originären Gegenwartsfelds entwickelt, welches sich in drei unterschiedlichen Phasen artikuliert, nämlich einem Jetzt, einer Retention und einer Protention. Später an anderer Stelle, ab ca. 1917/18, nannte er dieses Feld eine „lebendige“ oder „strömende Gegenwart“Footnote 133 – eine orientierende prä-temporale Zeit, da sie simultane Zeit-Punkte aufbaut.Footnote 134 Unabhängig davon, welches Konzept benutzt wurde (sei es die originäre Gegenwart oder die strömende Gegenwart), sind die drei Phasen zwangsläufig miteinander verbunden, sodass deren Trennung voneinander nur theoretischer Natur ist. Der Nullpunkt dieser Zeitorientierung im originären Gegenwartsfeld ist die Urimpression, die in jedem Moment gegeben ist und die dennoch ohne einen Übergang in die Vergangenheit undenkbar ist. Die lebendige Gegenwart ist nicht nur im Besitz des Horizonts der Vergangenheit, sondern auch der Erwartung, welche man sich in Bezug auf ein zukünftiges Ereignis vorstellen kann (wir beziehen uns nicht auf die Protention, sondern auf eine sekundäre Erwartung). Für Husserl sind diese beiden Horizonte leer, da ihre Inhalte ihnen nicht innewohnen also nicht immanent sind. Man muss ihnen folglich eine Transzendenz einräumen.

Aber da die originäre Gegenwart ohne den Bewusstseinsakt unmöglich ist, durch welche die Bestimmungen der Objekte verwirklicht werden, werden diese Bestimmungen zu einzelnen, voneinander abhängigen Jetztpunkten und durch die Horizonte von Retention und Protention artikuliert, die die Jetztpunkte umgeben. In seiner Vorlesung zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins spricht Husserl von einem immer auftretenden neuen „Jetzt“ eines Ablaufmodus, das sich jedoch kontinuierlich in eine Vergangenheit verwandelt; dies schließt eine protentionale Erwartung nicht aus. Husserl veranschaulicht diese Idee anhand der Analogie des Tons:

Jeder Ton hat selbst eine zeitliche Extension, beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein immer neues Jetzt, und das jeweilig vorangehende wandelt sich in ein Vergangenes. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, so konstituiert sie sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil Erinnerung, zu einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem weiteren Teil Erwartung ist.Footnote 135

Wie könnte also ein Bewusstseinskontinuum aus einzelnen, diskreten und unabhängigen Jetztpunkten so realisiert werden, dass Veränderungen, Folgen und vergehende Zeit existieren? Damit ein Bewusstseinskontinuum entstehen kann, muss „das Modell von Retention und Protention […] dem Rechnung tragen, indem es jedes im Bewusstseinsverlauf fixierbare Jetzt so charakterisiert, dass es in sich ein Kontinuum bildet.“Footnote 136 Auf diese Weise stellen beide Bestimmungen das Bewusstseinskontinuum sicher.

Angesichts der Tatsache, dass bei Husserl die Urimpression in einem „Jetzt“ passiert, die eine leere Retention und leere Protentionen umfasst. Darin wird die Einheit der intentionalen Bedeutung begründet. Richir sieht darin die Privilegierung eines „Jetzt“ (verstanden als „Gegenwart“) in der von Husserl vorgeschlagenen originären „Gegenwart“. Und diese Privilegierung ist es, die Richir in Frage stellt. Für ihn wird das Phänomen in genau solch einer Struktur der Temporalität in der Gegenwart deformiert. Er ersetzt die Struktur mit einer anderen, die in der Phantasia wurzelt und der er jegliches gegenwärtiges „Jetzt“ abspricht („Temporalisation en présence sans présent assignable“). Es lohnt sich an dieser Stelle anzumerken, dass diese Struktur der Zeitanalyse von Husserl mit einer symbolischen Zirkularität belastet ist, da es sich dabei um den gleichen „Jetzt“-Ton handelt, der immer “mit kontinuierlicher Wiederkehr auf der Flucht ist”Footnote 137 – als ob sich die Aufeinanderfolge von Tönen von einer Gegenwart zu einer anderen in ewiger Wiederholung dieser Gegenwart bewegen würde, und als ob Übereinstimmung ihre einzige Begabung wäre. Wir zitieren diesbezüglich Richir:

Wenn wir in der Tat zugeben, dass sich die Sukzession in der Zeit konstituiert, indem sie sich in aufeinanderfolgenden Gegenwarten verzeitlicht, aber jedes Mal gegenwärtig mit Protentionen gegen die Zukunft und Retentionen gegen die Vergangenheit versehen ist, wenn wir weiter zugeben, dass die Gegenwart nur lebendig ist, wenn es sich um eine Urimpression oder eine Urempfindung handelt, die hier nur aus diesem oder jenem jetzt wahrgenommenen Klang möglich sein kann, dies impliziert, dass die Gegenwart dieses oder jenes Klangs sowohl ursprünglich die des bereits Vorhandenen „Da“, des vorweggenommenen, als auch des noch vorhandenen „Das“ in der perzeptiven Gegenwart ist, wobei die Gegenwart ihrer maximalen Intensität für das Bewusstsein entspricht. Dies wirft jedoch ein doppeltes Problem auf[…].Footnote 138

Wenn es dabei – wie Richir behauptet – ein Problem gibt, dann beinhaltet es auf jeden Fall das Metaphysische. Richirs entscheidendster Beitrag besteht in einer Destabilisierung, bzw. Unterbrechung der Abfolge von Tönen, die in der metaphysichen Bezeichnung eines immer „Gegenwärtigen“ (schon dort, bereits erwartet und immer noch dort) gegebenen ist. Was also destabilisiert ist, ist die „Gegenwart.“ Dieser „Gegenwart“ schreibt er stattdessen eine Leere zu. Dies ist eine Leere, die permanent auf der Suche nach Bedeutung ist, die sich jedoch nie verwirklicht, da sie nichts Anschauliches erblicken und darstellen kann. Daher existiert solch eine metaphysische „Gegenwart“ für Richir nicht. Was wir stattdessen haben, ist eher eine „Präsenz“ ohne Gegenwart. Musik zu erfahren bedeutet nicht, eine Abfolge von Tönen wahrzunehmen, die in der Gegenwart verwurzelt und gegeben sind. Wenn wir keine „Gegenwart“ haben, dann ist das, was wir „perzipieren“, bzw. im Vorgang der Temporalisierung von Musik haben, keine Wahrnehmung (noch ist es eine Imagination) im klassischen Sinne, da Musik für Richir nichts darstellt, das anschaulisch in der Imagination figuriert würde oder das in der reinen positionellen Wahrnehmung figurierbar wäre; Was wir in der Musik erfahren oder „perzipieren“ ist nichts anderes, als eine virtuelle, nichtpositionelle Welt. Und wenn wir in der Musik nichts wahrnehmen, das anschaulich figurierbar ist, dann ist das der Fall, weil wir in der „perzeptiven“ Phantasia unmittelbar eine „Sachlichkeit“ „perzipieren“, die die Töne und Noten überschreitet und bewohnt und die die Klänge in Klammern (phänomenologische Epoché) setzt. Und wenn die „Sachlichkeit“ die Darstellung oder Figurierbarkeit der Klänge, Töne, Notationen und musikalischen Regeln übertrifft, dann ist das so, weil jede Musik uns etwas sagen will, was Worte uns nicht offenbaren können.

Um letzteres zu thematisieren, unterscheidet Richir zwischen einem Sprachphänomen (phénomène de langage) und einem Sprachsystem (Phénomène de la Langue). Bei ersterem handelt es sich um ein Regime des Sinnes dem ungeformten und wilden Sinne gegenüber, während letzteres ein Sprachsystem, wie z. B. Igbo, Englisch oder Französisch etc. erfasst. Im Fall der Musik bezieht sich das Phénomène de la Langue daher auf das System der Notation oder das Sytem, Musik zu schreiben in dieser oder jener Zeit ein. Die Oper – obwohl nicht darauf beschränkt – ist ein Beispiel dafür, dass jede Musik uns etwas sagen will, das Worte oder Sprache nicht erschöpfen können. Dieses Etwas, das eine „Sache“ ist (oder Musik an sich), geht über jede Temporalisierung (temporalisation) in der „Gegewart“ hinaus; es geht daher auch über alle Kodifizierungssysteme und die Abfolge von Tönen hinaus, obwohl es selbst durch das Phénomène der Langue – d. h. der Institution der dominanten Musiksprache einer bestimmten Epoche– kodifiziert ist.Footnote 139

Genau hier wird die Rolle des Komponisten verortet: Sie besteht im Zugang zu dieser „Sache“, die uns etwas mitteilen will, im Phénomène de langage. Sie stellt für Richir auch die Schwierigkeit der Komposition dar. In gewisser Hinsicht muss jeder Komponist die Geschichte, sprich Zeit, überschreiten und sich über die Regeln und Vorschriften, die in einer bestimmten Zeit die Norm sind, hinwegsetzen, wenn er dem Transhistorischen und Transpatialen Genüge tun will, welches in jeder Welt der Musik spricht – auch, wenn dabei die Regeln und die Systeme der Notation dieser oder jener Epoche immer angewandt werden. Die mit Worten nicht auszudrückenden Affektionen, das heißt die flüchtigen, sich ständig verändernden und vielfachen Bewegungen der Seele (Gemütsbewegungen wie bei Kant), die der Phantasia innewohnen, müssen vom Leib des Komponisten mobilisiert werden, um das herrschende System seiner Gegenwart (also das Symbolische) zu zerschlagen und sie so davor zu bewahren, sich in der Wahrnehmung oder der Imagination festzulegen. Dabei macht er seinen Leib zu seinem Instrument um damit die mit Worten nicht ausdrückbaren Bewegungen seiner Seele auf aktive und direkte (das heißt nicht spiegelde) Mimesis von innen zu „perzipieren“. Durch die Anwendung desselben Mechanismus sollte auch die Interpretation dieser Musik geschehen. Der Interpretierende sollte sich nicht aufdrängen, noch sollte er sich selbst in die Musik projizieren: Tatsächlich ist seine Aufgabe keinesfalls einfacher Natur, da sie darin besteht, aktiv und affektiv das Sprachphänomen, welches der Komponist über die Systeme der Kodifizierung oder Notation hinaus ausgedrückt hat, zu fühlen. Gute Interpreten erreichen dies mithilfe einer „Perzeption“ durch eine aktive und nicht-spiegelnde Mimesis von innen. Durch genau die gleichen Mechanismen haben wir als Zuhöhrer Zugang zu der Musik, in der wir die Sprachphänomene fühlen, die der Komponist uns kommunizieren will; diese bewegen die Affekte unserer Phantasia und machen uns schlicht sprachlos. Wir können sehen, dass es die Musik selbst und niemals ein vermittelnder narzisstischer Interpret oder die temporale Abfolge von Tönen ist, die „perzipiert“ wird. Denn wäre die Musik positionell, dann würde sie als sie selbst verloren gehen.Footnote 140 Was würde die Musik sonst sein, wenn sie ohne die einem Leib entsammenden Affektionen der Phantasia komponiert, interpretiert und betrachtet werden würde? Sie wäre praktisch so gut wie tot und würde niemals auch nur die unsensibelsten Gemüter bewegen.

7.4 Schlussüberlegung

In unserer Darlegung haben wir unter anderem versucht zu umreißen, wie Heidegger und Richir in ihrer Auffassung von Kunst voneinander abweichen. Obwohl sich ihre Blickwinkel unterscheiden (während Heidegger einem starken metaphysischen bzw. ontologischen Ansatz folgt, zeigt Richir, wie das Metaphysische mithilfe einer phänomenologischen Herangehensweise erfahrbar sein könnte), so sind sie sich doch darin einig, dass es da etwas gibt, was die Kunst uns mitteilen will: Für Heidegger enthüllt sie die Wahrheit des Seins und bei Richir erfahren wir diese Wahrheit des Seins nicht als abstrakte Universalie, sondern als Gegenständlichkeit – „Sache“ – phänomenologisch, leiblich, durch eine bestimmte Art der Imitation in der „perzeptiven“ Phantasia. Wenn Van Goghs Schuh-Gemälde uns die Welt einer ländlichen Bäuerin im ontologischen Sinne mitteilt und wenn sowohl der Künstler als auch der Interpret und der Betrachter seiner Werke dazu in der Lage sind, in das einzufühlen, was das Werk ihnen affektiv und leiblich zu sagen versucht, dann sind wir der Meinung, dass allen Kunstwerken etwas Einzigartiges innewohnt; dass Partizipation eine einzigartige Art sein muss, in die Wahrheit des Seins, in die „Sache “ einzutreten, die sie vermittelt. Es muss jedoch zugleich hinzugefügt werden, dass Betrachter von Kunstwerken dies unserer Meinung nach nicht im von Heidegger vorgeschlagenen Sinne tun, also als ob es eine Welt gäbe, die existiert hat oder exisitieren wird.

Wenn wir verstehen, was Kunstwerke uns mitteilen möchten, müssen wir Heidegger folgend sagen, dass Verstehen dadurch ermöglicht ist, dass Kunstwerke eine jederzeit offene Möglichkeit sind, auf eine Weise in der Welt zu sein, die unseren normalen Modus des in-der-Welt-seinsFootnote 141 destabilisiert. Dies bedarf einer kurzen Erläuterung: Vom Anbeginn unserer Existenz auf der Welt hat eine gegebene „Ordnung“ namens Zivilisation danach gestrebt, unsere natürlichen Instinkte zu zähmen und sie passend zurechtzustutzen. Wir haben gelernt, gegebenen Eindrücken unserer Wahrnehmung bestimmte Bezeichnungen zu geben. Die Welt, in der wir leben, hat uns diktiert, was die Dinge sind und zu bedeuten haben; sie hat für uns geurteilt. Unsere Zeit und unsere Räume wurden mit Ereignissen überflutet, die für uns nicht sehr wichtig sind und unsere persönlichen Leben nicht stark ansprechen. Das frustrierendste daran ist der entfremdende Effekt, der mit dieser Art des in-der-Welt-seins einhergeht; der Normen aufzwingt und Subjekte daran hindert, Dingen so zu begegnen, wie sie ihnen in ihrer Wahrheit erscheinen. So fehlen dem Subjekt Möglichkeiten und Spielraum.

Diesem Modell entgegen bietet uns die Kunst eine andere Art in der Welt zu sein, indem wir ein „Mitspracherecht“ daran haben: Hier haben wir die Möglichkeit, wir selbst zu sein – eine Möglichkeit, die den Subjekten in der Welt an sich gehört und die ohne die von außen aufgedrängte Zensur ausgeübt werden kann; denn hier können sie die Welt (auch) „beurteilen“, anstatt beurteilt zu werden. Die Dinge werden ohne Bezeichnungen erlebt. Zeit und Raum fügen sich nicht mehr den Regeln von Objektivität und Normativität. Subjekte werden in den Lücken, die ein System geschaffen hat, sozusagen anarchisch. Unter diesem Begriff „anarchisch“ verstehen wir die Idee, dass dem Subjekt kein archaisches Prinzip (arche) auferlegt wird. Es wird also nicht von irgendwelchen fundamentaler Voraussetzung determiniert. Die Kunst erspürt diese Lücken und will sie füllen, da die ästhetische Betrachtung eines Kunstwerks auch aus dem Abstand her entsteht; nur zum Selbstzweck oder zum ästhetischen Vergnügen daran, anarchisch zu sein. Es überrascht daher nicht, dass es Subjekten Vergnügen bereitet, künstlerisch tätig zu sein: Es gibt ihnen Flügel zum Fliegen. Wir können nun sehen, dass die Kunst uns etwas Wesentliches bietet, das dem Menschen jedoch von Anfang an verwehrt wird: Freiheit. Wenn wir Kunst betrachten, entkommen wir der Entfremdung und ordnen stattdessen die Welt nach unseren eigenen Vorstellungen zu und tragen kreativ dazu bei, ihre unendliche Unbestimmtheit zu artkulieren. Wir entgehen den unbarmherzigen Entfremdungen des In-der-Welt-seins.

Ist der Alltag entfremdend, dann ist seine Kehrseite die Transzendenz, also das Nichtfigurierbare, das rein Virtuelle. Dieses wird uns durch die Leistung des Abstands gegeben. In der TranszendenzFootnote 142 besteht die Möglichkeit dieser Entfremdung durch die Freiheit zu entkommen. Denn die Freiheit, von der wir gesprochen haben, scheint in der Transzendenz verhüllt zu sein. Die Teilnahme an Kunstwerken bietet also die Möglichkeit sich der von Raum und Zeit befreienden Transzendenz – wir haben gerade darauf aufmerksam gemacht, dass dieseFootnote 143 Transzendenz im Sinne Richir zu verstehen ist, denn sie ist absolut und geht über alles uns im Diesseits Vorstellbare hinaus, sie ist virtuell – zu nähern, auch wenn diese Teilnahme immer nur in einem Abstand bestehen kann. Befreiend ist die Transzendenz, wenn man an das von Kant überlieferte Beispiel des dynamischen Erhabenen denkt, wo das Erhabene erlebt wird, ohne dass es Schrecken verursacht: „Man kann aber einen Gegenstand als furchtbar betrachten, ohne sich vor ihm zur fürchten, wenn wir ihn nämlich so beurteilen.“Footnote 144 Der Tugendhafte kann diesbezüglich Gott fürchten. Aber er wird sich nicht vor ihm fürchten. Der Grund ist einfach: Wenn man sich fürchtet, so Kant, dann kann man kein Urteil das Erhabene treffen. Das bedeutet für uns nichts anderes als die Vorstellung, dass die Transzendenz ein Horizont der Freiheit ist. Freiheit ist hier wieder nicht symbolisch, sondern phänomenologisch (man kann auch von einer innerlichen Freiheit als einer Haltung sprechen) zu verstehen. Die Freiheit, welche uns die absolute Transzendenz bietet, ist daher virtuell. Nur die Überwindung oder die Relativierung der Körperlichkeit, wie sie in Raum und Zeit gegeben ist, kann uns der transzendierenden Welt der Sache eröffnen.

Mehr als die bloße Wahrnehmung eines Körpers ist die Fähigkeit, sich mit der „Sache“ selbst auf eine Weise zu verbinden, die den eigenen materiellen Körper neutralisiert, ein Teil dieser Freiheit. Die Bindung selbst ensteht aus dem Abstandsvermögen, das das Figuriebare und Infiguriebare in einem Übergangsbereich schweben lässt. Dabei verschwindet nicht nur das Objekt als Körper, sondern auch das Subjekt entschwindet als Körper in eine zeitlose Abwesenheit, in der der Fluss der Zeit sozusagen relativiert ist. Indem ich Van Goghs Schuh-Bild betrachte, trete ich in eine Welt ein, die nicht nur Künstlern und einigen Kunstexperten und Kritikern bekannt ist, sondern auch mir – hinc et nunc und mit ihrer wahren Abwesenheit – zur Verfügung steht. Das Vermögen, die Abwesenheit in der Anwesenheit, das Infigurierbare im Figurierbaren betrachten zu können, markiert die Leistung des Abstands, sodass ein Überschusss bei der leiblichen Betrachtung eines Kunstwerks evident ist.

Dadurch, dass Heidegger sich nur auf die metaphysischen und ontologischen Aspekte von Kunstwerken konzentriert, ist er nicht dazu in der Lage zu artikulieren, was das Subjekt, welches die Kunst betrachtet, mitbringt. Vielleicht sollte man nicht sagen, Heidegger wäre nicht dazu in der Lage, denn der Grund des Ausbleibens dieser Artikulation ist, dass Heidegger diesen Weg bewusst nicht gehen will. Er hat Nietzsches Idee des „Willens zur Macht“ in der Sache der Kunst als eine Metaphysik der Subjektivität verworfen und will einen anderen Weg gehen, der sich im Sein gründet. Deshalb hat er nicht artikuliert, wie die Kunst phänomenologisch erlebt wird. Die Konsequenz hieraus ist, dass die Wahrheit des Seins, die Welt dieses oder jenes bestimmten Kunstwerkes, immer offengelegt ist – und dies immer im voraus. Vorausgestzt ist also ein immer begleitendes Prinzip, das ich erforschen und erkennen soll, damit mir die alltägliche symbolische Welt bei einer Kunstbetrachtung eröffnet wird, die jedes Kunstwerk beinhaltet. Wenn Richir ein Mittel zur Verbesserung dieser Art der Betrachtung entwickelt hat, dann muss dies bedeuten, dass es die aktive Partizipation des Subjekts voraussetzt, wobei dieses Subjekt als ein phänomenologisches über das symbolische hinausgehend verstanden werden soll.

Und nur solch eine Partizipation, in der der Abstand zwischen Subjekt und Objekt sich in eine lückenhafte Einheit zwischen Figurierbarem und Nichtfigurierbarem verwandelt, kann Richirs Vorstellung einer aktiven, nicht spiegelnden Mimesis von innen gerecht werden. Lückenhafte Einheit, weil keine Einheit absolut ist, sonst erstickt sie die Reflexivität, und somit das Denken, die Erfahrung. Denn dort in der lückenhaften Einheit ist die Lebendigkeit der Mimesis, die Unmittelbarkeit der Mimesis von innen spürbar.

Seit unserem ersten Kapitel haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass bei Richir die Phantasia immer als Phantasia-Affektion zu versthen ist. Aber bisher haben wir dieses Begriffspaar der Weltbezüglichkeit (die Phantasia und die Affektivität) einigermaßen getrennt behandelt. Auch unsere Thematisierung der Affketivität geschah im Hinblick auf Kants Begriff des Erhabenen. In diesem Kapitel jedoch haben wir ganz am Ende gesehen, dass die Apperzeptionen der Phantasia auch immer die der Affektionen implizieren. Die beiden gehen Hand in Hand. Um es mit Sacha Carlson auszudrücken ist das, was die Poesie zu sagen anvisiert, nichts anderes als die Phantasia, die intrinsisch mit Affektionen aufgeladenFootnote 145 ist. Genauso wie dieser Satz faszienierende Einsichten in die Phänomenologie Richirs gewährt, haben wir oben versucht, anhand der unterschiedlichen Kunstgenres zu zeigen, dass die Phantasia immer Hand in Hand mit den Affektionen geht. Wir erinnern noch einmal an zwei Gesichtspunkte, die wir im Rahmen der Überlegungen zu der Kunst im Roman und in der Musik entwickelt haben:

  1. 1)

    Was wir aus einem späteren Teil von Du Rôle de la Phantasia au Théâtre et dans le Roman die „Leben der Romanfigur“ nennen, hat Richir als nichts anderes, als die „Bewegung der Seele“ verstanden, die er weiter mit ‚den Labyrinthen der Affektivität, wo die Affektionen aufs Engste mit der Phantasia und somit mit den „‚perzeptiven‘ Phantasiai verbunden werden“,Footnote 146 gleichsetzt.

  2. 2)

    Die mit Worten nicht auszudrückenden Affektionen, das heißt die flüchtigen, sich ständig verändernden und vielfachen Bewegungen der Seele (Gemütsbewegungen wie bei Kant), die der Phantasia innewohnen, müssen vom Leib des Komponisten mobilisiert werden, um das herrschende System der Gegenwart zu zerschlagen und sie so davor zu bewahren, sich in der Wahrnehmung oder der Imagination festzulegen.

Anhand dieser zwei Beispiele wird klar, dass die Affektionen der Phantasia innewohnen – sie sind nicht voneinander zu trennen. Wenn ich also Musik höre, so will sie mir etwas sagen. Was sie zu sagen hat, wird durch die Phantasia erlebt, die mit der Flüchtigkeit der Gemütsbewegung (Kant) und deren Affektionen verbunden ist.

Ein weiteres Element zum Verständnis des Zusammenhanges von Phantasia und Affektionen in der Phamtasia-Affektion muss noch entwickelt werden: Wir wissen bereits, dass die Konsequenzen der Überarbeitung des Husserl’schen Phantasiebegriffs bei Richir auch für die Affektivität gelten soll. Trotz der Festellung der Zusammengehörigkeit der Phantasia und der Affektivität (Affektionen) haben wir aber noch nicht die richtigen Konsequenzen der Überarbeitung der Husserl’schen Konzeption von Phantasie für die Affektivität gezogen. Deshalb fragen wir: Wie kann die Affektivität nicht länger als intentionale Erfassung von Ereignissen der Welt im Sinne einer Noesis verstanden werden, die auf ein affektivies Noema gerichtet ist? Wie könnten die nichtintentionalen Charaktere der Affektivität – ihre Flüchtigkeit, die unfassbare Fluidität des Leibes, der Überschuss des Leibes, die extreme Mobilität der Gefühle etwa, die gar nicht der Gattung der Intentionalität eines Objekts der Welt angehören – genauso wie die Phantasia thematisiert werden? Wenn die Phantasia als nicht intentional fungiert, sondern durch eine architektonische Transposition in die Imagination umgesetzt werden kann, so muss man auch von der Nichtintenionalität der Affektivität und deren Umsetzung in (…) sprechen können. Bisher haben wir dies noch nicht getan. Das heißt, wir haben das Verhältnis der Affektivität noch nicht richtig thematisiert; eine Thematisierung, die die Affektionen genauso wie die Phantasia als eine leibliche Bezüglichkeit zur Welt behandelt, die aber durch eine architektonische Umsetzung auf ein intentionales Objekt der Welt gerichtet werden kann.

Wir sehen, dass der Affektivität auch bei Richir unterschiedliche phänomenologische Analysen zukommen. Wir werden uns daher im nächsten Kapitel mit Richirs Entwicklung der Phänomenologie der Affektivität befassen, welcher er eine leibliche, sinnhaftige Instanz der Welteröffnung zuschreibt. Diese Entwicklung Richirs wäre aber ohne Heideggers Lehre von Stimmung (und Befindlichkeit) in Sein und Zeit nicht möglich gewesen.